&&am &&lg=0 &&rl=0 &&rr=0 &&ll=0 &&___A4A5A6_Z0___halb16zu9_Z16___T3A7_Z-1___SVGHTML_Z0 &&lg=x Emile Zola &&lg=0 &&fa {{Das Kunstwerk}} &&fe &&lg=x Die {{Rougon-Macquart}}, Band {{XIV}} Die Geschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich   1924 Benjamin Harz Verlag. Berlin – Wien   Vollständige Übersetzung von Armin Schwarz Satz und Druck von G. Kreysing in Leipzig &&sw02 &&sglogo &&ak=1 &&wt0 {{Inhalt}} &&gv &&x &&nsr &&am &&g="Erstes_Kapitel." &&fa Erstes Kapitel. &&fe &&ax &&lg=x &&fz1 &&fzs=1 Die Uhr des Rathauses, an dem Claude eben vorüberkam, schlug die zweite Morgenstunde, als das Gewitter losbrach. Er hatte sich in der heißen Julinacht lange in den Hallen herumgetrieben als Künstler und Bummler, der das Pariser Nachtleben so gern beobachtete. Plötzlich fielen die Regentropfen schwer und dicht, daß er zu laufen begann und wie toll das {{Gréve}}-Ufer entlangrannte. Doch bei der Louis-Philipp-Brücke blieb er stehen, ergrimmt über seinen atemlosen Lauf; diese Furcht vor dem Wasser schien ihm albern. In der dichten Finsternis, gepeitscht von dem Wolkenbruch, der die Gaslaternen in einen Schleier hüllte, ging er langsam mit schlenkernden Armen über die Brücke. Übrigens hatte Claude nur mehr einige Schritte zu machen. Als er am Bourbonufer in die Sankt-Ludwig-Insel einbog, beleuchtete ein greller Blitz die gerade und flache Zeile alter Häuser an der {{Seine}} am Rande der schmalen Straße. Der Blitz warf seinen fahlen Schein auf die Scheiben der hohen, nicht durch Läden geschützten Fenster und beleuchtete die vornehme Düsterheit der alten Vorderseiten mit ihren sehr scharf sich abhebenden Einzelheiten: einen steinernen Erker, ein Terrassengeländer, das in Stein gemeißelte Gewinde eines Giebels. Hier hatte der Maler sein Atelier unter dem Dache des alten Palastes der Martoy an der Ecke der Kopflosen Frauengasse. Das Ufer, das er einen Augenblick gesehen, war wieder in Finsternis versunken, und ein furchtbarer Donnerschlag hatte das ganze schlafende Stadtviertel erschüttert. Vor seiner Haustür – einer alten, runden, niedrigen, eisenbeschlagenen Pforte – suchte der durch den Regen geblendete Claude tastend den Knopf der Klingel; er fuhr überrascht zusammen, als seine Hand auf einen lebenden Körper stieß, der in einem Winkel an das Holz der Tür lehnte. Bei dem jähen Aufleuchten eines zweiten Blitzes gewahrte er ein großes, junges Mädchen, schwarz gekleidet, ganz durchnäßt, zitternd vor Angst. Als der Donnerschlag alle beide durchrüttelt hatte, rief er: »Ei, ist das eine Überraschung! ... Wer sind Sie[[1]], und was wollen Sie[[1]]?« Er sah sie nicht; er hörte sie bloß schluchzen und stammeln: »Ach, mein Herr, tun Sie[[1]] mir nichts zuleide. Der Kutscher, den ich auf dem Bahnhofe genommen, hat mich ohne weiteres vor diese Tür abgesetzt und verlassen ... Unser Zug ist bei Nevers entgleist, wir hatten vier Stunden Verspätung: ich habe die Person nicht mehr gefunden, die mich erwarten sollte ... Mein Gott, ich bin zum erstenmal in Paris und weiß gar nicht, wo ich bin ...« Ein blendender Blitz schnitt ihr das Wort ab; ihre weitgeöffneten Augen überblickten mit Schrecken diesen Winkel einer ihr unbekannten Stadt, gleichsam die in einem fahlen, bläulich-roten Lichte jählings auftauchende Erscheinung eines phantastischen Ortes. Der Regen hatte aufgehört. Jenseits der {{Seine}} lag das Ormesufer mit seiner langen Reihe kleiner, grauer Häuser, mit dem bunten Farbengemisch der Ladentüren unten und den scharf sich abzeichnenden Dächern von ungleicher Höhe oben, während der Horizont weiter und heller wurde links bis zu dem blauen Schieferdach des Rathauses, rechts bis zur bleigedeckten Kuppel der Sankt-Paulus-Kirche. Besonders erschreckte sie das Flußbett, der tiefe Graben, in dem die {{Seine}} schwärzlich dahinfloß von den massigen Pfeilern der Marienbrücke bis zu den leichtgeschwungenen Bogen der neuen Louis-Philipp-Brücke. Seltsam geformte Massen bedeckten das Wasser, eine schlummernde Flotille von Kähnen und Jollen, ein schwimmendes Waschhaus und ein Baggerschiff, die am Ufer verankert waren; weiterhin am andern Ufer mit Kohlen und Mühlsteinen beladene Kähne, überragt von dem Riesenarm eines gußeisernen Krahns. Alldas versank sogleich wieder in Finsternis. »Irgendeine leichte Haut,« dachte sich Claude; »eine Dirne, die man auf die Straße geworfen, und die nun einen Mann sucht.« Er mißtraute den Weibern. Die Geschichte von dem entgleisten, verspäteten Zuge und dem rohen Kutscher schien ihm eine lächerliche Erfindung. Bei dem Donnerschlag hatte das Mädchen sich entsetzt wieder in den Torwinkel gedrückt. »Sie[[1]] können aber doch nicht da übernachten«, hub er jetzt laut wieder an. Sie[[1]] weinte noch stärker und stammelte: »Ach, mein Herr, ich bitte Sie[[1]], führen Sie[[1]] mich nach Passy ... Ich will nach Passy.« Er zuckte die Achseln; hielt sie ihn für einen Tölpel? Mechanisch hatte er sich nach dem {{Célestin¬ufer}} umgewandt, wo ein Droschkenstandplatz war. Nicht eine Laterne schimmerte. »Nach Passy wollen Sie[[1]], meine[[Besitz]] Liebe ... Warum nicht gleich nach Versailles? Wo, beim Teufel, soll man zu dieser Stunde und bei solchem Wetter einen Wagen finden?« Doch von einem neuen Blitz geblendet, schrie sie hell auf; diesmal hatte sie die düstere Stadt in einem Blutmeer zu sehen geglaubt. Ein ungeheures Loch hatte sich aufgetan, die beiden Enden des Flusses verloren sich in unendlicher Ferne inmitten einer roten Feuersglut. Die geringsten Einzelheiten wurden sichtbar; man unterschied die schmalen geschlossenen Fensterläden am Ulmenufer, die beiden Einschnitte der Mauerstraße und der Pfauenstraße, welche die Häuserzeile unterbrachen; bei der Marienbrücke hätte man die Blätter der großen Platane zählen können, die hier ein Dickicht von herrlichem Grün bilden; während auf der anderen Seite unter der Louis-Philipp-Brücke die in vier Reihen verankerten Kähne mit ihrer schweren Last von gelben Äpfeln in dem jähen Blitzesleuchten aufzulodern schienen. Man sah auch den Wirbel des Wassers, den hohen Schlot des schwimmenden Waschhauses, die unbewegliche Kette des Baggers, mehrere Sandhaufen auf dem gegenüberliegenden Landungsplatze, ein seltsames Wirrsal von Dingen, eine ganze Welt, die den riesigen Fluß erfüllte, diesen von einem Horizonte zum andern sich hinziehenden Graben. Der Himmel erlosch; unter dem Tosen des Donners schien die Flut nur Finsternis fortzuwälzen. »Ach, mein Gott, ich bin verloren! ... Ach, mein Gott, was soll aus mir werden?« &&x Jetzt setzte der Regen wieder ein, so heftig und von einem solchen Winde gepeitscht, daß er mit der Gewalt einer geöffneten Schleuse am Ufer dahinfegte. »Lassen Sie[[1]] mich eintreten,« sagte Claude; »es ist nicht mehr auszuhalten.« Beide waren naß geworden. Bei dem matten Schein der Laterne, die an der nächsten Straßenecke in die Mauer eingelassen war, konnte er sehen, wie das Mädchen durch den an die Haustür prasselnden Regen bis auf die Haut durchnäßt war, daß ihr das Kleid am Leibe klebte. Er ward von Mitleid ergriffen: er hatte ja an einem ähnlichen Gewitterabend einen verlaufenen Hund vom Straßenpflaster aufgelesen. Aber er ärgerte sich wegen seiner Rührung; niemals führte er Mädchen in sein Heim; als ein Mensch, der die Frauenzimmer nicht kannte, behandelte er sie alle mit einer leidenden Schüchternheit, die er unter einer prahlerischen Roheit zu verbergen suchte. Sie[[1]] hielt ihn wirklich für gar zu dumm, daß sie sich so an ihn hängte und ihm diese abenteuerliche Geschichte aufzuhalsen suchte, die aus einer Posse geholt zu sein schien. »Nun ist's genug, kommen Sie[[1]] mit hinauf«, sagte er schließlich ... »Sie[[1]] übernachten bei mir.« Sie[[1]] erschrak noch mehr und wehrte sich. »Bei Ihnen? Oh, mein Gott! Nein, nein, das ist unmöglich! ... Ich bitte Sie[[1]], mein Herr, führen Sie[[1]] mich nach Passy; ich flehe Sie[[1]] mit gefalteten Händen an.« Da ward er aufgebracht. Wozu diese Umstände! Er hatte sie doch auf der Straße aufgelesen! Schon zweimal hatte er die Glocke gezogen; endlich ward geöffnet, und er schob die Unbekannte hinein. »Nein, nein, mein Herr, ich sage nein ...« Doch abermals ward sie durch einen Blitz geblendet, und als der Donner krachte, flüchtete sie mit einem Satze, ihrer Sinne nicht mächtig, in das Haus. Die schwere Pforte fiel wieder ins Schloß; sie stand in vollständiger Finsternis unter einer geräumigen Torwölbung. »Ich bin's, Frau Joseph«, rief Claude der Pförtnerin zu. Zu dem Mädchen gewendet, setzte er leise hinzu: »Geben Sie[[1]] mir die Hand, wir müssen den Hof durchschreiten.« Verwirrt und willenlos wie sie war, reichte sie ihm die Hand, ohne länger Widerstand zu leisten. Seite an Seite rannten sie im strömenden Regen durch den Hof. Es war der geräumige Hof eines Herrenhauses mit steinernen Bogengängen, die sich im nächtlichen Dunkel verloren. Sie[[1]] erreichten einen schmalen, offenen Flur; er ließ ihre Hand los, und sie hörte, wie er fluchend Zündhölzchen an eine Wand rieb. Alle waren naß geworden; man mußte tastend die Treppen erklettern. »Fassen Sie[[1]] das Geländer an und geben sie acht; die Stufen sind hoch.« Die sehr enge Stiege – eine ehemalige Bedientenstiege – hatte drei sehr hohe Stockwerke, welche das Mädchen strauchelnd mit ungelenken, müden Beinen erklomm. Dann sagte er ihr, daß sie einen langen Korridor zu durchschreiten hätten; sie folgte ihm, mit beiden Händen an der Mauer entlang tastend, durch den schier endlosen Gang, der nach der Vorderseite des Hauses zurückführte. Jetzt galt es, abermals eine Stiege zu erklettern; aber diese führte nach dem Dachboden. Es war eine rampenlose, hölzerne Stiege mit knarrenden, wackeligen, steilen Stufen, den plump gefügten Brettern einer Mühlenleiter gleich. Der Treppenabsatz oben war so schmal, daß sie an den jungen Mann stieß, der eben seinen Schlüssel suchte. Endlich öffnete er. »Treten Sie[[1]] nicht ein, warten Sie[[1]]; sonst würden Sie[[1]] wieder anstoßen.« Sie[[1]] rührte sich nicht. Keuchend stand sie da mit hoch klopfendem Herzen, summenden Ohren, durch diesen Aufstieg in der Finsternis völlig erschöpft. Ihr war, als habe dieser Aufstieg stundenlang gewährt durch ein solches Wirrsal von Stockwerken, Gängen und Treppen, daß sie nimmer wieder hinunter finden werde. Sie[[1]] vernahm aus dem Atelier das Geräusch von schweren Tritten, von herumtastenden Händen, von zu Boden fallenden Sachen, begleitet von einem dumpfen Ausruf. Jetzt erhellte sich die Tür. »Treten Sie[[1]] ein; wir sind zu Hause.« Sie[[1]] trat ein und schaute, ohne zu sehen. Die einzige Kerze gab nur ein schwaches Licht in diesem Bodenraum von fünf Metern Höhe; es war mit allerlei Gegenständen angefüllt, deren große Schatten sich von den grau getünchten Mauern abhoben. Sie[[1]] erkannte nichts; sie erhob die Augen zu dem mit Glasscheiben versehenen Dachfenster, auf das der Regen mit einem betäubenden Getöse niederfiel. Doch eben in diesem Augenblicke flammte am Himmel wieder ein Blitz auf, und der Donnerschlag folgte so knapp darauf, daß das Dach des Hauses entzweizugehen schien. Stumm und bleich sank das Mädchen auf einen Sessel. »Das muß in der Nähe eingeschlagen haben«, murmelte Claude, der ebenfalls ein wenig blaß war. »Es war Zeit, daß wir heraufkamen; man ist hier besser aufgehoben als auf der Straße unten; nicht wahr?« Er ging zur Tür und schloß sie geräuschvoll, während sie mit verblüffter Miene seinem Tun folgte. »So; wir sind zu Hause«, sagte er. &&x Das Ungewitter war übrigens vorüber; man vernahm nur noch vereinzelte, ferne Donnerschläge, und auch der Regen hörte bald auf. Claude ward jetzt verlegen und betrachtete das Mädchen von der Seite. Sie[[1]] schien nicht unschön und war jedenfalls jung, höchstens zwanzig Jahre alt. Das machte ihn vollends mißtrauisch, wenngleich er sich eines Zweifels nicht erwehren konnte, einer unbestimmten Empfindung, daß sie vielleicht doch nicht ganz gelogen habe. In jedem Falle nützte ihr die Schlauheit wenig, und sie täuschte sich, wenn sie ihn schon festzuhalten glaubte. Er übertrieb noch seine mürrische Haltung und sagte mit rauher Stimme: »Gehen wir schlafen; dabei werden wir trocken.« Ein Angstgefühl nötigte sie aufzustehen. Jetzt betrachtete auch sie ihn, ohne ihm ins Gesicht zu schauen; dieser magere Bursche mit den knochigen Gelenken und dem starken, bärtigen Kopfe verdoppelte ihre Angst; er war wie eine Figur aus einer Räubergeschichte mit seinem Hut von schwarzem Filz und seinem alten, kastanienfarbenen Überrock, der vom Regen ganz verwaschen ins Grüne spielte. »Ich danke; ich fühle mich hier wohl und werde angekleidet schlafen«, murmelte sie. »Wie, angekleidet? In diesen wassertriefenden Kleidern? Machen Sie[[1]] doch keine Dummheiten! Entkleiden Sie[[1]] sich sofort!« Er schob mehrere Sessel zur Seite, um eine halb durchlöcherte spanische Wand freizumachen. Hinter dieser spanischen Wand bemerkte sie einen Toilettetisch und ein kleines eisernes Bett, von dem er jetzt die Decke wegnahm. »Nein, nein, bemühen Sie[[1]] sich nicht; ich versichere Ihnen, daß ich hier bleibe.« Da ward er wieder grimmig, fuchtelte mit den Händen und schlug mit den Fäusten auf die Möbel. »Lassen Sie[[1]] mich doch schließlich in Frieden!« rief er. »Ich überlasse Ihnen mein Bett, was wollen Sie[[1]] mehr? Spielen Sie[[1]] doch nicht die Schüchterne, das ist unnütz. Ich schlafe auf dem Sofa.« Er hatte sich ihr mit einer drohenden Miene wieder genähert. Erschrocken und in der Meinung, daß er sie schlagen wolle, begann sie ihren Hut abzulegen. Von ihren Röcken rieselte das Wasser auf den Boden. Er brummte weiter, aber ein Bedenken überkam ihn, und er sagte schließlich, gleichsam um ein Zugeständnis zu machen: »Wenn Sie[[1]] einen Widerwillen haben, will ich die Betttücher wechseln.« Schon riß er die Bettücher weg und schleuderte sie auf das Sofa, das am andern Ende des Ateliers stand. Dann holte er aus einem Schrank ein paar neue und machte selbst das Bett mit der Behendigkeit eines jungen Menschen, der mit diesen Verrichtungen vertraut ist. Mit sorgfältiger Hand schob er an der Mauerseite die Decke in das Bett, legte das Kopfkissen zurecht und schlug die Betttücher zurück. »So, Ihr Lager ist bereit«, sagte er. Weil sie noch immer stumm und unbeweglich dasaß und an dem Leibchen herumtastete, das sie nicht aufzuknöpfen wagte, schloß er sie hinter der spanischen Wand ein. Mein Gott, wie verschämt! Scheltend und brummend ging auch er schlafen; er warf die Bettücher auf das Sofa hin, hängte seine Kleider an eine alte Staffelei und streckte sich auf dem Rücken aus. Doch in dem Augenblicke, als er das Licht ausblasen wollte, fiel ihm ein, daß sie nicht genügend sehe, und wartete. Zuerst vernahm er keine Bewegung; ohne Zweifel stand sie noch an derselben Stelle, an das eiserne Bett gelehnt. Dann hörte er ein leises Geräusch von Stoffen, langsame, gedämpfte Bewegungen, als habe sie zehnmal wieder angefangen, auch ihrerseits horchend, beunruhigt durch das Licht, das nicht verlöschen wollte. Endlich hörte er nach langen Minuten ein leises Knirschen des Bettes, dann trat Stille ein. »Liegen Sie[[1]] bequem, Fräulein?« fragte Claude mit viel sanfterer Stimme. Sie[[1]] antwortete mit einem kaum vernehmlichen Hauche, noch zitternd vor Aufregung. »Ja, mein Herr, es ist ganz gut so.« »Gute Nacht denn!« »Gute Nacht!« Er blies die Kerze aus, der Raum verfiel wieder in tiefe Stille. Trotz seiner Müdigkeit öffnete er sogleich wieder die Augen; er fand keinen Schlaf und blickte nach dem breiten Fenster. Der Himmel war wieder sehr klar geworden; er sah in der heißen Julinacht die Sterne funkeln; trotz des Gewitters war die Hitze so groß geblieben, daß er schier zu vergehen glaubte, obgleich er die nackten Arme unter dem Bettlaken hervorgezogen hatte. Dieses Mädchen beschäftigte ihn; ein innerer Kampf wogte in ihm: die Mißachtung, die er so gern zur Schau trug, die Furcht, Schwierigkeiten zu haben, wenn er nachgebe, die Besorgnis, lächerlich zu erscheinen, wenn er die Gelegenheit nicht ausnütze. Doch die Mißachtung trug den Sieg davon; er hielt sich für sehr stark; er ersann einen ganzen Roman, der ihn um seine Ruhe bringen sollte, und lachte stillvergnügt, weil er die Versuchung zunichte gemacht. Die Hitze ward ihm unerträglich, und er zog auch die Beine hervor. Mit schwerem Kopfe verfolgte er im Halbschlummer am tiefblauen Grunde der blinkenden Sternlein verliebte, nackte Frauengestalten, das ganze lebendige Fleisch des Weibes, das er anbetete. Dann verwirrten sich seine Gedanken noch mehr. Was machte sie? Lange hatte er geglaubt, sie sei eingeschlafen, denn er hörte sie nicht einmal atmen; jetzt aber hörte er sie sich umdrehen, – gleich ihm – mit unendlicher Vorsicht, mit zurückgehaltenem Atem. Wenig praktisch hinsichtlich der Frauen suchte er Vernunft in die Geschichte zu bringen, die sie ihm erzählt hatte, betroffen und verwirrt durch gewisse Einzelheiten; allein seine ganze Logik ließ ihn im Stiche. Was frommte es auch, sich unnützerweise den Kopf zu zerbrechen? Er wollte von ihr nichts, also war es ihm auch gleichgültig, ob sie die Wahrheit gesprochen oder gelogen habe. Morgen werde sie ihrer Wege gehen; guten Tag, gute Nacht; aus und vorüber; man werde sich trennen auf Nimmerwiedersehen. Erst bei Tagesanbruch, als die Sterne am Himmel erblaßten, fand er seinen Schlaf. Sie[[1]] wälzte sich hinter ihrer spanischen Wand noch immer herum trotz der erdrückenden Müdigkeit; die schwüle Luft unter dem durchhitzten Zinkdache war ihr eine schwere Marter; sie tat sich jetzt weniger Zwang an, machte eine plötzliche Bewegung voll nervöser Ungeduld und stieß einen Seufzer aus, den Seufzer einer Jungfrau, die sich erregt und unbehaglich fühlte in der Nähe dieses schlafenden Mannes. &&x Als Claude am andern Morgen erwachte, blinzelte er mit den Augen. Es war sehr spät, und ein breites Feld von Sonnenlicht fiel durch das Glasfenster herein. Es gehörte zu seinen Ansichten, daß die jungen Freilichtmaler die Ateliers mieten müßten, die von den akademischen Malern verschmäht werden, die Kunstwerkstätten, welche die Sonne mit der lebendigen Flamme ihrer Strahlen aufsucht. Doch ein erstes Erstaunen zwang ihn sich aufzusetzen, wobei er die nackten Beine vom Sofa herabhängen ließ. Warum hatte er auf diesem Sofa geschlafen? Er blickte mit den noch schlaftrunkenen Augen in dem Raume herum und bemerkte ein Bündel Frauenröcke, hinter der spanischen Wand halb verborgen. Ach ja, dieses Mädchen! Er erinnerte sich jetzt. Er horchte und hörte die langen, regelmäßigen Atemzüge eines behaglich schlafenden Kindes. Gut; sie schlief noch immer und so ruhig, daß es schade wäre, sie zu wecken. Mit wüstem Kopfe saß er da und kratzte sich die Beine, verdrossen wegen dieses Abenteuers, das ihn um seine Vormittagsarbeit zu bringen drohte. Ihn ärgerte seine Mildherzigkeit; das beste wäre, sie abzuschütteln, damit sie sogleich ihrer Wege gehe. Indes streifte er sachte ein Beinkleid über, schlüpfte in seine Pantoffeln und begann auf den Fußspitzen im Atelier herumzugehen. Als die Wanduhr die neunte Morgenstunde schlug, machte Claude eine unruhige Bewegung. Aber es rührte sich nichts; das ruhige Atemholen dauerte fort. Da dachte er, es sei das beste, wenn er an sein großes Gemälde gehe; er werde sein Frühstück später zu sich nehmen, wenn er sich freier bewegen könne. Doch er kam zu keinem Entschlusse. Er, der hier in einem abscheulichen Durcheinander zu leben gewohnt war, fühlte sich beengt durch die Frauenröcke, die in einem Bündel zu Boden geglitten waren. Von ihnen war Wasser abgeflossen, und die Kleider waren noch immer feucht. Ein Brummen unterdrückend, las er sie schließlich einzeln vom Boden auf und breitete sie im Sonnenschein auf Sesseln zum Trocknen aus. Wie konnte man nur so alles durcheinander hinwerfen! So werde es niemals trocknen und sie nicht fortgehen können! Er drehte diese Frauengewänder hin und her, verwickelte sich in dem Leibchen von schwarzem Wollstoff, kroch auf allen Vieren herum, um die Strümpfe zusammenzusuchen, die hinter einer alten Leinwand am Boden lagen. Es waren Strümpfe von aschgrauem schottischem Garn, lang und fein; er betrachtete sie, bevor er sie aufhob. Der Saum des Kleides hatte sie durchnäßt; er zog sie straff, suchte sie in seinen warmen Händen zu trocknen, um das Frauenzimmer sobald wie möglich loszuwerden. Schon seitdem er aufgestanden, war Claude von der Neugier versucht, die spanische Wand zu entfernen und zu schauen. Diese Neugier, die er töricht fand, erhöhte noch seine üble Laune. Endlich ergriff er mit dem ihm eigentümlichen Achselzucken seine Pinsel; da ward ein Stammeln von unzusammenhängenden Worten und ein lautes Rauschen von Linnen hörbar. Dann begann das sanfte Atemholen wieder; diesmal gab er der Neugierde nach, legte die Pinsel hin und schaute über die spanische Wand. Doch was er erblickte, bannte ihn auf dem Flecke fest. »Alle Wetter! Alle Wetter!« murmelte er in stillem Entzücken. In der Treibhaushitze, die durch die Fensterscheiben hereindrang, hatte das Mädchen das Bettlaken zurückgeworfen; nach den schlaflos verbrachten Nächten von der Ermattung niedergedrückt schlief sie, in Licht gebadet, so bewußtlos, daß nicht das leiseste Zittern über ihre reine Blöße flog. Während der Aufregung und Schlaflosigkeit der ersten Stunden mußten die Achselknöpfe ihres Hemdes sich gelöst haben; der ganze linke Ärmel war herabgeglitten, so daß die Brust entblößt war. Es war ein goldangehauchtes Fleisch von der Feinheit der Seide, der Frühling des Fleisches, zwei feste, kleine Brüste, strotzend von Saft, mit zwei blassen Rosenknospen. Sie[[1]] hatte den rechten Arm unter den Nacken gelegt, das schlafende Haupt fiel zurück, die Brust bot sich in einer reizend-lässigen Linie den Blicken dar; während ihre aufgelösten schwarzen Haare ihr gleichsam ein dunkler Mantel waren. »Alle Wetter! ist sie aber sehr hübsch!« Es war die Gestalt, vollkommen die Gestalt, die er bisher vergebens für sein Gemälde gesucht hatte; und sie hatte fast die gewünschte Pose. Etwas kindlich-schmächtig, aber so geschmeidig und jugendlich frisch! Dabei ein schon reifer Busen. Wo hatte sie ihn gestern verborgen, diesen Busen, daß er ihn nicht erraten hatte? Ein wahrer Glücksfund! Claude eilte auf den Fußspitzen zu seiner Pastellbüchse und holte daraus ein Blatt Papier. Dann nahm er auf einem niedrigen Sessel Platz, legte einen Karton auf seine Knie und begann mit glückseliger Miene zu zeichnen. Seine ganze Verwirrung, seine fleischliche Neugier, sein unterdrücktes Verlangen: sie gingen in diesem Entzücken des Künstlers auf, in dieser Begeisterung für die schönen Töne und die wohlgebildeten Glieder. Schon hatte er das Mädchen vergessen; er war voll Entzücken über diesen schneeigen Busen, der dem zarten Ambraton der Schultern seinen hellen Schimmer lieh. Eine ängstliche Bescheidenheit machte ihn klein angesichts der Natur; er zog die Ellbogen ein und ward wieder ein kleiner Junge, sehr artig, aufmerksam und respektvoll. Das dauerte nahezu eine Viertelstunde; zuweilen hielt er inne und blinzelte mit den Augen. Doch er fürchtete, daß sie sich bewegen könne, und machte sich rasch wieder an die Arbeit, den Atem zurückhaltend, um sie nicht zu erwecken. &&x Doch während er der Arbeit oblag, durchschwirrten allerlei unklare Gedanken seinen Kopf. Wer mochte sie sein? Sicherlich keine Landstreicherin, wie er gedacht hatte; dazu war sie zu frisch. Aber warum hatte sie ihm eine so wenig glaubwürdige Geschichte aufgetischt? Er bildete sich noch andere Geschichten ein: ein unerfahrenes junges Mädchen, das mit dem ersten Liebhaber nach Paris geflohen und von ihm hier verlassen war; eine junge Person aus dem Bürgerstande, die von einer Freundin dem Laster zugeführt war und jetzt nicht zu den Eltern zurückzukehren wagte; oder ein noch verwickelteres Drama, ganz außerordentliche Ausschweifungen von jungen Mädchen, furchtbare Sachen, die er nie erfahren werde. Diese Vermutungen vermehrten noch seine Ungewißheit. Er ging jetzt daran, eine Skizze des Gesichtes anzufertigen und studierte sorgfältig die Schläferin. Der obere Teil des Gesichtes drückte große Güte und Sanftmut aus; die Stirn war von einer fast durchsichtigen Klarheit und spiegelglatt, die Nase klein mit feinen, nervösen Flügeln; man erriet ordentlich das Lächeln der Augen unter den Augenlidern, ein Lächeln, welches das ganze Gesicht erhellen mußte; der untere Teil des Gesichtes jedoch verdarb diesen Eindruck strahlender Zartheit; die Kinnlade sprang hervor, die Lippen waren zu dick und zu rot und ließen starke, weiße Zähne sehen. In diesen verschwimmenden Zügen einer kindlichen Zartheit lag gleichsam ein Zug von Leidenschaft, von unbewußt drängender Reife. Plötzlich flog ein Zittern – gleich einem Kräuseln – über den Samt ihrer Haut. Vielleicht hatte sie endlich diesen forschenden Mannesblick gefühlt. Sie[[1]] öffnete die Augen weit und stieß einen Schrei aus. »Ach, mein Gott!« Sie[[1]] war starr vor Entsetzen, als sie diesen ihr unbekannten Ort erblickte und den jungen Mann in Hemdärmeln, der vor ihr hockte und sie schier mit den Augen verzehrte. Dann zog sie in wilder Hast[[beeilen]] die Decke herauf und preßte sie mit beiden Händen auf ihre Brust; ihr Blut ward von einer so schamhaften Beklemmung gepeitscht, daß die flammende Röte ihrer Wangen sich in rosiger Flut bis in die Spitze ihres Busens ergoß. »Nun, was ist?« rief Claude verdrossen, mit dem Stift in der Luft. »Was ficht Sie[[1]] an?« Sie[[1]] sprach nicht mehr, sie bewegte sich nicht mehr; die Decke bis an den Hals hinaufgezogen, drückte sie sich fest ins Bett, kaum eine Erhöhung auf dem Lager bildend. »Ich fresse Sie[[1]] nicht ... Seien Sie[[1]] doch artig und nehmen Sie[[1]] die frühere Lage wieder an.« Ein neuer Blutstrom ergoß sich bis an ihre Ohren. »O nein, o nein!« stammelte sie endlich. Doch er wurde allmählich wütend und geriet in eine jener Zornesaufwallungen, die bei ihm häufig waren. Dieser Eigensinn schien ihm blöd. »Was kann es Ihnen schaden?« fuhr er fort. »Welch' großes Unglück, wenn ich weiß, wie Sie[[1]] beschaffen sind! Ich habe schon andere gesehen.« Da brach sie in ein Schluchzen aus, und seine Wut stieg immer höher. Verzweifelt saß er da, außer sich gebracht durch den Gedanken, daß er seine Zeichnung nicht vollenden, daß die falsche Scham dieses Mädchens ihn hindern werde, eine gute Studie für sein Gemälde zu haben. »Sie[[1]] wollen nicht? Aber das ist dumm! Für wen halten Sie[[1]] mich denn? Habe ich Sie[[1]] auch nur berührt? Hätte ich an Dummheiten gedacht, so hätte ich in der Nacht wohl gute Gelegenheit gehabt ... Aber ich kümmere mich wenig um solche Dinge, meine[[Besitz]] Liebe! Sie[[1]] können mir getrost alles zeigen ... Hören Sie[[1]], es ist nicht sehr artig von Ihnen, mir diesen Dienst zu verweigern; denn schließlich habe ich Sie[[1]] doch von der Straße heraufgeholt, und Sie[[1]] haben in meinem Bette geschlafen.« Sie[[1]] weinte jetzt noch stärker und hielt den Kopf ganz in Kissen verborgen. »Ich versichere Ihnen, ich brauche diese Studie, sonst würde ich Sie[[1]] nicht länger quälen.« Die vielen Tränen überraschten ihn, und er schämte sich seiner Rauheit. Er schwieg verlegen und ließ ihr Zeit, sich ein wenig zu beruhigen. Dann begann er wieder mit sehr sanfter Stimme: »Gut, wenn es Sie[[1]] kränkt, reden wir nicht weiter davon ... Aber wenn Sie[[1]] wüßten! Ich habe da eine Figur auf meinem Bilde, die nicht vorwärts wollte, und Sie[[1]] waren so recht in der gesuchten Lage! Wenn es sich um dieses verdammte Bild handelt, könnte ich Vater und Mutter erwürgen ... Sie[[1]] werden mich daher entschuldigen, nicht wahr? ... Wenn Sie[[1]] liebenswürdig sein wollten, würden Sie[[1]] mir noch einige Minuten schenken. Nein, nein, bleiben Sie[[1]] ruhig; nicht den Rumpf, ich verlange nicht den Rumpf. Nur den Kopf; wenn ich wenigstens den Kopf beenden könnte! ... Ich bitte Sie[[1]], seien Sie[[1]] liebenswürdig; legen Sie[[1]] Ihren Arm wieder so, wie er war; ich will Ihnen mein Leben lang dankbar sein!« Jetzt flehte er und fuchtelte in Mitleid erweckender Weise mit seinem Bleistift herum in der Erregtheit seines mächtigen künstlerischen Verlangens. Übrigens hatte er sich nicht von der Stelle gerührt; er saß noch immer auf seinen niedrigen Sessel fern von ihr. Da faßte sie endlich Mut und enthüllte ihr ruhiger gewordenes Antlitz. Was konnte sie machen? Sie[[1]] war in seiner Gewalt, und er schien überdies so unglücklich! Aber noch zögerte sie in einer letzten Regung der Scham. Langsam, ohne ein Wort zu sagen, streckte sie ihren nackten Arm hervor und schob ihn von neuem unter ihren Kopf, während die andere, verborgen bleibende Hand sorgfältig die Decke um den Hals festhielt. »Wie gütig Sie[[1]] sind! Ich will mich sputen; Sie[[1]] werden sogleich frei sein.« Er hatte sich über seine Zeichnung gebeugt und warf ihr nur mehr seine hellen Malerblicke zu; das Weib war für ihn verschwunden, er sah nur noch das Modell. Zuerst war sie ganz rot geworden; die Empfindung ihres nackten Armes, dieses Wenigen ihrer selbst, das sie auf einem Ball ganz harmlos gezeigt hätte, erfüllte sie mit Verwirrung. Überdies schien ihr dieser junge Mann so vernünftig, daß sie sich beruhigte; ihre Wangen verloren die flammende Röte, ihr Mund die Spannung; ein schwaches Lächeln des Zutrauens kräuselte ihre Lippen. Jetzt beobachtete auch sie ihn zwischen den halbgeschlossenen Augenlidern. Wie sehr hatte er sie gestern erschreckt mit seinem starken Barte, seinem großen Kopfe, seinen zornigen Gebärden! Und doch war er nicht häßlich; sie entdeckte auf dem Grunde seiner braunen Augen eine große Zärtlichkeit, während seine Nase sie überraschte, eine zarte Frauennase, die sich in den starrenden Haaren des Schnurrbartes verlor. Ein unruhiges, nervöses Beben schüttelte ihn, eine fortwährende Leidenschaft, welche den Stift in seinen dünnen Fingern zu beleben schien und sie sehr rührte, ohne zu wissen warum. Das konnte kein schlechter Mensch sein; seine Rauheit war wohl nur die der Schüchternen. Sie[[1]] konnte sich all dies nicht so deutlich erklären, aber sie fühlte es und beruhigte sich, als sei sie bei einem Freunde. &&x Das Atelier – allerdings – erschreckte sie noch immer. Mit klugen Blicken betrachtete sie den Raum und war erstaunt über ein solches Maß von Unordnung und Vernachlässigung. Vor dem Ofen lag noch die Asche vom letzten Winter in einem Haufen. Außer dem Bett, dem kleinen Toilettentisch und dem Sofa waren keine anderen Möbel da als ein alter, aus den Fugen geratener Schrank von Eichenholz und ein großer Tisch von weichem Holze, bedeckt mit Pinseln, Farben, schmutzigen Tellern und einer Spirituskochmaschine, auf der noch eine Schüssel mit Nudelresten stand. Zwischen wackeligen Staffeleien standen überall zerrissene Strohsessel herum. Neben dem Sofa lag die Kerze von gestern am Boden in einem Winkel, der wohl nur alle Monate einmal reingefegt wurde. Nur die große, mit roten Blumen bemalte Kuckucksuhr mit ihrem hellen Tick-Tack brachte einen sauberen, heiteren Ton in diesen Raum. Doch hauptsächlich erschreckten sie die an den Wänden hängenden rahmenlosen Skizzen, eine dichte Menge von Skizzen, die bis zum Boden reichten und sich daselbst zu einem Haufen bunt durcheinander hingeworfener Leinwand auftürmten. Niemals hatte sie eine so erschreckende, grobe, schreiende Malerei gesehen, so grell in den Farben, daß sie sie verletzte wie der Fluch eines Kärrners, der vor der Tür einer Schenke ausgestoßen wird. Sie[[1]] senkte die Blicke, ward aber doch angezogen durch ein umgekehrtes Bild, sicherlich das große Gemälde, an dem der Maler arbeitete und das er jeden Abend an die Mauer schob, um es am nächsten Morgen mit der Frische des ersten Blicks besser beurteilen zu können. Was mochte dieses Bild verbergen, daß man nicht wagte, es zu zeigen? Und das Feld von flammendem Sonnenlicht, das durch die Glasscheiben hereinfiel, wanderte durch den Raum, nicht durch den kleinsten Vorhang gedämpft, wie flüssiges Gold ergoß es sich über all diese Möbeltrümmer, wodurch ihre sorglose Dürftigkeit nur noch mehr in die Augen gerückt wurde. Claude empfand die Stille nachgerade drückend. Er wollte etwas sagen – gleichviel was – um höflich zu sein und sie in ihrer Lage zu zerstreuen. Aber er sann vergebens nach; er fand nichts als die Frage: »Wie heißen Sie[[1]]?« Sie[[1]] öffnete die Augen, die sie, wie von Schläfrigkeit wieder erfaßt, geschlossen hatte. »Christine«, antwortete sie. Er war erstaunt. Auch er hatte seinen Namen noch nicht genannt. Seit gestern abend befanden sie sich Seite an Seite, ohne einander zu kennen. »Ich heiße Claude«, sagte er. Als er sie in diesem Augenblicke betrachtete, sah er sie in ein allerliebstes Lachen ausbrechen. Es war der neckische Ausbruch eines noch kindlichen großen Mädchens. Dieser verspätete Austausch ihrer Namen schien ihr drollig. Dann wieder erheiterte sie ein anderer Gedanke. »Schau, Claude und Christine: beide Namen beginnen mit demselben Buchstaben.« Wieder trat eine Stille ein. Er blinzelte mit den Augen und vergaß sich; es wollte ihm nichts mehr einfallen. Aber er glaubte eine Regung ungeduldigen Mißbehagens an ihr wahrzunehmen und sagte aus Furcht, daß sie sich vielleicht bewegen könne, auf gut Glück, nur um sie zu beschäftigen: »Es ist ein wenig heiß.« Diesmal erstickte sie ihr Lachen, jene angeborene Heiterkeit, die gegen ihren Willen immer wiederkehrte und losbrach, seitdem sie sich beruhigt hatte. Die Hitze ward so stark, daß sie in dem Bette sich wie in einem Bade befand mit feuchter, erblassender Haut von der Milchblässe der Kamelien. »Ja, ein wenig heiß«, erwiderte sie ernst, während ihre Augen sich aufheiterten. Claude schloß mit gutmütiger Miene: »Das macht die frei eindringende Sonne. Aber es tut so wohl, ein Stück Sonne auf die Haut. Gestern nacht unter dem Haustor hätte uns etwas Sonne wohlgetan, wie?« Darüber lachten beide hell auf. Entzückt, endlich einen Unterhaltungsstoff gefunden zu haben, fragte er sie über ihr Abenteuer aus ohne Neugierde, unbekümmert um die Wahrheit, bloß um die Sitzung zu verlängern. Einfach in wenigen Worten erzählte Christine die Begebenheiten. Gestern morgen hatte sie Clermont verlassen, um nach Paris zu kommen, wo sie als Vorleserin bei Frau Vanzade eintreten sollte, der Witwe eines Generals, einer sehr reichen alten Dame, die in Passy wohnte. Der Zug sollte fahrplanmäßig um neun Uhr zehn Minuten abends ankommen, und es waren alle Empfangsmaßnahmen getroffen; eine Kammerfrau sollte sie erwarten, man hatte sogar brieflich ein Erkennungszeichen vereinbart: eine graue Feder auf ihrem schwarzen Hute. Allein unterhalb Nevers war der Zug auf einen entgleisten Güterzug gestoßen, dessen Wagen die Bahn verlegten. Das war der Beginn einer ganzen Reihe von widrigen Zufällen und Verspätungen, vor allem mußten sie endlos warten in den festgehaltenen Wagen; dann war man genötigt, mit Zurücklassung seines Gepäcks auszusteigen und drei Kilometer zu Fuß zu gehen, um eine Station zu erreichen, wo man einen Hilfszug zusammenzustellen sich entschlossen hatte. Damit hatte man zwei Stunden verloren, weitere zwei Stunden durch die Verwirrung, welche der Eisenbahnunfall auf der ganzen Linie verursacht hatte; so daß man erst um ein Uhr morgens – mit vierstündiger Verspätung – in Paris anlangte. »Das war ein Unglück!« sagte Claude noch immer ungläubig, aber doch von einem Zweifel erfaßt und überrascht von der natürlichen Art, wie die Verwicklungen dieser Geschichte sich lösten. »Natürlich hat Sie[[1]] niemand mehr erwartet?« &&x In der Tat hatte Christine die Kammerfrau der Frau Vanzade nicht mehr angetroffen; sie war ohne Zweifel des Wartens überdrüssig geworden. Sie[[1]] schilderte ihre Angst auf dem Lyoner Bahnhofe, in dieser großen, ihr fremden, schwarzen, leeren Halle, die zu dieser späten Nachtstunde sich alsbald leerte. Anfänglich hatte sie nicht gewagt, einen Wagen zu nehmen, war mit ihrer kleinen Tasche auf und ab gegangen in der Hoffnung, daß jemand kommen werde. Dann hatte sie sich dazu entschlossen, aber zu spät, denn es war nur mehr ein einziger Kutscher da, ein sehr schmutziger, betrunkener Kerl, der sie umschlich und mit höhnischer Miene seine Dienste anbot. »Ja, ein Bummler«, sagte Claude, der sich jetzt interessierte, als sei er Zeuge der Verwirklichung eines Märchens. Und Sie[[1]] sind in seinen Wagen eingestiegen?« Die Augen zur Decke gerichtet, fuhr Christine fort, ohne ihre Lage aufzugeben: »Er hat mich dazu genötigt. Er nannte mich seine ›Kleine‹, und ich hatte Furcht vor ihm. Als er erfuhr, daß ich nach Passy wollte, geriet er in Wut und hieb so grimmig auf sein Pferd ein, daß ich mich an die Wagentüren klammern mußte. Dann beruhigte ich mich ein wenig, denn die Droschke rollte sanft durch beleuchtete Straßen, und ich sah Menschen auf den Fußwegen. Endlich erkannte ich die {{Seine}}. Ich war noch niemals in Paris; aber ich hatte einen Plan der Stadt gesehen ... Ich dachte, er werde am Ufer entlangfahren, als ich zu meinem neuerlichen Schrecken wahrnahm, daß wir über eine Brücke fuhren. Es begann eben zu regnen, und der Fiaker bog an einen sehr finstern Ort ein, wo er plötzlich anhielt. Der Kutscher war vom Bocke gesprungen und wollte zu mir in den Wagen. Er sagte, es regne zu stark ...« Claude lachte. Er zweifelte nicht länger; diesen Kutscher konnte sie nicht erfunden haben. Als sie verlegen schwieg, bemerkte er: »Gut, gut, der Kerl machte sich einen Spaß.« »Sogleich sprang ich durch die andere Tür auf das Pflaster. Da fluchte er und sagte mir, wir seien angekommen; er werde mir den Hut vom Kopfe reißen, wenn ich ihn nicht bezahlte ... Der Regen fiel in Strömen, das Ufer war völlig menschenleer. Ich verlor den Kopf, zog ein Fünffrankenstück aus der Tasche und reichte es ihm; er hieb auf sein Pferd ein und fuhr davon, wobei er meine[[Besitz]] Handtasche mitnahm, die glücklicherweise nichts anderes enthielt als zwei Taschentücher, einen halben Kuchen und den Schlüssel zu meinem unterwegs zurückgelassenen Reisekoffer.« »Aber man merkt sich die Nummer der Droschke!« rief der Maler entrüstet. Er erinnerte sich jetzt, von einer vorüberrasenden Droschke gestreift zu sein, als er vom Wolkenbruch gejagt, über die Louis-Philipp-Brücke geeilt war. Er war erstaunt, wie unwahrscheinlich doch oft die Wahrheit ist. Was er als einfach und logisch ersonnen hatte, war blöd neben diesem natürlichen Laufe der endlosen Verwicklungen des Lebens. »Sie[[1]] können sich denken,« schloß Christine, »in welcher Gemütsverfassung ich unter diesem Haustor Schutz gesucht hatte. Ich wußte wohl, daß ich nicht in Passy sei und hier in diesem furchtbaren Paris die Nacht werde zubringen müssen. Und diese Donnerschläge und diese Blitze! Ach, die blauen und roten Blitze, die mich so schreckliche Dinge sehen ließen!« Ihre Augenlider hatten sich von neuem geschlossen; ein Frösteln ließ ihr Antlitz erbleichen; sie sah die Schreckensstadt wieder, die ungeheure Höhlung der Ufer, die sich in der Flammenröte eines Ofens verlor, den tiefen Graben des Flusses, der bleigraue Gewässer dahinwälzte und bedeckt war mit großen, schwarzen Körpern, mit Kähnen, die toten Walfischen glichen, mit unbeweglichen Krahnen, die ihre Galgenarme von sich streckten. War das ein Willkomm! Stille trat ein. Claude hatte sich wieder an seine Zeichnung gemacht. Doch sie bewegte sich jetzt, ihr Arm war steif geworden. »Den Ellbogen ein wenig tiefer, bitte.« Wie um sich zu entschuldigen, fragte er dann in teilnahmsvollem Tone: »Ihre Eltern werden durch die Nachricht der Katastrophe sehr bestürzt sein.« »Ich habe keine Eltern.« »Wie, weder Vater noch Mutter? Sie[[1]] sind allein?« »Ja, ganz allein.« &&x Sie[[1]] war achtzehn Jahre alt, in Straßburg geboren als Tochter eines Kapitäns {{Falle¬grain}}, der dort in Garnison war. Sie[[1]] war nicht ganz zwölf Jahre alt, als ihr Vater, ein {{Gas¬cog¬ner}} aus {{Montau¬ban}}, zu Clermont starb, wohin er infolge einer Lähmung der Beine sich zurückzuziehen genötigt gewesen. Ihre Mutter, eine Pariserin, hatte fast fünf Jahre lang in der Provinz von ihrer magern Pension gelebt und sich durch Fächermalereien etwas Geld verdient, um ihrer Tochter eine gute Erziehung geben zu können. Seit fünfzehn Monaten war auch die Mutter tot; sie hatte ihr Kind allein in der Welt zurückgelassen ohne einen {{Sou}}. Christine hatte keine andere Stütze als die Oberin des Klosters der Schwestern der Heimsuchung zu Clermont. Aus Freundschaft für ihre verstorbene Mutter hatten sie das verwaiste Mädchen im Kloster behalten. Von da war sie geradeswegs nach Paris gekommen, denn es war der Oberin gelungen, ihr einen Platz als Vorleserin bei ihrer alten Freundin, der fast ganz erblindeten Frau Vanzade, zu finden. Claude blieb stumm, als er diese neuen Einzelheiten hörte. Dieses Kloster, diese wohlerzogene Waise, dieses romantische Abenteuer: sie versetzten ihn wieder in Verlegenheit, und er ward wieder linkisch in Worten und Gebärden. Er hielt in seiner Arbeit inne und heftete die gesenkten Blicke auf seinen Entwurf. »Ist Clermont hübsch?« fragte er. »Nicht sehr; eine schwarze Stadt. Ich weiß übrigens nicht; ich bin nur selten ausgegangen.« Sie[[1]] hatte jetzt den Ellbogen auf das Kopfkissen gestützt und fuhr in leisem Tone fort mit einer Stimme, durch die noch ihre Trauer hindurchklang. »Mama war nicht stark und tötete sich durch die Arbeit ... Sie[[1]] verzärtelte mich; nichts war für mich zu gut; ich hatte Lehrer für alle Fächer. Aber ich zog wenig Nutzen daraus; zuerst war ich krank geworden, dann war ich nicht aufmerksam genug, stets unbesonnen, zu Spiel und Scherz geneigt ... Die Musik langweilte mich; das Klavierspiel verursachte mir Krämpfe in den Armen. Mit der Malerei ging es noch am besten ...« Er blickte überrascht auf und rief: »Wie, Sie[[1]] können malen?« »O nein, ich kann nichts, gar nichts. Mama hatte sehr viel Talent und unterwies mich ein wenig in der Aquarellmalerei. Ich half ihr den Hintergrund auf den Fächern malen. Sie[[1]] malte so schöne Fächer!« Sie[[1]] warf unwillkürlich einen Blick umher auf die erschreckenden Skizzen, die an den Mauern flammten; und ihre hellen Augen wurden durch das unruhige Erstaunen über diese grobe Malerei getrübt. Von fern sah sie umgekehrt die Studie, welche der Maler von ihr entworfen hatte, dermaßen verblüfft von den grellen Tönen, von den großen, durch die Schatten säbelnden Pastellstrichen, daß sie nicht den Mut hatte zu verlangen, die Skizze in der Nähe zu besehen. Sie[[1]] fühlte sich übrigens unbehaglich in diesem heißen Bette und warf sich unruhig herum; es drängte sie fortzugehen und ein Ende zu machen mit diesen Dingen, die ihr ein seit gestern begonnener Traum schienen. Ohne Zweifel bemerkte Claude diese ihre nervöse Ungeduld. Ein Gefühl der Scham und des Bedauerns überkam ihn plötzlich. Er ließ seine unvollendete Zeichnung im Stiche und sagte sehr rasch: »Vielen Dank für Ihre Gefälligkeit, mein Fräulein ... Verzeihen Sie[[1]] mir; ich habe Ihre Geduld mißbraucht. Stehen Sie[[1]] auf, bitte; es ist Zeit, daß Sie[[1]] Ihren Angelegenheiten nachgehen.« Ohne zu begreifen, weshalb sie sich nicht entschließen konnte, vielmehr ihren nackten Arm verbarg, während er ihr so eifrig zuredete, wiederholte er, sie solle aufstehen. Dann machte er eine wütende Gebärde, stellte den Wandschirm wieder hin und eilte an das entgegengesetzte Ende des Ateliers in einem übertriebenen Schamgefühl, daß er mit seinem Kochgeschirr ein lautes Geklapper machte, damit sie vom Bette aufstehen und sich ankleiden könne, ohne Furcht gehört zu werden. In dem Getöse, das er anrichtete, überhörte er ihre zögernde Stimme: »Mein Herr! Mein Herr! ...« Endlich lauschte er. »Mein Herr, wenn Sie[[1]] so gefällig sein wollten ... Ich finde meine[[Besitz]] Strümpfe nicht ...« Er eilte hin. Wo hatte er nur seinen Kopf? Was sollte sie denn anfangen im Hemde hinter diesem Wandschirm ohne Strümpfe und ohne Röcke, die er zum Trocknen ausgebreitet hatte? Die Strümpfe waren trocken; er versicherte sich dessen, indem er sie sanft in den Händen rieb; dann reichte er sie über die dünne Wand hinüber, wobei er zum letzten Male den nackten Arm erblickte, einen frischen runden Arm von kindlicher Lieblichkeit. Dann warf er die Röcke auf das Bettende, schob die Schuhe näher hin und ließ nur den Hut an einer Staffelei hängen. Sie[[1]] hatte gedankt und sprach nicht mehr; er konnte kaum das Rauschen des Linnens vernehmen, das dem Geplätscher eines leise bewegten Wassers glich. Doch er fuhr fort, sich mit ihr zu beschäftigen. »Die Seife liegt in einer Schale auf dem Tische ... Öffnen Sie[[1]] das Schubfach und nehmen Sie[[1]] ein reines Handtuch ... Wünschen Sie[[1]] noch Wasser? Ich reiche Ihnen die Kanne hinüber.« Der Gedanke, daß er wieder in seine Ungeschicklichkeit verfiel, erbitterte ihn plötzlich. »Jetzt ärgere ich Sie[[1]] schon wieder«, rief er. »Tun Sie[[1]], als ob Sie[[1]] zu Hause wären.« &&x Er kehrte zu seiner Hauswirtschaft zurück, und da begann ein neuer Kampf in ihm. Sollte er ihr ein Frühstück anbieten? Es war schwer, sie so ziehen zu lassen. Anderseits aber würde dann die Geschichte kein Ende nehmen und der Vormittag für die Arbeit ganz verloren sein. Ohne zu einem bestimmten Entschluß zu kommen, zündete er die Spirituslampe an, reinigte die Schüssel und begann Schokolade zu bereiten, die er für vornehmer hielt als die nach südfranzösischer Art bereiteten Ölnudeln. Noch mit dem Zerbröckeln der Schokolade beschäftigt, rief er plötzlich erstaunt aus: »Wie? Schon?« Christine hatte den Wandschirm weggeschoben und erschien sauber und nett in ihren schwarzen Kleidern, im Handumdrehen eingeschnürt, zugeknöpft, fertig angekleidet. Ihr rosiges Gesicht hatte selbst die Feuchtigkeit des Wassers nicht bewahrt; ihre schwere Haarflechte lag in ihrem Nacken, ohne daß auch nur das kleinste Haarbüschel hervorschlüpfte. Claude stand ganz verblüfft angesichts der wunderbaren Raschheit, der Geschicklichkeit einer kleinen Hauswirtin, sich schnell und gut anzukleiden. »Ei, der Tausend! Wenn Sie[[1]] alles so flink machen ...« Er fand sie größer und schöner, als er geglaubt hatte. Hauptsächlich überraschte ihn ihre ruhige, entschlossene Miene. Sie[[1]] hatte augenscheinlich keine Furcht mehr vor ihm. Es schien, als habe sie, aus diesem Bette steigend, wo sie sich wehrlos gefühlt, mit ihrem Kleide und ihren Stiefelchen zugleich ihre Rüstung wieder angelegt. Sie[[1]] lächelte und schaute ihm fest in die Augen. Jetzt sagte er, was er bisher zu sagen gezögert hatte: »Sie[[1]] frühstücken mit mir, nicht wahr?« Doch sie lehnte ab. »Nein, ich danke ... Ich will nach dem Bahnhof eilen, wo mein Koffer sicher schon angelangt ist; dann will ich mich nach Passy bringen lassen.« Vergebens wiederholte er, daß sie Hunger haben müsse, und daß es nicht vernünftig sei, so wegzugehen, ohne vorher etwas zu essen. »Dann gehe ich hinab und hole Ihnen eine Droschke.« »Nein, ich bitte Sie[[1]], geben Sie[[1]] sich nicht die Mühe.« »Aber Sie[[1]] können doch einen solchen Weg nicht zu Fuß machen. Gestatten Sie[[1]] mir wenigstens, Sie[[1]] bis zum Wagenstandplatz zu begleiten; Sie[[1]] kennen Paris nicht.« »Nein, nein, ich bedarf Ihrer nicht. Wenn Sie[[1]] liebenswürdig sein wollen, lassen Sie[[1]] mich allein gehen.« Es war ihr fester Wille. Ohne Zweifel erschreckte sie der Gedanke, selbst von unbekannten Leuten mit einem Manne gesehen zu werden. Sie[[1]] wollte verschweigen, wo sie die Nacht zugebracht; wollte zu einer Lüge ihre Zuflucht nehmen und die Erinnerung an dieses Abenteuer für sich behalten. Er machte eine zornige Gebärde, als wolle er sie zum Teufel schicken. Es war ihm ganz recht, daß er sie los wurde und nicht hinabgehen mußte. Aber im Grunde war er verletzt; er fand sie undankbar. »Wie es Ihnen beliebt, ich werde keine Gewalt anwenden«, sagte er. Als Christine diese Worte hörte, verstärkte sich ihr Lächeln und zog die zarten Winkel ihrer Lippen herab. Sie[[1]] sagte nichts, nahm ihren Hut und suchte einen Spiegel; als sie keinen fand, entschloß sie sich, die Hutbänder auf gut Glück zu einer Schleife zu binden. Mit erhobenen Ellbogen rollte und zog sie die Bänder, ohne sich zu beeilen, das Antlitz im goldigen Widerschein der Sonne gebadet. Claude war überrascht; er erkannte die kindlich-sanften Züge nicht mehr, die er gezeichnet hatte; der obere Teil des Gesichtes mit der durchsichtig-klaren Stirn und den zarten Augen schien verschwommen; jetzt trat der untere Teil mehr hervor, die leidenschaftliche Kinnlade, der rote Mund mit den schönen Zähnen. Und immer dieses rätselhafte Lächeln des jungen Mädchens, das vielleicht einen Spott ausdrücken wollte. »Auf alle Fälle glaube ich, daß Sie[[1]] mir keinen Vorwurf zu machen haben«, setzte er gereizt hinzu. Da konnte sie ein Lachen nicht unterdrücken, ein halblautes, herzliches Lachen. »Nein, mein Herr, nicht den geringsten«, sagte sie. &&x Er fuhr fort, sie zu betrachten, wieder im Kampfe mit seiner Schüchternheit und Unwissenheit, von der Furcht geplagt, lächerlich gewesen zu sein. Was wußte denn dieses große Fräulein? Ohne Zweifel, was die Mädchen in der Pension wissen: alles und nichts. Es ist das unergründliche, dunkle Erschließen des Fleisches und des Herzens, das niemandem zugänglich ist. War in dieser sorglosen Behausung eines Künstlers die züchtige Sinnlichkeit dieses Mädchens erwacht mit ihrer Neugierde und ihrer unklaren Furcht vor dem Manne? Fühlte sie jetzt, da sie nicht mehr zitterte, die einigermaßen verächtliche Überraschung, um nichts gezittert zu haben? Wie, nicht die geringste Galanterie? Nicht einmal ein Kuß auf die Fingerspitzen? Die rauhe Gleichgültigkeit, die sie aus dem Betragen dieses jungen Mannes herausgefühlt, mußte das Weib in ihr ärgern, das sie noch nicht war; und sie ging so von dannen, verändert, nervös, in ihrem Ärger die Mutige spielend, das unbewußte Bedauern um die unbekannten und furchtbaren Dinge mitnehmend, die nicht geschehen waren. »Sie[[1]] sagen, der Wagenstandplatz sei am Ende der Brücke an dem andern Ufer?« fragte sie, wieder ernst geworden. »Ja, bei der Baumgruppe.« Sie[[1]] hatte jetzt ihre Hutschleife gebunden, die Handschuhe angestreift und war fertig; aber sie ging nicht, mit schlaffen Händen stand sie da und schaute vor sich hin. Als ihre Blicke die verkehrt an die Wand gelehnte große Leinwand trafen, hatte sie Lust, ihn zu bitten, ihr sie zu zeigen; aber sie wagte es nicht. Nichts hielt sie mehr zurück, aber sie schien noch etwas zu suchen, als habe sie das Empfinden, hier etwas zurückzulassen, eine Sache, die sie nicht hätte nennen können. Endlich wandte sie sich nach der Tür. Claude öffnete, und ein Brötchen, welches auf die Tür gelegt worden, rollte in das Atelier. »Sie[[1]] sehen, Sie[[1]] hätten mit mir frühstücken sollen«, sagte er. »Die Pförtnerin bringt mir das jeden Morgen herauf.« Sie[[1]] lehnte mit einem Kopfschütteln abermals ab. Auf dem Flur wandte sie sich um und blieb einen Augenblick stehen. Ihr heiteres Lächeln war wiedergekehrt, und sie reichte ihm zuerst die Hand. »Dank, vielen Dank«, sagte sie. Er hatte dieses beschuhte Händchen in seine breite, mit Pastellfarben befleckte Hand genommen. Beide blieben so einige Augenblicke eng beisammen stehen und schüttelten sich freundschaftlich die Hände. Das Mädchen lächelte noch immer; er hatte eine Frage auf den Lippen: »Wann werde ich Sie[[1]] wiedersehen?« Aber ein Gefühl der Scham hinderte ihn zu sprechen. Nachdem er eine Weile gewartet, ließ er ihre Hand fahren. »Leben Sie[[1]] wohl!« »Leben Sie[[1]] wohl, Fräulein!« Ohne aufzublicken stieg Christine bereits die Mühlenleiter hinab, deren Stufen krachten; Claude aber kehrte heftig in das Atelier zurück, warf die Tür zu und sagte laut: »Die verwünschten Weiber!« Er war wütend auf sich selbst und auf die anderen. Die Möbel, die er traf, mit dem Fuße wegstoßend, fuhr er fort, mit lauter Stimme sein Herz zu erleichtern. Wie sehr hatte er recht, niemals eine heraufkommen zu lassen! Diese Dirnen waren nur da, um die Männer zum besten zu haben! Wer bürgte ihm dafür, daß diese mit ihrer unschuldigen Miene ihn nicht ganz abscheulich genarrt hatte? Er war so einfältig gewesen, an die fabelhaftesten Geschichten zu glauben; alle seine Zweifel kehrten wieder; niemals werde man ihm die Generalswitwe, den Eisenbahnunfall und – vornehmlich – den Droschkenkutscher glaubhaft machen. Kommen denn solche Geschichten vor? Sie[[1]] hatte übrigens einen Mund, dem nicht zu trauen war, und im Augenblicke des Scheidens machte sie eine so drollige Miene ... Wenn er noch begriffen hätte, weshalb sie log? Aber nein, es waren unnütze, unerklärliche Lügen; sie log, um zu lügen, und lachte sich jetzt wohl ins Fäustchen! Heftig schob er den Wandschirm zusammen und schleuderte ihn in einen Winkel. Sie[[1]] hatte ihm eine schöne Unordnung zurückgelassen! Als er feststellen konnte, daß alles in schöner Ordnung und rein war: das Waschbecken, die Serviette, die Seife, erboste er sich, weil sie das Bett nicht gemacht hatte. Mit übertriebener Anstrengung ging er daran, das Bett zu machen, ergriff mit beiden Armen die noch warme Matratze, schlug mit beiden Händen das noch duftende Kissen glatt, schier erstickt von dieser Wärme, von dem reinen Duft der Jugend, die von der Bettwäsche ausströmten. Dann wusch er sich reichlich, um seine Schläfen zu kühlen; und in dem feuchten Handtuch fand er den nämlichen erstickenden Duft wieder, diesen jungfräulichen Atem, dessen im Atelier umherschwebende Lieblichkeit ihn bedrückte. Fluchend aß er seine Schokolade aus der Schüssel, von einem so fieberhaften Arbeitseifer ergriffen, daß er in der Hast[[beeilen]] große Stücke Brot verschlang. »Aber man muß ja hier umkommen!« schrie er plötzlich. »Die Hitze macht mich krank.« Die Sonne war weitergezogen; es war jetzt weniger warm. Claude öffnete eine Dachluke und sog mit großer Erleichterung den eindringenden Strom heißer Luft ein. Er hatte eine Zeichnung – Christinens Kopf – ergriffen und vergaß sich lange in seiner Betrachtung. &&x &&ns &&am &&g="Zweites_Kapitel." &&fa Zweites Kapitel. &&fe &&ax &&lg=x Die Mittagsstunde war vorüber, und Claude arbeitete an seinem Gemälde, als eine bekannte Hand kräftig an der Tür pochte. Mit einer instinktiven Bewegung, die er nicht beherrschen konnte, schob der Maler Christinens Kopf – nach dem er seine große Frauenfigur verbesserte – in einen Karton. Dann entschloß er sich zu öffnen. »Peter, bist du es schon?« rief er. Sein Jugendfreund Peter Sandoz war ein Jüngling von zweiundzwanzig Jahren, sehr braun, mit rundem, eigensinnigen Kopfe, viereckiger Nase und sanften Augen in einem energischen Gesichte, das ein sprießender Rundbart einrahmte. »Ich habe heute früher gefrühstückt und wollte dir eine ausgiebige Sitzung geben ... Alle Wetter, das geht ja schön vorwärts!« Er stellte sich vor das Bild hin und setzte sogleich hinzu: »Du änderst den Kopf der Frauenfigur!« Ein langes Schweigen trat ein; beide betrachteten unbeweglich das Gemälde. Es war eine Leinwand von fünf Metern Breite und drei Metern Höhe, von dem Gemälde vollkommen bedeckt; doch hoben sich kaum einige Bruchstücke der Skizze ab. Diese in einem Zuge hingeworfene Skizze war von prächtiger Kraft, von einem flammenden Leben in den Farben. In eine Waldeslichtung, zwischen dichten Mauern von Grün, fiel eine breite Flut von Sonnenlicht; links verlief eine dunkle Allee, mit einem Lichtfleck in weiter Ferne. Hier lag im Grase, inmitten eines üppigen Junipflanzenwuchses ein nacktes Weib, einen Arm unter dem Haupte, mit schwellender Brust; und sie lächelte mit geschlossenen Augenlidern in der Flut goldigen Lichtes, in der sie badete. Im Hintergrunde waren noch zwei Frauengestalten, eine braune und eine blonde, gleichfalls nackt; diese rangen lachend miteinander und hoben von dem Grün des Laubes zwei wundervolle Fleischtöne ab. Und da der Maler im Vordergrunde einen dunklen Gegensatz benötigte, begnügte er sich damit, einen Herrn in schwarzer Samtjacke hinzusetzen. Dieser Herr wandte den Rücken; man sah von ihm nur die linke Hand, auf die er sich im Grase stützte. »Die weibliche Figur ist sehr schön angedeutet«, sagte Sandoz endlich. »Aber, Sapristi! Das wird dir viel zu schaffen machen.« Mit flammenden Augen sein Werk betrachtend, machte Claude eine zuversichtliche Gebärde. »Bah,« sagte er, »von jetzt bis zur Ausstellung ist's Zeit genug. In sechs Monaten kann man viel arbeiten. Diesmal werde ich mir vielleicht doch den Beweis liefern, daß ich kein Rindvieh bin.« Er begann laut zu pfeifen, entzückt – ohne es zu sagen – über die Skizze, die er von dem Kopfe Christinens entworfen, gehoben durch jene mächtigen Hoffnungsregungen, von denen er nur um so rauher in die Beklemmungen eines Künstlers zurückfiel, den die Leidenschaft für die Natur verzehrte. »Vorwärts, nur keine Zeit verlieren!« rief er. »Du bist hier; laß uns anfangen.« Aus Freundschaft und um ihm die Kosten für ein Modell zu ersparen, hatte Sandoz sich erbötig gemacht, ihm für den Herrn im Vordergrunde Modell zu sitzen. Vier oder fünf Sonntage – nur am Sonntag war er frei – würden genügen, um die Finger fertig zu bringen. Schon schlüpfte er in seine Samtjacke, da fiel ihm noch etwas ein. »Du hast noch nicht ordentlich gefrühstückt, weil du schon arbeitest ... Geh' hinunter ein Kotelett essen; ich erwarte dich hier.« Der Gedanke, daß er Zeit verlieren sollte, entrüstete Claude. »Doch, doch; ich habe gefrühstückt, sieh in die Schüssel! ... Übrigens ist noch ein Stück Brotrinde da, wie du siehst. Die esse ich. Vorwärts in deine Stellung, Faulpelz!« Er ergriff rasch Pinsel und Palette und fuhr fort: »Holt Dubuche uns am Abend ab?« »Ja, gegen fünf Uhr.« »Sehr gut, wir gehen dann zusammen essen ... Bist du endlich fertig? Die Hand mehr links, der Kopf mehr geneigt.« Nachdem er die Kissen zurechtgelegt, hatte Sandoz auf dem Sofa die gewünschte Stellung eingenommen. Er kehrte den Rücken, doch dauerte die Unterhaltung noch eine kurze Zeit fort, denn er hatte am Morgen einen Brief aus Plassans erhalten, dem provenzialischen Städtchen, wo der Maler und er auf der Schule Freundschaft geschlossen. Dann schwiegen beide. Der eine arbeitete und vergaß die ganze Welt um sich her; der andere versank in Ermüdung, die durch eine längere Zeit andauernde Unbeweglichkeit hervorgerufen wird. Im Alter von neun Jahren hatte Claude das Glück gehabt, nach dem Flecken in der Provence zurückzukehren, wo er geboren war. Seine Mutter, eine brave Wäscherin, die sein Taugenichts von Vater auf der Straße verlassen, hatte einen wackeren Arbeiter geheiratet, der in die schöne Haut der Blonden sich verliebt hatte. Allein, trotzdem sie tüchtig bei der Arbeit waren, konnten sie das Auskommen nicht finden. Sie[[1]] hatten denn auch vom Herzen gern eingewilligt, als ein alter Herr aus Plassans erschienen war, um Claude von ihnen zu verlangen, den er auf der dortigen Schule in seiner Nähe unterbringen wollte. Es war die edelmütige Laune eines Sonderlings und Bilderliebhabers, den die Männchen, die der Kleine ehemals gekleckst hatte, ein Talent ahnen ließen. Sieben Jahre lang war Claude im Süden geblieben, zuerst als Pensionär, später als auswärtiger Schüler, bei seinem Beschützer wohnend. Eines Morgens fand man den letzteren tot auf seinem Bette liegen. Ein Schlagfuß hatte seinem Leben ein Ende gemacht. Er hinterließ dem jungen Manne testamentarisch eine Rente von tausend Franken mit der Ermächtigung, über das Kapital zu verfügen, sobald er die Großjährigkeit erlangt habe. Von der Leidenschaft für die Malerei erfaßt, verließ Claude sofort Plassans, ohne seine Schlußprüfungen zu bestehen, und eilte nach Paris, wohin sein Freund Sandoz schon früher gegangen war. &&x Auf der Schule hatte es drei Unzertrennliche gegeben: Claude Lautier, Peter Sandoz und Ludwig Dubuche. Aus drei verschiedenen Gegenden des Landes stammend, sehr verschieden in ihrem Wesen, aber in demselben Jahre geboren, hatten sie sich sogleich und für immer zusammengefunden, durch Seelenverwandtschaften angezogen, durch den Drang eines gemeinsamen Ehrgeizes, durch das Erwachen einer geistigen Überlegenheit inmitten der bösen Rotte abscheulicher Rangen, die sie prügelten. Sandoz' Vater, ein Spanier, der infolge politischer Wirren nach Frankreich geflüchtet war, hatte in der Nähe von Plassans eine Papierfabrik gebaut, in der allerhand von ihm erfundene neue Maschinen arbeiteten. Dann war er, verfolgt und verbittert durch die Bosheiten der Ortsbewohner, gestorben und hatte seine Witwe in einer so verworrenen Lage mit einer Reihe so schwieriger Prozesse auf dem Halse zurückgelassen, daß bei dem Zusammenbruch das ganze Vermögen verloren ging. Die Mutter, eine Burgunderin, die einen Groll gegen die Provenzalen nährte, welche sie sogar der langsam fortschreitenden Lähmung beschuldigte, an der sie litt, war mit ihrem Sohne nach Paris geflüchtet. Hier erhielt Peter seine Mutter mit dem mageren Gehalt eines kleinen Amtes, fortwährend von literarischem Ruhme träumend. Dubuche war der älteste Sohn einer Bäckerin in Plassans, die in ihrer Habgier und ihrem Ehrgeize ihn vorwärts trieb, so daß er später seinen Freunden nach Paris gefolgt war, wo er die technische Hochschule besuchte, kümmerlich von den letzten Fünffrankenstücken lebend, die seine Eltern für ihn aufwandten mit der Hartnäckigkeit von Juden, welche die Zukunft mit dreihundert Prozent berechneten. »Sapperlot! Deine Stellung ist aber gar nicht bequem!« murmelte Sandoz in der tiefen Stille; »sie zerbricht mir fast den Handknöchel ... Darf man sich ein wenig rühren?« Claude antwortete nicht, doch ließ er ihm Zeit, ein wenig die Glieder gerade zu strecken. Er begann eben mit breiten Pinselstrichen die Samtjacke zu malen. Dann wich er zurück, zwinkerte mit den Augen und brach in ein helles Gelächter aus, durch eine plötzliche Erinnerung aufgeheitert. »Erinnerst du dich ... in der sechsten ... wie {{Pouillaud}} einmal im Schranke des blödsinnigen Lehrers {{Lalubie}} Kerzen anzündete? Das Entsetzen, das den Mann ergriff, als er, ehe er seinen Lehrstuhl erklomm, seine Bücher aus dem Schranke holte und die beleuchtete Kapelle sah! ... Fünfhundert Strafverse diktierte er der ganzen Klasse!« Von diesem Heiterkeitsausbruch angesteckt, hatte sich Sandoz rücklings auf das Sofa hingeworfen. Er nahm dann wieder seine Stellung an und sagte: »Ach, dieser Teufelskerl {{Pouillaud}}! Gerade in seinem heutigen Briefe zeigt er mir die Hochzeit des {{Lalubie}} an. Der alte Tölpel heiratet ein hübsches Mädchen. Doch du kennst sie ja, die Tochter des Krämers {{Galissard}}, die kleine Blonde, der wir Nachtmusiken dargebracht haben.« Der Strom der Erinnerungen war entfesselt, Claude und Sandoz waren unerschöpflich, der eine mit immer wachsendem Eifer malend, der andere der Mauer zugewandt, mit dem Rücken redend, die Schultern in leidenschaftlicher Bewegung. Zuerst kam das Schulgebäude, das alte, baufällige Kloster, das sich bis zu den Stadtwällen erstreckte; die beiden mit riesigen Platanen bestandenen Höfe, der schlammige, von Moos überwucherte Teich, wo sie schwimmen lernten; die im Erdgeschoß gelegenen Klassen mit den wassertriefenden Mauern; der ewig vom Spülwasser duftende Speisesaal; der Schlafsaal der Kleinen, berüchtigt durch seine Scheußlichkeiten; dann die Wäschekammer, das Krankenzimmer, in dem zarte Nonnen in schwarzem Kleide sich betätigten, die so sanft unter ihrer weißen Haube blickten! Welches Aufsehen erregte es, als Schwester Angela, deren jungfräuliches Gesicht die Herzen der Großen zu Flammen entzündete, eines Morgens mit Hermeline verschwunden war, einem dicken Jungen aus der obersten Klasse, der aus Liebe zu ihr sich in die Finger schnitt, um nach dem Krankenzimmer hinaufgehen zu können und sich englisches Pflaster auflegen zu lassen! Dann kam das ganze Personal an die Reihe, eine jämmerliche, plumpe und gräßliche Truppe: böswillige und leidende Gestalten. Der Provisor, der sich durch die Ausgaben für Empfangsabende zugrunde richtete, um seine Töchter zu verheiraten, zwei große, schöne, elegante Mädchen, die auf allen Mauern durch abscheuliche Zeichnungen und Inschriften beleidigt wurden; der Aufseher Pifard, dessen berühmte Nase sich hinter den Türen versteckt hielt gleich einer Feldschlange und schon von ferne seine Anwesenheit verriet; dann die Schar der Professoren, jeder mit einem Spitznamen belegt: der strenge {{Rhada¬manth}}, der niemals lachte; der Schmierfink, der die Rückwand der Lehrstühle schwarz färbte, indem er fortwährend seinen Kopf daran rieb; »Adele – du – betrügst – mich«, Professor der Physik, ein legendenhafter Hahnrei, dem zehn Geschlechter von Schülern den Namen seiner Frau ins Gesicht schleuderten, die ehemals – wie man sagte – in den Armen eines Karabiniers überrascht worden; und noch andere: Sportini, der wilde Aufseher, mit seinem korsischen Messer, das er gern herumzeigte und an dem angeblich das Blut von drei Vettern rostete; der kleine {{Chantecaille}}, der so gutmütig war, daß er den Schülern während der Spaziergänge das Rauchen gestattete. Zuletzt gedachten sie sogar eines Küchenjungen und des dicken Abwaschmädchens, zweier Ungeheuer, die man {{Para¬boulo¬menos}} und {{Paralleluca}} zubenannt hatte und denen man eine Schäferstunde auf dem Kehrichthaufen nachsagte. &&x Dann kamen die Späße, die plötzlichen Erinnerungen an die feinen Streiche, über die man noch nach Jahren lachen mußte. Eines Morgens verbrannte man im Ofen die Schuhe von Toten-Mimi, auch Skelett-Extern genannt, einem magern Jungen, der Schnupftabak für die ganze Klasse einschmuggelte. An einem Winterabend hatte man in der Hauskapelle Zündhölzchen gestohlen, die dort neben der ewigen Lampe gelegen; dann rauchte man trockene Kastanienblätter in Pfeifen von Schilfrohr. Sandoz, der diesen Streich gespielt, gestand jetzt, daß ihm der kalte Schweiß auf der Stirn gestanden, als er die Treppe des im Finstern liegenden Chors hinabstürmte. Claude war eines Tages auf den schönen Einfall gekommen, unter seinem Pulte Maikäfer zu braten, um zu sehen, ob sie gut zu essen seien, wie manche behaupteten. Aus dem Pult war ein so heftiger Gestank und dichter Rauch hervorgedrungen, daß der Aufseher den Wasserkrug ergriff, weil er glaubte, es brenne im Schulzimmer. Und dann die Streifzüge, die unterwegs geplünderten Zwiebelfelder, die Steinwürfe in die Fenster, wobei die Geschicklichkeit darin bestand, durch die Brüche der Scheiben bekannte Landkarten herauszubekommen; dann die griechische Aufgabe, die in großen Buchstaben auf die schwarze Tafel geschrieben wurde, von wo die ganze Klasse sie herablas, ohne daß der Professor es merkte. Und noch andere Geschichten; die im Hofe aufgestellten Bänke wurden durchgesägt und als Opfer eines Aufstandes zu Grabe getragen, wobei der lange Trauerzug unter Klageliedern sich rings um den Teich bewegte. Ach, das war ein famoser Spaß! Dubuche, der den Geistlichen machte, war in den Teich gestiegen und hatte Wasser in seiner Mütze geholt, um einen Weihwedel zu haben! Das Drolligste aber war, wie {{Pouillaud}} eines Nachts sämtliche Nachttöpfe im Schlafsaale mittelst einer von Bett zu Bett laufenden Schnur zusammenband, und dann am Morgen – es begannen eben die Ferien – die drei Stockwerke hinabstürmte, diese schauerliche Kette von Nachttöpfen nachschleppend, die mit höllischem Gepolter von Stufe zu Stufe sprang, bis sie vollständig in Scherben gegangen war. Claude lachte so unbändig, daß er – mit dem Pinsel in der Luft – in der Arbeit innehalten mußte. »Dieser Teufelskerl {{Pouillaud}}!« rief er abermals ... »Er hat dir geschrieben? Was treibt er denn jetzt?« »Nichts!« erwiderte Sandoz und setzte sich auf den Kissen zurecht. »Sein Brief ist blöd. Er beendet sein Rechtsstudium und übernimmt dann die Advokaturkanzlei seines Vaters. Wenn du den Ton hörtest, den er schon annimmt, die ganz alberne Gespreiztheit eines ordentlichen Spießbürgers!« Von neuem trat ein Schweigen ein, und er setzte hinzu: »Wir, mein alter Junge, sind vor solchem Schicksal bewahrt geblieben.« Dann kamen noch andere Erinnerungen, die ihre Herzen höher schlagen ließen, die schönen Tage, die sie dort unten in Gottes freier Natur außerhalb der Schule verlebt hatten. Noch als kleine Jungen, schon in der sechsten Klasse, wurden die drei Unzertrennlichen von der Leidenschaft für lange Spaziergänge erfaßt. Den kleinsten Urlaub benutzten sie dazu, meilenweit zu wandern; mit zunehmendem Alter wurden sie immer kühner, durchstreiften die ganze Gegend und machten Reisen, die oft mehrere Tage dauerten. Sie[[1]] übernachteten, wie und wo es sich gerade traf, in einer Felsgrotte, in einer noch von der Arbeit heißen Dreschtenne, wo das ausgedroschene Stroh ihnen ein weiches Lager bot; in einer verlassenen Hütte, deren Boden sie mit Thymian und Lavendel bedeckten. Es waren dies Wanderfahrten nach entlegenen Winkeln, ein instinktives Hinsinken an den Busen der gütigen Natur, eine unsinnige, kindische Freude an den Bäumen, Bächen, Bergen, eine grenzenlose Freude allein und frei zu sein. Dubuche, der Pensionär war, schloß sich den zwei anderen nur an freien Tagen an. Er hatte übrigens die schweren Beine und den müden Leib eines fleißigen Schülers und Büfflers. Claude und Sandoz hingegen wurden nicht müde und weckten einander jeden Sonntag schon um vier Uhr morgens durch Kieselwürfe an die Fensterläden. Besonders im Sommer war die Viorne der Gegenstand ihrer Sehnsucht, dieser Gießbach, dessen schmaler Lauf die tiefer gelegenen Wiesen von Plassans bewässerte. Sie[[1]] waren kaum zwölf Jahre alt, als sie schon schwimmen konnten. Für ihr Leben gern plätscherten sie in den Höhlungen, wo das Wasser sich ansammelte; hier verbrachten sie ganze Tage nackt, im heißen Sande sich trocknend, um dann wieder ins Wasser zu tauchen. Sie[[1]] lebten im Flusse, bald auf dem Bauche, bald auf dem Rücken, durchforschten das Wachstum an den Ufern, versanken bis zu den Ohren und lauerten stundenlang den Aalen auf. Dieser Strom reinen Wassers, der sie im hellen Sonnenlichte durchdrang, verlängerte ihre Kindheit, gab ihnen das frische, fröhliche Lachen von ausgelassenen Jungen, wenn sie – schon als erwachsene junge Leute – in der Schwüle der Hochsommerabende nach der Stadt zurückkehrten. Später huldigten sie der Jagdlust, aber so wie die Jagd in jener wildpretlosen Gegend betrieben wird; da wanderte man sechs Meilen weit, um ein halbes Dutzend Feigenschnepfen heimzubringen; zuweilen machten sie ungeheuere Märsche, von denen sie mit leeren Säcken heimkehrten, höchstens mit einer Fledermaus, die sie aus Ärger vor der Stadt niedergeknallt hatten. Ihre Augen wurden feucht bei der Erinnerung an diese Riesenmärsche: sie sahen die endlosen weißen Straßen wieder, bedeckt mit einer Staubschicht wie mit einer dicken Lage Schnee. Sie[[1]] wanderten auf diesen Straßen endlos dahin und freuten sich des Knarrens ihrer plumpen Schuhe; dann schritten sie querfeldein und wanderten auf rotem, eisenhaltigem Boden immer weiter. Darüber wölbte sich ein bleierner Himmel; kein Schatten war zu sehen weit und breit, nichts als zwerghafte Ölbäume und dünnbelaubte Mandelbäume. Wenn sie heimkehrten, waren sie köstlich ermüdet, prahlten stolz, daß sie heute weitergekommen seien als neulich, und waren entzückt, daß sie die Beine nicht mehr fühlten und nur vermöge der erlangten Kraft sich fortbewegten, wobei sie mit einem furchtbaren Soldatengesang sich ermunterten. &&x Zu jener Zeit nahm Claude zwischen Pulverhorn und Kapselbüchse schon sein Album mit, in dem er einzelne Teile des Horizontes skizzierte; Sandoz hingegen hatte stets das Werk eines Dichters in der Tasche. Es war eine romantische Leidenschaft: geflügelte Strophen mit hingeworfenen Bildern aus der Soldatenwelt abwechselnd; Oden, die in das bebende Licht der heißen Luft hinausgeschleudert wurden. Wenn sie eine Quelle entdeckt hatten oder vier Weiden, die einen grauen Fleck auf der weiß schimmernden Erde bildeten, vergaßen sie sich daselbst bis zum Abend, führten Dramen auf, die sie auswendig wußten, mit lauter Stimme die Heldenrollen, mit dünner, flötender Stimme die Rollen der Naiven und Königinnen hersagend. An solchen Tagen ließen sie die Sperlinge unbehelligt. So hatten sie schon mit vierzehn Jahren in dieser fernen Provinz inmitten der verdummenden Schläfrigkeit der Kleinstädte ein vereinsamtes Leben voll Begeisterung geführt, von einem Fieber für Kunst und Literatur verzehrt. Die ungeheuere Szenerie Hugos mit den Riesengestalten, die im ewigen Kampf der Gegensätze sich bewegen, hatte sie anfänglich in die verzückte Stimmung der Heldengedichte versetzt; sie gestikulierten, gingen in die Berge, um die Sonne hinter Ruinen untergehen zu sehen, und sahen das Leben in der prächtigen, falschen Beleuchtung der fünften Akte. Dann hatte Musset mit seiner Leidenschaft und seinen Tränen einen Aufruhr in ihnen erregt; in ihm hörten sie ihr eigenes Herz schlagen; ihnen eröffnete sich eine mehr menschliche Welt, die sie durch das Erbarmen, durch den ewigen Aufschrei des Elends gewann, den sie fortan von allen Dingen emporsteigen hören sollten. Sie[[1]] waren übrigens nicht sehr wählerisch; sie zeigten die schöne Gier der Jugend, einen wilden Hunger nach Lektüre, in dem sie das Vortreffliche mit dem Schlechtesten verschlangen, dermaßen bewunderungsdurstig, daß oft die schlechtesten Werke sie in eine Begeisterung versetzten, die man gewöhnlich nur den Meisterwerken widmet. Wie Sandoz soeben bemerkt hatte – die Lust an den weiten Wanderungen und die Gier nach Lektüre schützten sie vor der unvermeidlichen Versumpfung ihrer Umgebung. Sie[[1]] betraten niemals ein Kaffeehaus; sie bekundeten laut ihren Abscheu gegen die Straßen; taten, als müßten sie daselbst zugrunde gehen wie die Adler im Käfig zu einer Zeit, da manche ihrer Kameraden schon das Kaffeehaus besuchten und Karten spielten. Dieses Provinzleben, das schon die Kinder mit seinem Zahnwerk erfaßte; die Gewohnheit des Kasinos, wo man die Zeitung bis zur letzten Ankündigung durchbuchstabierte; die endlose Dominopartie; derselbe Spaziergang zur selben Stunde in der nämlichen Straße, die schließliche Verdummung unter diesem Mühlstein, der die Gehirne plattdrückt: über alles waren die beiden entrüstet; sie verwahrten sich laut gegen ein solches Leben, erstiegen die benachbarten Hügel, um dort noch unbekannte einsame Plätze zu entdecken, deklamierten Verse im strömenden Regen, ohne ein Obdach zu suchen, weil sie die Städte haßten. Sie[[1]] faßten den Plan, am Ufer der Viorne zu kampieren, dort als Wilde zu leben in der Wonne eines fortwährenden Bades mit fünf oder sechs Büchern, nicht mehr, die ihren Bedürfnissen genügt haben würden. Selbst das Weib war verbannt; ihre Schüchternheit, ihre Ungeschicklichkeit schlugen sie hoch an in der Sittenstrenge überlegener Jungen. Claude hatte sich zwei Jahre lang in Liebe verzehrt für ein kleines Hutmacherlehrmädchen, dem er jeden Abend in der Ferne folgte; niemals hatte er den Mut gefunden, das Wort an sie zu richten. Sandoz nährte allerlei Träume von Damen, die er auf der Reise angetroffen, von sehr schönen Mädchen, die in einem unbekannten Walde auftauchen, sich einen ganzen Tag hindurch ihm hingeben und dann verschwinden würden gleich Schatten zur Dämmerungszeit. Ihr einziges galantes Abenteuer erheiterte sie jetzt noch, so albern fanden sie es: zur Zeit, da sie noch der Musikkapelle der Schule angehörten, hatten sie zwei kleinen Fräulein Nachtmusiken dargebracht; ganze Nächte verweilten sie unter einem Fenster, spielten das Piston und die Klarinette und entlockten ihren Instrumenten dermaßen abscheuliche Mißtöne, daß die Spießbürger des ganzen Stadtviertels entsetzt waren, bis zu dem denkwürdigen Abende, an dem die empörten Eltern sämtliche Wasserkrüge des Hauses auf ihre Köpfe leerten. Welch selige Zeit! ... Wie lachten sie gerührt bei der geringsten Erinnerung! ... Die Wände des Ateliers waren eben mit einer Reihe von Skizzen bedeckt, die der Maler während einer vor kurzem unternommenen Reise dort unten angefertigt hatte. Es waren ihnen, als hätten sie rings um sich her den ehemaligen Horizont, den glühenden blauen Himmel über der roten Landschaft. Da dehnte sich eine Ebene, dicht bestanden mit kleinen, grauen Ölbäumen bis zu den rötlich schimmernden Zacken der fernen Hügel. Hier lag zwischen sonnverbrannten, rostfarbenen Hängen die ausgetrocknete Viorne unter dem Bogen einer alten, staubbedeckten Brücke ohne anderes Grün als einige verdorrte Büsche. Weiterhin tat der »Höllenschlund« seinen klaffenden Spalt auf inmitten eines Gerölls von abgestürztem Felsgestein: ein ungeheures Durcheinander, eine wilde Wüstenei, die ihr Steingewoge ins Unendliche fortzurollen schien. Dann eine Menge von wohlbekannten Winkeln: das Tal der Reue, so eng, so schattig und kühl wie ein Baumdickicht inmitten dieser Kalkfelder; das Herrgottswäldchen, dessen Fichten von einem harten, glänzenden Grün ihr Harz im hellen Sonnenscheine niederträufeln ließen; der {{Bouffan¬grund}}, weiß wie eine Moschee mitten unter weitgedehnten Feldern, die Blutpfützen glichen; und noch viele andere Skizzen, blendendweiße Wegkrümmungen, Gräben, wo die Hitze auf dem kiesigen Boden Blasen gezogen zu haben schien; Sandzungen, welche den Fluß Tropfen um Tropfen eingesogen hatten, Maulwurfslöcher, Ziegensteige, Bergkuppen unter dem tiefblauen Himmel. »Schau, wo ist denn das?« fragte Sandoz vor einer Studie. Claude schwang entrüstet seine Palette. »Wie? Du erinnerst dich nicht? Wir haben uns hier einmal beinahe alle Knochen zerschlagen. Das war damals, als wir mit Dubuche aus dem {{Jaume¬garde¬tale}} hinaufkletterten. Der Berg war glatt wie die Hand, wir mußten unsere Fingernägel in das Gestein vergraben, so daß wir mitten auf unserem Wege nicht weiter konnten, weder vorwärts noch zurück... Als wir endlich oben waren und unsere Koteletten braten wollten, kam es beinahe zu einer Prügelei zwischen uns beiden. Sandoz erinnerte sich jetzt. »Ach ja, ach ja! Jeder sollte sein Kotelett an einem Feuer von Rosmaringerten braten, und als meine[[Besitz]] Stäbe brannten, erzürntest du mich mit deinem Spott über mein Kotelett, das zu verkohlen drohte.« Ein tolles Gelächter schüttelte sie wieder. Der Maler hatte sich indes wieder an seine Arbeit gemacht und schloß in ernstem Tone: »Das ist alles vorbei, mein lieber Alter! Jetzt haben wir keine Zeit zu solchem Müßiggang.« &&x Es war richtig; seitdem die drei Unzertrennlichen ihren Traum verwirklicht und sich in Paris wiedergefunden hatten, um es zu erobern, ließ das Leben sich gar hart an. Wohl versuchten sie es, die langen Spaziergänge von ehemals wiederaufzunehmen; an manchen Sonntagen wanderten sie beim Zollhaus von {{Fontaine¬bleau}} hinaus, durchstreiften den Wald von {{Verrières}}, gelangten bis {{Bièvre}}, kamen durch die Wälder von {{Belle¬ville}} und {{Meudon}} und kehrten über {{Grenelle}} zurück. Allein sie beschuldigten Paris, daß es ihnen die Beine verderbe, und es kam bald soweit, daß sie völlig im Kampfe ums Dasein das Pflaster der Stadt nicht mehr verließen. Von Montag bis zum Samstag schund sich Sandoz in einem Büro des Standesamtes des fünften Bezirkes; müder Gedanke an seine Mutter hielt ihn hier fest, die er mit seinem Monatsgehalte von hundertfünfzig Franken kümmerlich ernährte. Dubuche, der seinen Eltern die Zinsen von dem für ihn verwendeten Gelde bezahlen mußte, suchte untergeordnete Arbeiten bei den Architekten und benutzte dazu die Zeit, die seine Studien ihm frei ließen. Claude war – dank seinen tausend Franken Rente – ein freier Mann; aber wie schrecklich waren oft die letzten Monatstage, besonders wenn er den magern Rest seiner Barschaft mit den Freunden teilte! Glücklicherweise begann er kleine Bildchen zu verkaufen; Vater {{Mal¬gras}}, ein abgefeimter Geschäftsmensch, erschacherte sie von ihm für zehn bis zwölf Franken. Übrigens wollte er lieber Hungers sterben als für den Handel arbeiten, Spießbürgerbilder, Heiligenbilder, Aushängeschilder malen. Nach seiner Reise hatte er im {{Bou¬don¬nais}}-Sackgäßchen ein geräumiges Atelier gemietet; dann war er aus Sparsamkeit nach dem Bourbonufer gezogen. Dort lebte er als Wilder in vollständiger Mißachtung gegen alles, was nicht Malerei war, zerfallen mit seiner Familie, die ihm widerwärtig war, im Zerwürfnisse mit einer Tante, einer Wursthändlerin im Hallenviertel, weil diese gar zu gesund war; nur einen geheimen Schmerz trug er mit sich herum wegen seiner Mutter, die von den Männern ausgebeutet und in den Schmutz gezerrt wurde. Doch plötzlich rief er Sandoz zu: »Nun, wie ist's? Willst du dich nicht etwas strammer halten?« Doch Sandoz erklärte, daß er sich schon völlig gelähmt fühle, und sprang vom Sofa, um in seine Beine etwas Leben zu bringen. Es trat eine Ruhepause von zehn Minuten ein. Man sprach von anderen Dingen. Claude zeigte sich gemütlich; wenn seine Arbeit gut vonstatten ging, ward er allmählich lebhaft und beredt, er, der gewohnt war, mit zusammengekniffenen Lippen in kalter Wut zu malen, sobald er merkte, daß die Natur ihm entschlüpfte. Kaum hatte sein Freund die Stellung wiederaufgenommen, so fuhr er fort, fleißig zu malen, wobei die Rede unerschöpflich von seinen Lippen floß. »Es geht gut, mein Alter! Du gibst eine prächtige Figur auf dem Bilde... Wenn die Trottel mir dieses Gemälde zurückweisen, sollen sie sehen! Ich bin strenger gegen mich, als sie es gegen sich sind, wenn ich eines meiner Bilder zulässig finde, ist es strenger beurteilt als durch alle Richter der Erde... Du erinnerst dich meines Bildes aus den Hallen: zwei Kinder auf einem Gemüsehaufen; ich habe es vernichtet, denn es war nicht gelungen; ich hatte mich in eine Sache eingelassen, die für meine[[Besitz]] Schultern noch zu schwer war. Ich werde den Stoff eines Tages wiederaufnehmen, wenn ich die Kraft in mir fühle, und werde noch ganz andere machen, daß sie alle vor Erstaunen hin sein sollen. Er fuhr mit der Hand durch die Luft, als wolle er eine ganze Menge hinwegfegen; er leerte eine Röhre blauer Farbe auf die Palette, dann fragte er lachend, welches Gesicht vor seiner Malerei sein erster Meister machen werde, der Vater &&c=8 {{Belloque}}, &&c=0 ein ehemaliger einhändiger Kapitän, der seit einem Vierteljahrhundert in einem Museumssaale die Jungen von Plassans in der Kunst des Farbenzeichnens unterwies. Und &&c=8 {{Berthou}} &&c=0 in Paris, der berühmte Maler des »Nero im Zirkus«, dessen Atelier er sechs Monate hindurch besucht; hatte er ihm nicht zwanzigmal wiederholt, daß er niemals etwas Rechtes machen werde? Wie bedauerte er die sechs Monate, die er in albernem Herumtasten hingebracht hatte, in blöden Übungen unter der Zuchtrute eines Menschen, dessen Dickschädel nicht der seine war! Schließlich schmähte er die Arbeit im Louvre überhaupt; lieber werde er sich die Hand weghacken als wieder dahin zurückkehren, um sein Auge an einer dieser Kopien zu verderben, die für immer den Blick für die wirkliche Welt trüben. Konnte es in der Kunst etwas anderes geben, als daß man bot, was man im Leibe hatte? Bestand nicht die ganze Kunst darin, ein schönes Weib vor sich hinzusetzen und es so wiederzugeben, wie man es auffaßte? Ein Bündel Möhren, – jawohl, ein Bündel Möhren! – unmittelbar studiert und einfach, in dem persönlichen Ton, in dem man es sieht, hingemalt: war das nicht mehr wert als das ewige Einerlei der alten Schule mit ihren breit getretenen Pfaden, als diese Malerei mit Tabaksaft, die schmählich nach Rezepten hergestellt wird? Der Tag mußte kommen, an dem eine einzige Möhre natürlich gemalt, einen Umsturz hervorrufen werde. Darum begnügte er sich jetzt in dem Atelier {{Boutin}} zu malen, einem freien Atelier, von einem ehemaligen Modell in der {{Huchette}}-Straße gehalten. Wenn er dem Ordner zwanzig Franken erlegt hatte, fand er nackte Leiber vor, Männer und Frauen in Fülle, daß er in seinem Winkel soviel arbeiten konnte, wie er nur immer wollte. Er warf sich mit einem Feuereifer auf die Arbeit, vergaß Essen und Trinken, rang mit der Natur neben Tölpeln, die ihn der Unwissenheit und Trägheit ziehen und in anmaßendem Tone von ihren Studien sprachen, weil sie unter den Augen des Meisters Nasen und Münder malten. »Höre: wenn einer dieser Laffen einen Rumpf gemalt hat wie diesen da, dann soll er mir ihn zeigen, und wir wollen über die Sache reden.« Er zeigte mit der Spitze des Pinsels auf eine Malstudie, die neben der Tür an der Wand hing! Sie[[1]] war prächtig mit meisterhaft breitem Pinsel gemacht; daneben hingen noch andere herrliche Stücke; ein Paar Mädchenfüße, köstlich in ihrer Zartheit und Wahrheit; den Bauch eines Weibes, ein samtweiches, zitterndes Fleisch, belebt von dem unter der Haut rollenden Blute. In seinen seltenen Stunden der Zufriedenheit war er stolz auf diese Studien, die einzigen, die ihn befriedigten, die einen großen Maler ankündigten, einen Maler von bewunderungswerter Begabung, den nur plötzlich auftauchende und unerklärliche Momente des Unvermögens in seinem Aufschritt hinderten. &&x Mit großen Pinselstrichen die Samtjacke malend, und mit seiner Unversöhnlichkeit, die nichts achtete, sich anfeuernd, fuhr er fort: »Lauter Farbenkleckser, Erzeuger von Sudeleien zu zwei {{Sous}}, mit erborgtem Ruhm, Tölpel oder Schufte, die vor der öffentlichen Dummheit auf den Knien liegen! Kein einziger Kraftmensch, der den Spießbürgern eins herunterhauen möchte! ... Nimm einmal den alten Ingres! Du weißt, wie sehr er mir mit seiner schleimigen Malerei zuwider ist. Er ist doch ein ganzer Kerl, und ich ziehe den Hut vor ihm, weil er seine eigenen Wege ging und eine Art zu zeichnen hatte, deren Macht sich den Tölpeln aufzwang, die ihn heute zu verstehen glauben. Außer ihm gibt es nur noch zwei: {{Dela¬croix}} und {{Cour¬bet}}. Alles andere ist Quark ... Der alte, romantische Löwe, hat der eine stolze Art! ... Seine Dekoration ist wie mit Flammentönen gemalt! Und welche Arbeitskraft! Er würde die Mauern von Paris bedeckt haben, wenn man ihm sie gegeben hätte: seine Palette sott und floß über. Ich weiß wohl, es war nichts als Phantasterei; aber um so schlimmer; es war notwendig, um die alte Schule in Brand zu stecken ... Dann ist der andere gekommen, ein tüchtiger Arbeiter, der wahrhafte Maler des Jahrhunderts mit einer wahrhaft klassischen Arbeit, was keiner dieser Dummköpfe gemerkt hat. Sie[[1]] haben geheult, sie haben über Entweihung der Kunst, über Realismus gejammert, als dieser famose Realismus nur in den Gegenständen lag, während die Auffassung die der alten Meister blieb und die Ausführung den schönen Vorbildern in unseren Museen folgte ... Alle beide: {{Dela¬croix}} und {{Cour¬bet}}, sind zur gewünschten Stunde gekommen. Jeder hat einen Schritt vorwärts getan. Und jetzt, ach jetzt ...« Er schwieg, trat einen Schritt zurück, um die Wirkung zu prüfen, versenkte sich einen Augenblick in das Empfinden seines Werkes und fuhr dann fort: »Jetzt ist schon etwas anderes nötig. Was, weiß ich nicht genau! Wenn ich wüßte und könnte, wäre ich sehr stark; jawohl, es gäbe niemanden außer mir... Allein ich fühle, daß die große, romantische Dekoration des {{Dela¬croix}} in allen Fugen kracht und in die Brüche geht; ferner, daß die schwarze Malerei {{Courbets}} nach der eingeschlossenen, schimmeligen Luft des Ateliers riecht, in das die Sonne niemals eindringt. Begreifst du? Wir brauchen vielleicht die Sonne, das Freilicht, eine helle und junge Malerei mit Dingen und Wesen, wie sie sich im wahren Lichte bewegen; kurz – ich kann es nicht sagen – &&c=8 unsere &&c=0 Malerei, die Malerei, die unsere Augen von heute schaffen und betrachten.« Seine Stimme erlosch von neuem; er stammelte; es gelang ihm nicht, das dumpfe Erschließen der Zukunft, das in ihm emporstieg, in eine Formel zu fassen. Eine tiefe Stille trat ein, während der er – noch vor Erregung zitternd – die Samtjacke vollendete. Sandoz hatte ihm zugehört, ohne seine Stellung aufzugeben. Mit dem Rücken gleichsam zur Mauer sprechend wie im Traume, sagte er seinerseits: »Nein, nein, man weiß nicht; man müßte wissen. Sooft ein Professor mir eine Wahrheit aufdringen wollte, lehnte ich mich mißtrauisch dagegen auf und sagte mir: »Entweder täuscht er sich oder mich.« Ihre Gedanken erbittern mich; mir scheint, die Wahrheit muß umfassender sein... Wie schön wäre es, sein ganzes Leben einem Werke zu widmen, in dem man sich bemühen würde, die Dinge, die Tiere, die Menschen, die ganze ungeheure Arche darzustellen! Keineswegs in der Ordnung der philosophischen Lehrbücher nach der blöden Rangordnung, in der unser Stolz sich gefällt; sondern im vollen Strom des allgemeinen Lebens, eine Welt, in der wir nur ein Zwischenfall wären, in welcher der vorüberlaufende Hund oder ein Stein am Wege uns vervollständigen, uns erklären würden; kurz, das große All ohne Hoch und Nieder, ohne Sauber und Unsauber, so wie es lebt und webt ... Sicherlich müssen Romanschreiber und Dichter sich an die Wissenschaft halten; sie ist heutzutage die einzige mögliche Quelle. Aber was sollen wir ihr entlehnen? Wie sollen wir mit ihr Schritt halten? Da fühle ich mich sogleich unsicher ... Wenn ich wüßte, wenn ich wüßte! Welche Reihe von Büchern würde ich der Menge an den Kopf schleudern!« Jetzt schwieg auch er. Im verflossenen Winter hatte er sein erstes Buch veröffentlicht, eine Anzahl liebenswürdiger Skizzen, die er aus Plassans geholt; unter ihnen hatten nur einige grellere Töne den Aufrührer, den leidenschaftlichen Forscher der Wahrheit und Kraft angedeutet. Seitdem tastete und suchte er und befragte sich, gequält von noch unklaren Gedanken, die in seinem Schädel sich jagten. In seinem Feuereifer für riesige Aufgaben hatte er anfänglich einen Plan der Entstehung des Alls in drei Zeiträumen gefaßt: die Schöpfung, nach den Ergebnissen der Wissenschaft dargestellt; die Geschichte der Menschheit, die zu ihrer Stunde kam, um in der Kette der Lebewesen ihre Rolle zu spielen; die Zukunft, die Wesen, die noch immer aufeinander folgten und durch die endlose Arbeit des Lebens die Schöpfung vollendeten. Allein angesichts der gar zu gewagten Annahmen dieses dritten Zeitraums hatte sein Feuereifer sich abgekühlt, und er suchte einen engeren, mehr menschlichen Rahmen, in dem er seinen hochstrebenden Ehrgeiz befriedigen wollte. »Ach ja, alles sehen und alles malen!« nahm Claude nach langer Pause wieder das Wort. »Meilenlange Mauern bedecken, die Bahnhöfe, Hallen, Häuser bemalen, alles was man baut, wenn die Baumeister nicht mehr Schafsköpfe sind. Man braucht nur einen gesunden Kopf und feste Muskeln, an Gegenständen wird es nicht fehlen ... Das Leben, wie es in den Straßen sich abspielt; das Leben der Armen und der Reichen auf den Märkten, Wettrennen, in den Anlagen, den volkreichen Gäßchen; und alle Handwerke in voller Bewegung und alle Leidenschaften in voller Tätigkeit, im hellen Tageslichte, und die Bauern, die Tiere, das Landleben! ... Man wird etwas sehen, man wird etwas sehen, wenn ich nicht ein Dummkopf bin! Es prickelt mir in den Händen. Ja, das ganze heutige Leben! Fresken so hoch wie das Pantheon! Eine Menge Leinwand, daß der Louvre auseinandergehen soll!« &&x Sooft sie beisammen waren – der Maler und der Schriftsteller – gerieten sie in eine solche Begeisterung; sie feuerten sich gegenseitig an in einer tollen Gier nach Ruhm; sie ergriff dabei ein so kühner Flug der Jugend, eine solche Leidenschaft der Arbeit, daß sie selbst hinterher über diese stolzen Träume lächelten, aber doch geschmeidiger und neugekräftigt daraus hervorgingen. Claude, der jetzt bis zur Wand zurückwich, lehnte sich an und blieb daselbst in Betrachtung versunken stehen. Ermattet durch die anstrengende Stellung verließ Sandoz das Sofa und stellte sich neben den Maler. Beide schauten abermals schweigend. Der Entwurf des Herrn in der Samtjacke war jetzt fertig; die Hand, besser ausgearbeitet als der Rest, gab in dem Grase ein sehr interessantes Bild ab, hübsch frisch in Ton; und der dunkle Fleck des Rückens hob sich so kräftig ab, daß die kleinen Schattenbilder im Hintergründe, die beiden Weiber, die in der Sonnenhelle sich balgten, in das leuchtende Leben der Waldeslichtung zurückgewichen schienen; während die große Figur, das nackt daliegende Weib, kaum angedeutet, noch immer schwebte wie ein traumhaftes Fleisch, wie eine ersehnte, erdengeborene Eva mit ihrem lächelnden Gesichte und ihren blicklosen Augen unter den geschlossenen Lidern. »Wie heißt das?« fragte Sandoz. » &&c=8 Freilicht! &&c=0 « erwiderte Claude kurz. Doch dieser Titel schien dem Schriftsteller zu technisch, der unwillkürlich manchmal versucht war, Literatur in die Malerei hineinzutragen. »Freilicht, das sagt nichts.« »Es braucht nichts zu sagen. Weiber und ein Mann ruhen in einem Walde im Sonnenlichte. Ist das nicht genug? Reicht das nicht hin, um ein Kunstwerk daraus zu machen?« Er warf den Kopf zurück und murmelte zwischen den Zähnen: »Zum Teufel, das Zeug ist noch immer schwarz! Der vertrackte {{Dela¬croix}} sitzt mir im Auge. Und die Hand: die hab' ich von {{Cour¬bet}} ... Wir alle sitzen in der romantischen Brühe; wir haben in unserer Jugend zuviel darin herumgepatscht und uns damit vollgemacht bis an den Hals. Es bedarf einer tüchtigen Wäsche, um uns davon zu befreien.« Sandoz zuckte verzweifelt die Achseln; auch er jammerte darüber, in der Strömung Hugos und Balzacs geboren zu sein. Claude blieb jedoch zufrieden in der glücklichen Erregung, die eine gelungene Sitzung in ihm hervorgerufen hatte. Wenn sein Freund ihm zwei oder drei ähnliche Sonntage widmen konnte, war der Herr auf dem Bilde fix und fertig. Für heute war's genug. Beide scherzten; denn gewöhnlich entließ er seine Modelle nicht eher, als bis sie völlig erschöpft, halbtot waren. Er selbst fiel beinahe zu Boden vor Ermüdung und Hunger. Da die Uhr eben fünf schlug, warf er sich auf das Stück Brot, das ihm geblieben war, und verschlang es. Er zerbröckelte es mit seinen zitternden Fingern und kaute es kaum; zu seinem Bilde zurückgekehrt, ward er wieder völlig von seinen Gedanken in Anspruch genommen, daß er gleichsam unbewußt aß. »Fünf Uhr«, sagte Sandoz und reckte die Arme. »Wir gehen essen ... Da ist auch Dubuche.« Es klopfte an die Tür, und Dubuche trat ein. Er war ein großer, brauner Junge mit vornehmem, aufgedunsenem Gesichte, glattem Haar und starkem Schnurrbart. Er schüttelte den Freunden die Hände und blieb mit betroffener Miene vor dem Bilde stehen. In der Gemessenheit seines Wesens, in der Achtung eines guten Schülers vor den feststehenden Formeln fühlte er sich durch diese regellose Malerei im Grunde abgestoßen, und nur seine Freundschaft hielt gewöhnlich sein Urteil zurück. Aber diesmal war sein ganzes Wesen sichtlich in Aufruhr. »Was denn? Das gefällt dir nicht?« fragte Sandoz, der ihn beobachtete. »Doch, doch; es ist sehr gut gemalt ... Allein ...« »Nun, heraus damit! Was ist dir nicht recht?« »Dieser angekleidete Herr da, mitten unter den nackten Frauen ... So etwas hat man nie gesehen.« Sogleich brachen die zwei anderen los. Gab es im Louvre nicht hundert Bilder ähnlicher Zusammenstellung? Und dann: wenn man ähnliches nie gesehen hat, wird man es jetzt sehen. Man kümmerte sich viel um das Publikum! Ohne sich durch das Erregte dieser Antwort aus der Fassung bringen zu lassen, wiederholte Dubuche ruhig: »Das Publikum wird nicht begreifen. Das Publikum wird es unanständig finden ... Ja, es ist unverständlich.« »Schmutziger Spießer!« rief Claude erbittert. »Sie[[1]] machen aus dir einen rechten Trottel in der Schule; du warst früher nicht so dumm.« Es war der gewöhnliche Scherz seiner zwei Freunde, seitdem er die Schule der schönen Künste besuchte. Angesichts der Heftigkeit, die der Streit annahm, ward er unruhig und trat den Rückzug an, nicht ohne über die Maler zu schimpfen. Ja, die Maler in seiner Schule waren wirkliche Tölpel, das konnte man mit Fug und Recht behaupten. Anders gestaltete sich die Frage in betreff der Architekten. Wo sollte er denn seine Studien machen? Er mußte schon diese Schule besuchen: aber das sollte ihn nicht hindern, seine eigenen Gedanken zu haben. Er nahm eine sehr umstürzlerische Haltung an. »Wenn du dich entschuldigst, ist ja alles gut«, sagte Sandoz. »Gehen wir essen.« Doch Claude hatte mechanisch einen Pinsel ergriffen und sich wieder an die Arbeit gemacht. Er fand jetzt, die weibliche Figur könne nicht neben dem Herrn in der Samtjacke bleiben. Nervös und ungeduldig malte er mit kräftigem Strich den Umriß der Figur, um sie an die Stelle zu legen, die sie einnehmen sollte. »Kommst du?« wiederholte sein Freund. »Sogleich, zum Teufel! ... Es ist doch nicht so eilig ... Laß mich das andeuten; dann gehen wir.« Sandoz schüttelte den Kopf. Dann sagte er in sanftem Tone, um den Freund nicht noch mehr zu erbittern: »Du tust unrecht, dich so zu verbeißen, mein lieber Kerl ... Du bist ermüdet, fällst beinahe um vor Hunger. Du wirst deine Arbeit wieder verderben wie neulich.« &&x Der Maler unterbrach ihn mit einer erregten Gebärde. Es war immer dieselbe Geschichte: er konnte nicht zur Zeit die Arbeit stehen lassen; er berauschte sich an der Arbeit in dem Bedürfnis, sogleich eine Gewißheit zu haben, sich den Beweis zu liefern, daß er endlich sein Meisterwerk festhalte. Quälende Zweifel erfaßten ihn wieder inmitten seiner Freude über die gelungene Sitzung; war es recht, die Samtjacke so kräftig hervorzuheben? Werde er den schimmernden Ton finden, den er für seine nackte Figur wollte? Er wäre lieber auf dem Fleck gestorben, als nicht sogleich zu wissen. Mit fieberhafter Gebärde zog er Christinens Kopf aus dem Karton hervor, wo er ihn verborgen hatte, und verglich, indem er sich auf diese nach der Natur aufgenommene Skizze stützte. »Schau!« rief Dubuche; »wo hast du das gezeichnet? Wer ist das?« Von dieser Frage betroffen, blieb Claude die Antwort schuldig; dann – ohne zu überlegen – log er, der ihnen sonst alles sagte; er gab dabei einem eigentümlichen Schamgefühl nach, der zarten Empfindung, sein Abenteuer für sich zu behalten. »Wer ist das?« wiederholte der Architekt. »Niemand, ein Modell.« »Wirklich, ein Modell? Noch ganz jung, nicht wahr? Sie[[1]] ist sehr hübsch ... Du solltest mir ihre Adresse geben; nicht für mich, sondern für einen Bildhauer, der eine Psyche sucht. Weißt du die Adresse?« Dubuche wandte sich nach einer Ecke der grauen Mauer, wo die Adressen von Modellen kreuz und quer durcheinander mit Kreide angeschrieben waren. Besondere die Weiber ließen da in großer, plumper Kinderschrift ihre Visitenkarte zurück. {{Zoé Piédefer}}, Feldstraße Nr. 7 war eine große Braune, deren Bauch zu verfallen begann; ihre Adresse ging über die der kleinen {{Flora Beauchamp}}, Lavalstraße 3a, hinweg, und die der {{Judith Vaquez}}, einer Jüdin, die in der Felsenstraße 69 wohnte; die beiden waren noch jung, aber zu mager. »Hast[[Besitz]] du die Adresse? sprich!« Da wurde Claude ärgerlich. »Laß mich in Frieden! Was weiß ich? Es ist ärgerlich, wie du die Leute immer in der Arbeit störst.« Sandoz hatte nichts gesagt; er war anfänglich erstaunt, dann lächelte er. Pfiffiger als Dubuche machte er diesem ein Zeichen des Einverständnisses, und sie begannen zu scherzen. Nicht so böse! Wenn der Herr sie für seinen eigenen Gebrauch behielt, verlangte man sie nicht geliehen. Ei, ei! der Bursche hielt sich schöne Mädchen! Wo hatte er sie gefunden? In einer Kneipe zu Montmartre oder auf einem Fußweg des {{Maubert}}-Platzes? Der Maler ward immer verlegener. »Mein Gott! wie dumm seid Ihr doch«, sagte er erregt... »Ihr habt mich genug gehänselt!« Seine Stimme war dermaßen verändert, daß die beiden sogleich schwiegen. Claude hatte inzwischen den Kopf der nackten Frau weggewischt und malte ihn jetzt neu nach dem Kopfe Christinens. Er malte mit erregter, unsicherer Hand. Dann nahm er die auf der Skizze kaum angedeutete Brust in Angriff. Seine Erregung nahm zu; es war die Leidenschaft eines Keuschen für das Fleisch eines Weibes, eine wahnsinnige Liebe für die ersehnten und niemals besessenen Nacktheiten, ein Unvermögen, sich zu befriedigen, von diesem Fleische soviel zu schaffen, wie er davon in seine leidenschaftlichen Arme zu schließen träumte. Die Mädchen, die er aus seinem Atelier verjagte, betete er in seinen Gemälden an; er herzte sie und vergewaltigte sie, bis zu Tränen verzweifelnd, weil er sie nicht schön genug, nicht lebendig genug machen konnte. »Zehn Minuten schenkt mir«, sagte er wiederholt. »Ich will für die morgige Arbeit die Schultern andeuten; dann gehen wir.« Sandoz und Dubuche fügten sich; sie wußten wohl, daß man ihn nicht hindern konnte, sich halbtot zu arbeiten. Der Architekt zündete sich eine Pfeife an und streckte sich auf dem Sofa aus; er allein rauchte, die beiden anderen hatten sich nicht an den Tabak gewöhnen können; eine starke Zigarre genügte, um Übelkeiten bei ihnen hervorzubringen. Als er auf dem Rücken dalag, die Blicke in dem Tabakqualm verloren, den er ausstieß, sprach er lange und eintönig von sich selbst. Dieses verwünschte Paris! Was müsse man sich da schinden, um zu einer Stellung zu gelangen! Er erwähnte seine fünfzehn Monate Lehrzeit bei seinem Meister, dem berühmten {{Dequer¬sonnière}}, der ehemals den Ehrenpreis der Akademie errungen, heute Zivilbaumeister, Offizier der Ehrenlegion, Mitglied des Instituts war, und dessen Hauptwerk die Sankt-Matthias-Kirche, ein Mittelding zwischen einer Pastetenschachtel und einer Stutzuhr im Stile des Kaiserreiches war. Es war übrigens ein wackerer Mann, und wenngleich Dubuche sich über ihn lustig machte, teilte er dennoch dessen Achtung vor den alten, klassischen Formeln. Wären übrigens die Kameraden nicht gewesen, er hätte wenig gelernt in ihrem Atelier in der Bäckerstraße, das der Meister nur dreimal wöchentlich in aller Eile besuchte. Es waren wilde Kerle, diese Kameraden, und sie hatten ihm anfänglich das Leben gar sauer gemacht; aber wenigstens hatte er von ihnen gelernt, wie ein Rahmen zusammenzusetzen, ein Grundriß zu zeichnen und zu tuschen sei. Wie oft hatte er sich zum Frühstück mit einer Tasse Schokolade und einem Brötchen begnügen müssen, um dem Ordner 25 Franken erlegen zu können! Und wie viele Blätter hatte er mühsam mit seinen Zeichnungen beschmiert, wie viele Stunden über Bücher hockend zugebracht, bevor er gewagt, sich in der Schule zur Aufnahme zu melden! Übrigens wäre er daselbst beinahe zurückgewiesen trotz seiner Anstrengungen eines tüchtigen Arbeiters; ihm fehlte die Erfindungsgabe; seine schriftliche Prüfungsarbeit – eine Karyatide und ein Sommerspeisesaal – wurde sehr mittelmäßig befunden und wies ihm einen Platz unter den letzten an; bei der mündlichen Prüfung verbesserte er sich dann allerdings seinen Platz durch seine Logarithmenberechnung, seinen geometrischen Musterriß und seine Geschichtsprüfung; denn in der Theorie war er gut beschlagen. Jetzt gehörte er endlich der zweiten Klasse der Schule an und mußte sich schinden, um sein Diplom als Ingenieur erster Klasse zu erringen. Welch' ein Hundeleben! Es wollte kein Ende nehmen! &&x Er spreizte die Beine auf dem Kissen des Sofas auseinander und rauchte noch stärker in regelmäßigen Zügen. »Ein Kurs in der Perspektive, ein Kurs in darstellender Geometrie, ein Kurs in der Stereotomie, ein Kurs in der Kunstgeschichte; welche Menge Papier hat man mit Notizen vollzuschmieren! Und jeden Monat eine Privatarbeit in der Architektur, bald eine einfache Skizze, bald ein Entwurf. Es bleibt einem wenig Zeit zu Vergnügungen, wenn man seine Prüfungen bestehen und die notwendigen ›Beschreibungen‹ erlangen will; besonders wenn man außerhalb dieser Arbeiten noch Zeit finden will, sein Brot zu verdienen ... Ich habe es satt, wahrhaftig! ...« Ein Kissen war zur Erde geglitten; er fischte es mit seinen Beinen wieder auf! »Immerhin habe ich Glück. Es gibt so viele Kameraden, die sich zu erhalten suchen und nichts finden können. Vorgestern habe ich einen Architekten entdeckt, der für einen großen Unternehmer arbeitet; man hat keine Vorstellung von dieser Unwissenheit! Ein rechter Pfuscher, nicht imstande, sich auf einem Riß zurechtzufinden. Er zahlt mir fünfundzwanzig {{Sous}} für die Stunde, und ich stelle ihm alle seine Häuser auf die Beine ... Das trifft sich sehr günstig, denn die Mutter hat mich wissen lassen, daß sie vollständig auf dem Trocknen sitzt. Arme Mutter, wieviel Geld habe ich ihr zurückzuerstatten!« Da er augenscheinlich mit sich selbst redete und seine täglichen Gedanken, seine ewige Sorge um schnelles Reichwerden wiederkaute, nahm sich Sandoz nicht die Mühe, ihm zuzuhören. Er hatte die kleine Dachluke geöffnet und sich an den Dachrand hingesetzt, weil er die im Atelier herrschende Hitze nachgerade unerträglich fand. Aber schließlich unterbrach er den Architekten mit einer Frage. »Kommst du am Donnerstag zu mir essen? ... Alle werden da sein, {{Fage¬rolles}}, {{Mahou¬deau}}, Jory, {{Gagnière}}.« Jeder Donnerstag versammelte bei Sandoz eine ganze Gesellschaft; die Kameraden aus Plassans und noch andere, die man in Paris kennen gelernt hatte; lauter Revolutionäre, alle von der nämlichen Leidenschaft für die Kunst beseelt. »Nächsten Donnerstag? Ich glaube kaum«, antwortete Dubuche. »Ich muß eine Familie besuchen, wo getanzt wird.« »Hoffst du dort eine Mitgift zu ergattern?« »Das wäre auch nicht so dumm!« Er klopfte seine Pfeife in der linken Hand aus; dabei rief er plötzlich: »Ei, ich hätte beinahe vergessen! ... Ich habe einen Brief von {{Pouillaud}} erhalten.« »Du auch! ... Dieser {{Pouillaud}} hat aber ein schlimmes Ende genommen!« »Warum denn? Er wird seinem Vater folgen und dort hinten ruhig sein Geld verzehren. Sein Brief ist sehr vernünftig; ich habe immer gesagt, daß er mit dem Aussehen eines Spaßvogels uns allen eine Lehre geben werde. Dieser Teufelskerl {{Pouillaud}}!« Sandoz wollte eben wütend antworten, als ein verzweifelter Fluch Claudes sie unterbrach. Dieser hatte, seitdem er sich wieder hartnäckig an die Arbeit gemacht, den Mund nicht mehr geöffnet und schien die anderen nicht mehr zu hören. »Herrgott, das ist wieder verfehlt! Ich bin entschieden ein Rindvieh und mache nie etwas Rechtes!« In einem Anfall toller Wut wollte er sich auf die Leinwand stürzen, um mit der Faust hindurchzufahren. Seine Freunde hielten ihn zurück. War das aber kindisch, ein solcher Zorn! Wäre er weiter gekommen mit der ewigen Reue im Herzen, sein Werk vernichtet zu haben? Doch er betrachtete noch immer zitternd, in düsteres Stillschweigen versunken, wortlos sein Gemälde mit einem starren, glühenden Blick, in dem die furchtbare Qual wegen seines Unvermögens brannte. Nichts Helles, nichts Lebendiges mehr kam unter seinen Fingern hervor; die Brust des Weibes ward klebrig unter schweren Tönen; er beschmutzte dieses angebetete Fleisch, das er sich schimmernd gedacht; es gelang ihm nicht einmal, es in die Gesichtsfläche zu bringen. Was hatte er denn im Schädel, daß er ihn dermaßen in nutzloser Anstrengung krachen hörte? War's ein Gebrechen seiner Augen, das ihn hinderte, richtig zu sehen? Gehörten seine Hände nicht mehr ihm, weil sie ihm den Gehorsam verweigerten? Er ergrimmte immer mehr und erboste sich gegen das ererbte, unbekannte Etwas, das Ihm zuweilen die künstlerisch schaffende Hand so glücklich führte, ein andermal hingegen ihn zum unvermögenden Tier machte in dem Maße, daß er die ersten Elemente des Zeichnens vergaß. Sein ganzes Wesen in einem ekelerregenden Schwindel kreisen zu fühlen und dennoch durch die Wut des Schaffens festgebannt zu sein, während alles um ihn her entfloh und entströmte, der Stolz der Arbeit, der erträumte Ruhm, die ganze Existenz! ... »Höre, Alter,« sagte Sandoz, »ich will dir keinen Vorwurf machen, aber es ist halb sieben Uhr, und du läßt uns Hungers sterben. Sei vernünftig und komm mit uns hinunter.« Claude reinigte soeben mit Essenz eine Ecke seiner Palette; er leerte neue Farbenröhren auf sie und antwortete mit einem einzigen Worte, einem donnernden, entschiedenen Nein! &&x Zehn Minuten lang herrschte vollkommenes Schweigen in dem Räume; der Maler kämpfte erbittert mit seiner Leinwand; die zwei anderen waren verlegen und bekümmert wegen dieser Krise, die sie nicht zu beschwichtigen wußten. Da klopfte es an die Tür, und der Architekt öffnete. »Schau, der Vater {{Mal¬gras}}!« Der Bilderhändler war ein dicker Mann mit einem alten, grünen, schmutzigen Rock, der ihm das Aussehen eines verlotterten Droschkenkutschers gab, mit seinen bürstenförmig geschnittenen grauen Haaren und seinem roten, blau gefleckten Gesichte. Er sagte mit einer von Branntwein heiseren Stimme: »Ich ging zufällig am Ufer vorüber, sah einen Herrn am Fenster und kam herauf ...« Er unterbrach sich angesichts des Schweigens des Malers, der mit einer erbitterten Gebärde sich wieder zu seinem Gemälde gewandt hatte. Im übrigen geriet er nicht in Verlegenheit, stand vielmehr ganz behaglich auf seinen festen Beinen da und prüfte mit seinen blutgesprenkelten Augen das unfertige Gemälde. Er beurteilte es ohne Zwang mit einem Satze, in dem Spott und Wohlgefallen zugleich sich ausdrückten: »Ei, ist das ein Zeug!« Da niemand antwortete, ging er mit kurzen Schritten im Atelier hin und her, wobei er die Wände musterte. Unter der dichten Schmutzkruste barg sich im Vater {{Mal¬gras}} ein sehr schlauer Mensch, der den Geschmack und die Witterung für gute Malerei besaß. Niemals verirrte er sich zu mittelmäßigen Farbenklecksern; er ging geradeswegs, instinktmäßig zu den Künstlern mit persönlicher Eigenart, zu solchen, die noch nicht anerkannt waren, deren große Zukunft er jedoch mit seiner Säufernase witterte. Dabei war er von einer grausamen Zähigkeit im Feilschen und von der Verschlagenheit eines Wilden, wenn es galt, zu niedrigem Preise ein Bild zu erlangen, das er begehrte. Dann aber begnügte er sich mit einem rechtschaffenen Gewinn, zwanzig Prozent, höchstens dreißig Prozent; denn sein Geschäft beruhte auf der schnellen Erneuerung seines kleinen Kapitals, er kaufte niemals am Morgen, ohne zu wissen, welchem seiner Kunstliebhaber er am Abend verkaufen werde. Übrigens log er mit verblüffender Keckheit. Vor den Studien aus dem Atelier {{Boutin}}, die neben der Tür hingen, blieb er stehen und beobachtete sie einige Augenblicke still, wobei die Augen ihm von dem Vergnügen des Kenners leuchteten, das er unter den schweren Augenlidern zu verbergen suchte. Welches Talent, welches Empfinden für das Leben bei diesem langen, halbnärrischen Jungen, der seine Zeit mit ungeheurer Leinwand verlor, die niemand wollte. Die schönen Beine des Mädchens, der wunderbare Bauch der Frauengestalt entzückten ihn ganz besonders. Aber das war nicht zu verkaufen, und schon hatte er seine Wahl getroffen, eine kleine Skizze – ein Stückchen Landschaft bei Plassans, kraftvoll und doch zart gemalt – die er gar nicht zu bemerken schien. Endlich näherte er sich und sagte nachlässig: »Was ist denn das da? Ach ja; eine Ihrer Geschichten aus dem Süden... Das ist zu roh; ich habe noch die zwei anderen zu Hause, die ich Ihnen abnahm.« Er fuhr in gedehntem Tone fort: »Sie[[1]] werden mir vielleicht nicht glauben, Herr Lautier, aber die Sachen sind nicht anzubringen. Ich habe ein Zimmer voll damit und kann mich nicht mehr umwenden aus Furcht, eines der Bilder durchzustoßen. Es geht so nicht weiter, auf Ehrenwort; ich werde liquidieren müssen und im Spital endigen... Sie[[1]] kennen mich, nicht wahr? Ich habe ein Herz größer als meine[[Besitz]] Tasche; ich verlange nichts sehnlicher, als begabte junge Leute Ihres Schlages zu verpflichten. Talent besitzen Sie[[1]]; ich höre nicht auf, es den Leuten zuzuschreien; aber sie beißen nicht an. Nein, sie beißen durchaus nicht an.« Er spielte den Beleidigten; dann aber rief er gleichsam in der Aufwallung eines Menschen, der im Begriff ist, eine Torheit zu begehen: »Ich will doch nicht umsonst gekommen sein. Was kostet diese Skizze?« Claude malte mit gereizter, nervös zuckender Hand und erwiderte trocken, ohne den Kopf zu wenden: »Zwanzig Franken.« »Wie? Zwanzig Franken? Sie[[1]] sind von Sinnen! Die anderen haben Sie[[1]] mir für je zehn Franken verkauft ... Heute werde ich nur acht Franken geben, nicht einen {{Sou}} mehr!« Gewöhnlich gab der Maler sogleich nach, beschämt und verdrossen wegen dieses erbärmlichen Gezänks, im Grunde recht froh, etwas Geld zu erhalten. Diesmal versteifte er sich jedoch, schrie dem Bilderhändler Beschimpfungen ins Gesicht, der seinerseits ihn zu duzen begann, ihm alles Talent absprach, mit Schmähungen überhäufte, einen undankbaren Sohn nannte. Schließlich zog der Alte drei Fünffrankenstücke – eins nach dem andern – aus der Tasche und schleuderte sie von weitem, wie Wurfsteine, auf den Tisch, wo sie zwischen den Tellern niederfielen. »Eins, zwei, drei! ... Nicht eins mehr, hörst du? Es ist schon eins zuviel, und du sollst es mir entgelten, ich bringe es dir ein andermal in Abzug! Fünfzehn Franken! Du tust unrecht, mein Junge; du spielst mir einen häßlichen Streich, den du bereuen wirst.« Claude war erschöpft und ließ ihn das Bildchen von der Wand nehmen. Es verschwand – wie hinweggezaubert – in dem großen, grünen Überrock. War es in eine besondere Tasche geglitten? Lag es unter dem Ärmelaufschlag? Es verriet sich durch keinerlei Erhöhung am Rocke. Nachdem er sein Geschäftchen gemacht, lenkte Vater {{Mal¬gras}} plötzlich besänftigt seine Schritte nach der Tür. Doch er besann sich eines andern, kam zurück und sagte, seine gutmütige Miene aufsteckend: »Hören Sie[[1]] mal, {{Lantier}}, ich brauche einen Hummer ... Sie[[1]] sind es mir schuldig, nachdem sie mich so gestriegelt haben ... Ich bringe Ihnen den Hummer, und Sie[[1]] malen mir das Tierstück. Für Ihre Mühe dürfen Sie[[1]] den Hummer behalten und mit Ihren Freunden verzehren ... Abgemacht, nicht wahr?« Sandoz und Dubuche, die bisher neugierig zugehört hatten, brachen bei diesem Vorschlage in ein so lautes Gelächter aus, daß selbst der Bilderhändler von der Heiterkeit angesteckt wurde. Diese Tölpel von Malern brächten nichts Rechtes fertig und nagten daher am Hungertuch, meinte er. Was wäre aus den vertrackten Müßiggängern geworden, wenn nicht der Vater {{Mal¬gras}} ihnen von Zeit zu Zeit eine schöne Hammelkeule, einen frischen Butt oder einen Hummer mit seinem Sträußchen Petersilie gebracht hätte? »Also, ich bekomme meinen[[Besitz]] Hummer, nicht wahr, {{Lantier}}? Schönen Dank!« Abermals blieb er vor der Skizze des großen Bildes stehen und betrachtete es mit seinem Lächeln spöttischer Bewunderung. Endlich ging er, während er wiederholte: »Ist das aber ein Zeug!« Claude wollte wieder nach Pinsel und Palette greifen; allein seine Beine knickten ein, seine Arme fielen schlaff herab, wie durch eine höhere Gewalt an seinen Körper gebunden. In der tiefen, dumpfen Stille, die nach dem Streit mit {{Mal¬gras}} eingetreten, wankte er geblendet, irre vor seinem unförmigen Werke. »Ach, ich kann nicht mehr! Ich kann nicht mehr!« stammelte er. »Das Schwein hat mir den Rest gegeben.« &&x Die Kuckucksuhr hatte soeben sieben geschlagen. Er hatte geschlagene acht Stunden gearbeitet, ohne etwas anderes zu essen als seine Brotrinde, ohne eine Minute auszuruhen, immer aufrecht, vom Fieber geschüttelt. Jetzt ging die Sonne unter, ein Schatten begann das Atelier zu verdunkeln, in dem dieser Abend beklemmend trostlos war. Wenn das Licht so über eine Krise verfehlter Arbeit hinwegschwand, war es, als solle die Sonne nie wieder erscheinen, nachdem sie das Leben, die singende Heiterkeit der Farben mitgenommen. »Komm!« bat Sandoz mit der Zärtlichkeit eines mitleidigen Bruders. »Komm, mein Alter.« Dubuche setzte hinzu: »Morgen siehst du besser. Komm essen.« Einen Augenblick zögerte Claude noch. Wie am Boden festgenagelt stand er da in wildem Eigensinn, taub für ihre Freundesstimmen. Was wollte er denn jetzt anfangen, da seine steifen Finger den Pinsel nicht mehr halten konnten? Er wußte es nicht; aber wenn er auch nicht mehr konnte, ihn verzehrte ein wildes Verlangen, dennoch zu können, dennoch zu schaffen. Wenn er nichts tat, konnte er wenigstens da bleiben, nicht vom Platze weichen. Dann entschloß er sich; ein Frösteln durchzuckte seinen Körper wie ein langes Schluchzen. Er hatte ein Messer mit breiter Klinge ergriffen und kratzte mit einem einzigen Zuge langsam und gründlich über den Kopf und die Brust des Weibes. Es war ein rechter Mord, eine Zerstörung: alles verschwand in einer schmutzigen Jauche. Neben dem Herrn in der kräftigen Samtjacke, mitten in dem glänzenden Grün, wo die zwei Weiber sich balgten, fand sich von diesem nackten Weibe ohne Brust und ohne Kopf nichts als ein verstümmelter Rumpf, der verschwommene Fleck einer Leiche, ein traumhaftes, totes Fleisch. Sandoz und Dubuche stiegen bereits geräuschvoll die hölzerne Stiege hinab. Claude folgte ihnen, floh von seinem Werke mit einem furchtbaren Leid darüber, es mit seiner klaffenden Wunde zurückzulassen. &&x &&ns &&am &&g="Drittes_Kapitel." &&fa Drittes Kapitel. &&fe &&ax &&lg=x Der Wochenbeginn war verhängnisvoll für Claude. Er war in einen jener Zweifel verfallen, die ihn die Malerei verabscheuen ließen mit dem Abscheu einer verratenen Seele; er überhäufte die Treulose mit Schmähungen und war doch gepeinigt von dem Bedürfnisse, sie noch mehr anzubeten. Am Donnerstag ging er nach drei furchtbaren Tagen vergeblichen, einsamen Ringens schon um acht Uhr aus, warf heftig die Tür zu, dermaßen angewidert von sich selbst, daß er schwur, nie wieder einen Pinsel anzurühren. Wenn eine dieser Krisen ihn aus dem Geleise schleuderte, gab es für ihn nur ein Heilmittel: sich vergessen, mit Kameraden Händel suchen und vor allem gehen, Paris durchstreifen, bis die Hitze und der Kampfesgeruch des Pflasters ihm wieder Mut machten. Heute speiste er wie jeden Donnerstag bei Sandoz, wo es Gesellschaft gab. Aber was sollte er bis zum Abend anfangen? Der Gedanke, allein zu bleiben und sich in Gram zu verzehren, stürzte ihn in Verzweiflung. Er wäre sogleich zu seinem Freunde geeilt, wenn er nicht gewußt hätte, daß dieser noch in seinem Amtsbureau sei. Dann dachte er an Dubuche und zögerte, denn ihre alte Kameradschaft war seit einiger Zeit abgekühlt. Er vermißte in ihren Beziehungen jene Brüderlichkeit, die in Stunden nervöser Aufregungen sich bewährt; er fand ihn verständnislos, von einer dumpfen Feindseligkeit, anderen Bestrebungen nachhängend. Aber an welche Tür sollte er klopfen? Er entschloß sich dennoch, ging nach der Jakobstraße, wo der Architekt ein schmales Stübchen im sechsten Stockwerk eines großen Hauses von nüchternem Aussehen bewohnte. Claude war schon im zweiten Stockwerk, als die Hausmeisterin ihn zurückrief und ihm in verdrossenem Tone nachschrie, Herr Dubuche sei nicht zu Hause und habe auch nicht zu Hause geschlafen. Langsam ging er wieder auf die Straße, verblüfft durch das ungeheuerliche Ereignis, daß Dubuche vom Pfade der Tugend abgewichen. Es war ein unglaubliches Mißgeschick. Einen Augenblick irrte er planlos umher; doch als er an der Ecke der {{Seine}}-Straße stehen blieb und nicht wußte, nach welcher Seite er sich wenden solle, erinnerte er sich plötzlich, was sein Freund ihm erzählt hatte: er habe einmal eine Nacht im Atelier {{Doquer¬sonnière}} zugebracht, eine letzte Nacht in furchtbarer Arbeit verbracht vor dem Tage, an dem die Schüler ihre Preisentwürfe in der Schule der schönen Künste einreichen mußten. Sogleich ging er nach der Bäckerstraße, wo das Atelier lag. Bisher hatte er es vermieden, Dubuche dort abzuholen; er scheute die höhnischen Zurufe, mit denen man die Laien daselbst empfing. Aber jetzt ging er mutig hin; seine Schüchternheit wich der Angst, allein zu sein, in dem Maße, daß er sich bereit fühlte, die Beschimpfungen zu ertragen, um einen Gefährten seines Elends zu haben. An der schmalsten Stelle der Bäckerstraße lag das Atelier im Hintergrunde eines alten, wurmstichigen Gebäudes. Man mußte zwei stinkende Höfe durchschreiten, um einen dritten zu erreichen, in dem eine Art geschlossene Scheuer querüber stand, ein geräumiger Saal, aus Brettern mit einem Mörtelanwurf aufgeführt, wo früher ein Ballenbinder gehaust hatte. Von außen sah man durch die vier großen Fenster, deren Scheiben mit Bleiweiß beschmiert waren, die kahle, mit Kalk geweißte Saaldecke. Als Claude die Tür aufgestoßen hatte, blieb er unbeweglich auf der Schwelle stehen. Da lag der weite Saal mit seinen wagerecht zu den Fenstern aufgestellten vier Tischen, sehr breiten Doppeltischen, auf beiden Seiten mit langen Reihen Schülern besetzt mit nassen Schwämmen, Farbentöpfchen, Wassergefäßen, eisernen Leuchtern, hölzernen Kästen, in den die Schüler ihre weißen Leinenblusen, ihre Kompasse und Farben verschlossen. In einem Winkel rostete der seit dem letzten Winter hier vergessene Ofen neben einem Rest von Koks, den man nicht einmal zusammengekehrt hatte, während am andern Ende ein großes Waschbecken von Zink zwischen zwei Handtüchern an der Wand hing. Inmitten dieser Kahlheit einer verwahrlosten Halle zogen besonders die Wände die Aufmerksamkeit auf sich; es befand sich längs derselben in der Höhe auf Brettergestellen ein buntes Durcheinander von Abgüssen, während die Wände tiefer unten unter einem Walde von {{T's}}, Winkelmaßen und Zeichenbrettern verschwanden, die durch Bänder zusammengehalten wurden. Nach und nach hatten alle frei gebliebenen Teile der Wände sich mit Inschriften und Zeichnungen bedeckt, mit einem immer höher steigenden Schaum, hingeworfen wie auf die Seitenränder eines stets offenen Buches. Es waren Aufträge von Kameraden, Abbildungen von anstößigen Gegenständen, einzelne Worte von solcher Roheit, daß Gendarmen darüber erblaßt wären, dann Sprüche, Rechnungen, Adressen; und alles überragt von einer in großen Buchstaben hingeschriebenen lakonischen Zeile, die den schönsten Platz einnahm und lautete; »Am 7. Juni sagte {{Gorju}}, daß er auf den Ehrenpreis pfeife. Gezeichnet: {{Godemard}}.« Ein Grunzen empfing den Maler, das Grunzen von wilden Tieren, die in ihrer Höhle gestört werden. Was ihn auf der Schwelle festbannte, war der Anblick dieses Saales am Morgen nach der »Abfuhrnacht«, wie die Architekten diese letzte Nacht der Arbeit nennen. Seit gestern waren sämtliche Schüler des Ateliers, sechzig an der Zahl, hier eingeschlossen; denn die »Neger«, das sind jene, die keine Preisarbeit einzureichen hatten, halfen den anderen, die im Rückstande waren und in zwölf Stunden die Arbeit von acht Tagen verrichten mußten. Um Mitternacht hatte man sich mit Wurst und Rotwein gütlich getan. Gegen ein Uhr hatte man – zum Nachtisch – drei Damen aus einem Nachbarhause kommen lassen. Ohne in der Arbeit inne zu halten, veranstaltete man eine römische Orgie, eingehüllt in dichten Tabakrauch. Der Fußboden war bedeckt mit fettigem Papier, zerbrochenen Flaschen und verdächtigen Pfützen, welche die Dielen langsam einsogen, während die Luft noch von den schweren Gerüchen der in den eisernen Leuchtern zerfließenden Kerzen, des Moschus der Damen, der Würste und des Rotweines durchzogen war. »Hinaus!« riefen einige wütende Stimmen. »Ei, ist das ein Maul! ... Was will denn der ausgestopfte Kerl? Hinaus! Hinaus!« &&x Dieser ungastliche Empfang betäubte Claude einen Augenblick, so daß er zurückwankte. Man war sehr bald bei abscheulichen Worten angelangt, denn die hohe Eleganz bestand – selbst für die vornehmsten Naturen – darin, in Unflätigkeiten zu wetteifern. Doch er faßte sich und war im Begriff zu antworten, als Dubuche ihn erkannte. Dieser ward sehr rot, denn er verabscheute ähnliche Abenteuer. Er schämte sich vor seinem Freunde und eilte unter den beschimpfenden Zurufen der Kameraden hin, die sich jetzt gegen ihn kehrten. »Wie, du bist's?« stammelte er. »Sagte ich dir nicht, daß du hier nie eintreten sollst? ... Erwarte mich im Hofe, ich komme sogleich.« Claude wich zurück und wäre in diesem Augenblick beinahe von einem Handkarren mit Gabeldeichsel niedergerannt worden, den zwei bärtige Jungen im Galopp herbeiführten. Von diesem Karren erhielt die Arbeitsnacht den Namen »Ausfuhrnacht«. Durch die untergeordneten Arbeiten aufgehalten, die sie, um etwas Geld zu verdienen, außerhalb des Ateliers verrichteten, wiederholten die Schüler seit acht Tagen: »Ach, wie tief stecke ich im Karren!« was soviel hieß, daß sie stark im Rückstande seien. Als der Karren erschien, erhob sich ein allgemeines Geschrei. Es war drei Viertel auf neun Uhr, knapp die Stunde, um rechtzeitig in der Schule einzutreffen. Der Saal leerte sich in einem wirren Durcheinander; unter großem Gedränge holten alle ihre Rahmen hervor; wer durchaus noch eine Einzelheit zu Ende bringen wollte, wurde gestoßen und fortgedrängt. In weniger als fünf Minuten waren alle Rahmen in dem Karren angehäuft, und die zwei bärtigen Jungen, die jüngsten Zöglinge des Ateliers, spannten sich ein wie Pferde und zogen das Gefährt im Laufschritt an, während die anderen unter lautem Geschrei hinten nachschoben. Es war wie der Bruch einer Schleuse; mit dem Getöse eines reißenden Stromes ging es durch die beiden Höfe und auf die Straße hinaus, die von dieser heulenden Menge völlig überschwemmt wurde. Claude lief neben Dubuche her, der zuletzt kam und sehr verdrossen war, weil er nicht noch ein Viertelstündchen gehabt, um eine Tuschzeichnung sorgfältiger auszuarbeiten. »Was machst du nachher?« »Ich habe Gänge für den ganzen Tag.« Der Maler war trostlos, als er auch diesen Freund ihm entkommen sah. »Gut, ich gehe ... Bist du heut abend bei Sandoz zum Essen?« »Ja, ich glaube, wenn ich nicht anderswo zum Essen zurückgehalten werde.« Die beiden gerieten bald außer Atem. Die Schar hatte, ohne den Gang zu verlangsamen, ihren Weg fortgesetzt, um die Stadt noch länger mit ihrem Getümmel zu erfüllen. Nachdem sie durch die Bäckerstraße gestürmt war, durchquerte sie den {{Gozlin¬platz}} und warf sich in die Brandstraße. Der von vorn gezogene, rückwärts geschobene Gabelkarren hüpfte auf dem holperigen Straßenpflaster, wobei die Rahmen, mit denen er gefüllt war, einen tollen Tanz aufführten. Die Schüler galoppierten hinterdrein und zwangen die Vorübergehenden, sich an die Häuser zu drücken, wenn sie nicht umgeworfen werden wollten; die Kaufleute erschienen erschreckt in den Türen, sie meinten, eine Revolution sei ausgebrochen. Das ganze Stadtviertel war in Aufruhr. In der Jakobstraße ward das Geschrei und Getümmel so arg, daß die Fensterläden geschlossen wurden. In der Bonapartestraße machte ein großer Blonder sich den Spaß, eine Magd, die verblüfft auf dem Fußweg gestanden, zu ergreifen und mitzuschleppen. Ein Strohhalm in einem Gießbach. »Nun denn, lebe wohl!« sagte Claude. »Auf heut' abend!« »Ja, auf heut' abend!« Außer Atem war der Maler an der Ecke der Straße der Schönen Künste stehen geblieben. Der Hof der Schule war weit offen, und der ganze tolle Zug verschwand darin. Nachdem er einen Augenblick sich verschnauft, kehrte Claude nach der {{Seine}}-Straße zurück. Er hatte Pech: es stand geschrieben, daß er heute keinen Kameraden finden sollte. Er ging die Straße hinauf und wanderte langsam ohne ein bestimmtes Ziel bis zum Pantheon-Platze. Dann dachte er, er könne immerhin ins Verwaltungsgebäude eintreten, um Sandoz guten Tag zu sagen. Damit wären auch zehn Minuten hingegangen. Doch zu seiner Verwunderung mußte er erfahren, daß Sandoz wegen eines Leichenbegängnisses einen Tag Urlaub verlangt habe. Er kannte die Geschichte; sein Freund schützte jedesmal diesen Grund vor, wenn er einen ruhigen Arbeitstag zu Hause zubringen wollte. Schon nahm er seine Richtung nach Sandoz' Wohnung, als ein Gefühl des Freundes und Künstlers, das Bedenken des ehrlichen Arbeiters ihn zurückhielt: es war ein Verbrechen, einen guten Freund zu stören, die Mutlosigkeit über eine widerspenstige Arbeit ihm ins Haus zu tragen, während er tüchtig am eigenen Werke war. Claude mußte sich in sein Schicksal fügen. Er schleppte seine düstere Verdrießlichkeit bis Mittag an den Ufern herum; dabei war ihm der Kopf so schwer und summte ihm dermaßen von dem unablässigen Gedanken an seine Unfähigkeit, daß er die geliebten Horizonte der {{Seine}} nur wie in einem Nebel sah. Endlich befand er sich wieder in der Straße der Frau ohne Kopf; dort frühstückte er in der Weinstube des {{Gomard}}, dessen Aushängeschild »zum Hund von {{Mon¬tar¬gis}}« ihn interessierte. Alle Tische waren mit Maurern in mörtelbespritzten Blusen besetzt; gleich ihnen und mit ihnen aß er ein »ordinäres« Frühstück für acht {{Sous}}, bestehend aus einer Tasse Fleischbrühe, in die er sein Brot brockte, und aus einem Stück gekochten Rindfleisches mit Bohnen, das in einem noch vom Abwaschen feuchten Teller aufgetragen wurde. Das war noch zu gut für einen Kerl, der von seinem Beruf nichts verstand; wenn er eine Studie verfehlt hatte, härmte er sich in solcher Weise, setzte sich herab, tiefer als die Handlanger, deren kräftige Arme wenigstens ihre Arbeit verrichteten. Eine Stunde verweilte er da ganz dumm von den Gesprächen an den benachbarten Tischen. Draußen nahm er wieder seine langsame, ziellose Wanderung auf. &&x Auf dem Rathausplatze kam ihm ein Gedanke, der ihn die Schritte beschleunigen ließ. Warum hatte er nicht an {{Fage¬rolles}} gedacht? {{Fage¬rolles}}, obgleich Zögling der Schule der Schönen Künste, war ein angenehmer Mensch von heiterer Gemütsart und gar nicht dumm. Man konnte mit ihm plaudern, selbst wenn er die schlechte Malerei verteidigte. Wenn {{Fage¬rolles}} bei seinem Vater in der alten Templestraße gefrühstückt hatte, traf er ihn dort sicherlich noch an. Als Claude die enge Gasse betrat, hatte er ein Gefühl der Kühle. Der Tag ward sehr heiß, und eine Feuchtigkeit stieg von dem Pflaster auf, das trotz des klaren Himmels unter dem fortwährenden Hin und Wider der Vorübergehenden feucht und klebrig blieb. Jeden Augenblick zwangen ihn Handkarren und Möbelwagen auszuweichen, wenn das Gedränge auf dem Fußweg ihn genötigt hatte, diesen zu verlassen. Trotzdem fand er Gefallen an dem Treiben in dieser Straße mit der regellosen Zeile ihrer Häuser, deren platte Vorderseiten bis zu den Dachrinnen mit Schildern in allen Farben bedeckt waren, und hinter deren kleinen Fenstern alle häuslichen Gewerbe von Paris betrieben wurden. An der engsten Stelle der Gasse fesselte ein Zeitungsladen seine Aufmerksamkeit: zwischen einem Barbier und einem Kaldaunenhändler befand sich eine Auslage von albernen Stichen, rührselige Lieder, untermischt mit Unflätigkeiten aus dem Kasernenleben. Vor den Bildern stand traumverloren ein langer, blasser Bursche, während hinter ihm zwei halbwüchsige Mädchen einander lachend in die Seiten stießen. Claude fühlte sich versucht, alle drei zu ohrfeigen; doch er schritt quer über die Straße, denn das Haus der {{Fage¬rolles}} lag gerade gegenüber; es war ein altes, finsteres Haus, gegen die anderen vorspringend, über und über mit Schmutz bespritzt. Eben kam ein Omnibus heran; und er hatte gerade noch knapp Zeit, auf den Fußweg zu springen, der sich hier zu einem schmalen Saum verengte; die Räder streiften ihm fast die Brust, und er ward bis zu den Knien vollgespritzt. {{Fage¬rolles}} Vater, Fabrikant in Kunstzinkgegenständen, hatte im Erdgeschosse seine Werkstätten; um im ersten Stockwerk die zwei gut beleuchteten Zimmer nach der Straße seinen Musterniederlagen zu überlassen, bewohnte er eine kleine, finstere Hofwohnung, die dumpf wie ein Keller war. Hier war sein Sohn Heinrich aufgewachsen, eine wahre Pflanze des Pariser Pflasters, am Rande dieses von den Wagenrädern weggeschliffenen, von der Gosse befeuchteten Fußweges, dem Bilderladen, dem Barbier und den Kaldaunenhändler gegenüber. Anfänglich hatte sein Vater einen Ornamentenzeichner für seinen persönlichen Gebrauch aus ihm gemacht. Als später in dem Jungen ein höher strebender Ehrgeiz erwachte und er Malerei zu treiben, von der Schule der Schönen Künste zu reden begann, gab es Streitigkeiten, Maulschellen, eine Reihe von Zerwürfnissen und Wiederversöhnungen. Heute noch, obgleich Heinrich schon mehrere Erfolge errungen, ward er von seinem Vater – der ihm wohl seine Freiheit ließ – hart behandelt wie ein Junge, der seinen Lebensweg verfehlt hat. Claude schüttelte, so gut es ging, den Straßenschmutz von seinen Schuhen und trat unter die Toreinfahrt, ein tiefes Gewölbe, das sich auf einen schlecht beleuchteten Hof öffnete, wo es widrig und schimmelig roch wie in der Tiefe eines Brunnens. Unter einem Schutzdache lag ganz frei der Zugang zu einer breiten Treppe mit einem alten, rostzerfressenen Eisengeländer. Als der Maler im ersten Stockwerke an den Niederlagen vorüberkam, bemerkte er durch eine Glastür Herrn {{Fage¬rolles}}, der seine Modelle besichtigte. Um höflich zu sein, trat er ein, wenngleich sein künstlerischer Sinn sich abgestoßen fühlte durch alle diese bronzefarben angestrichenen Gegenstände, durch all den abscheulichen, trügerischen nachgemachten Kram. »Guten Tag ... Ist Heinrich noch da?« Der Fabrikant, ein dicker, bleicher Mann, richtete sich auf unter seinen Blumenbehältern, Kannen und Statuetten. Er hielt ein neues Thermometermodell in der Hand; es stellte eine hockende Gauklerin dar, welche die leichte Glasröhre auf der Nasenspitze trug. »Heinrich ist nicht zum Frühstück gekommen«, antwortete er trocken. Dieser Empfang verwirrte den jungen Mann. »Er ist nicht gekommen! ... Verzeihen Sie[[1]]! Guten Abend!« »Guten Abend!« Auf der Straße murmelte Claude einen Fluch. Das Mißgeschick war vollständig, auch {{Fage¬rolles}} entkam ihm. Er zürnte jetzt sich selbst, weil er gekommen war und sich für diese alte, malerische Gasse interessiert hatte, wütend über den krankhaften Hang zum Romantischen, der wider seinen Willen in ihm hervorbrach; das war vielleicht seine Krankheit, der falsche Gedanke, dessen Querbalken er zuweilen in seinem Schädel fühlte. Als er wieder nach den Ufern zurückgekehrt war, kam ihm der Gedanke heimzukehren, um sein Bild zu betrachten, ob es wirklich so schlecht sei. Allein ein Zittern schüttelte ihn bei diesem Gedanken. Sein Atelier schien ihm ein Schreckensort, wo er nicht mehr leben konnte, als habe er dort den Leichnam einer toten Liebe zurückgelassen. Nein, nein; die drei Treppen emporzusteigen, die Tür zu öffnen und sich angesichts dieses Bildes einzuschließen: dazu fehlte ihm die Kraft und der Mut. Er ging über die {{Seine}} und die ganze Jakobstraße entlang. Umso schlimmer, er war zu unglücklich; er begab sich nach der Höllenstraße, um Sandoz aufzusuchen. &&x Die kleine Wohnung im vierten Stockwerke bestand aus einem Speisezimmer, einem Schlafzimmer und einer Küche; diese Räume hatte Sandoz inne, während seine Mutter, eine Dame mit gelähmten Beinen, auf der andern Seite des Treppenabsatzes ein Zimmer bewohnte, wo sie in Einsamkeit und in ihrem vergrämten Eigensinn dahinlebte. Die Straße war verödet; die Fenster gingen auf den weiten Garten der Taubstummenanstalt, den die runde Krone eines großen Baumes und der viereckige Turm der Jakobskirche beherrschten. Claude fand Sandoz in seinem Zimmer, über seinem Arbeitstisch gebeugt, in das Studium eines beschriebenen Blattes versunken. »Störe ich dich?« »Nein; ich arbeite seit dem Morgen und habe genug ... Seit einer Stunde plage ich mich damit, einen schlecht geformten Satz umzumodeln; der Verdruß darüber hat mir mein Frühstück verdorben.« Der Maler machte eine Gebärde der Verzweiflung. Als Sandoz ihn in so trauriger Stimmung sah, begriff er. »Bei dir will es nicht vorwärts, wie? ... Komm, laß uns einen tüchtigen Spaziergang machen, um uns die Glieder einzurenken. Willst du?« Doch als er bei der Küche vorüberkam, hielt eine alte Frau ihn zurück. Es war seine Haushälterin, die gewöhnlich zwei Stunden des Morgens und zwei Stunden des Abends in seiner Wirtschaft zubrachte und nur am Donnerstag den ganzen Nachmittag blieb, um das Abendessen zu bereiten. »Also, es bleibt dabei: ein Rochen und eine Hammelkeule mit Kartoffeln?« fragte sie. »Ja, bitte.« »Wieviel Gedecke soll ich auflegen?« »Das kann man nie wissen. Legen Sie[[1]] immerhin fünf auf; wir werden sehen. Bereiten Sie[[1]] das Essen für sieben Uhr; wir werden sehen, daß wir zur Stelle sind.« Auf dem Treppenflur schlüpfte Sandoz zu seiner Mutter, während Claude einen Augenblick wartete. Als der junge Mann mit denselben leisen, vorsichtigen Schritten wieder aus dem Zimmer seiner Mutter gekommen war, stiegen die beiden Freunde schweigend hinunter. Auf der Straße witterten sie nach rechts und nach links, wie um die Windrichtung zu erkennen; schließlich gingen sie wieder die Straße hinauf, erreichten den Sternwartenplatz und betraten die Montparnaßanlagen. Das war ihr gewöhnlicher Spazierweg; sie kamen immer wieder dahin, denn sie liebten diese breit sich hinziehenden äußeren Promenaden, wo sie nach Herzenslust sich ergehen konnten. Sie[[1]] sprachen noch immer nicht; der Kopf war ihnen noch schwer, und sie heiterten sich nur allmählich auf, wie sie so zusammen dahinwanderten. Vor dem Westbahnhofe erst hatte Sandoz einen Einfall. »Wie wär's, wenn wir zu {{Mahou¬deau}} gingen, um zu sehen, wie weit er mit seiner großen Maschine ist? Ich weiß, daß er heute seine Heiligen im Stich gelassen hat.« »Ganz recht; gehen wir zu {{Mahou¬deau}}.« Sie[[1]] lenkten ihre Schritte sogleich nach der Mittagsstraße. Der Bildhauer {{Mahou¬deau}} hatte hier wenige Schritte von der Promenade den Laden einer zugrunde gegangenen Obsthändlerin gemietet und – nachdem er einfach die Scheiben der Tür mit einer Lage Kreide bestrichen – sich daselbst eingerichtet. An dieser breiten und verlassenen Stelle ist die Straße von einer kleinstädtischen Gemütlichkeit mit einem Zug kirchlicher Stille. Die Haustore standen weit offen und gestatteten einen Einblick in die sehr tiefen Höfe; da war eine Meierei, die weithin den warmen Hauch der Streu verbreitete; weiterhin ein Kloster mit endlos langer Mauer. Zwischen diesem Kloster und einer Kräuterhandlung lag das Atelier, vor dem noch immer die Aushängeschilder des früheren Ladens hingen mit den in plumpen, gelben Buchstaben gemalten Worten: &&c=8 Obst und Gemüse. &&c=0 Auf dem Fußsteige spielte eine Schar reifenspringender kleiner Mädchen, die den beiden Freunden beinahe die Augen ausstießen. Vor einzelnen Häusern saßen ganze Familien; ihre Stuhlbarrikaden nötigten Sandoz und Claude, auf den Fahrdamm abzubiegen. Indes langten sie an ihrem Ziele an, als der Anblick der Kräuterhandlung sie einen Augenblick festhielt. Zwischen den zwei Schaukästen, die mit Spritzen, Verbandzeug, mit allerlei Gegenständen zu eigenster Benutzung gefüllt waren, stand in der Tür – mitten unter getrockneten Kräutern, die fortwährend einen würzigen Duft ausströmen ließen – ein mageres, braunes Weib, das die beiden jungen Leute betrachtete, während hinter ihr im Schatten das verschwommene, bleiche Gesicht eines kleinen Mannes auftauchte, der langsam seine Lunge ausspie. Sie[[1]] stießen einander mit den Ellbogen an, die Augen von einem spaßigen Lächeln erheitert. Dann drehten sie die Türklinke zur Wohnung {{Mahou¬deaus}}. &&x Der ziemlich große Laden war fast ganz angefüllt von einem Tonklumpen, einer kolossalen, auf einen Felsen zurückgelehnten Bacchantin. Die Pfosten, die sie stützten, bogen sich unter der Wucht dieser noch unförmigen Masse, an der man noch nichts unterscheiden konnte als Riesenbrüste und Schenkel, die Türmen glichen. Wasser war abgeflossen; mit Lehm beschmierte Zuber standen herum; in einem Winkel lag ein schmutziger Haufen Gips, während auf den Brettern, welche die Obsthändlerin zurückgelassen, Modelle von Antiken in regellosem Durcheinander sich allmählich mit einer feinen Staubhülle belegten. Eine Feuchtigkeit wie in einem Waschhause, ein fader Lehmgeruch stieg vom Boden auf. Diese Armseligkeit der Bildhauerateliers, dieser Schmutz des Berufes drängte sich noch mehr auf in dem fahlen Lichte, das durch die beschmierten Glasscheiben der Tür hereinfiel. »Ihr seid es!« rief {{Mahou¬deau}}, der seine Pfeife rauchend vor dem Tongebilde saß. Er war klein, mager, mit knochigem Gesichte, schon runzelig mit siebenundzwanzig Jahren; sein grobes, schwarzes Haar fiel wirr auf seine sehr schmale Stirn herab; und in dieser gelben, furchtbar häßlichen Fratze saßen zwei helle Kinderaugen, die mit reizender Treuherzigkeit lächelten. Als Sohn eines Steinmetzen in Plassans geboren, hatte er in seiner Heimat bei den Wettbewerben des Museums große Erfolge errungen. Dann war er als Laureatus der Stadt mit den achthundert Franken Pension, welche ihm dieselbe vier Jahre hindurch bezahlte, nach Paris gegangen. Hier hatte er jedoch fremd und ohne Leitung gelebt, so daß er nicht in die Schule der schönen Künste gelangen konnte und seine Pension verzehrte, ohne etwas Rechtes zu schaffen. Nach Verlauf der vier Jahre mußte er, um leben zu können, in die Dienste eines Heiligenbilderhändlers treten, wo er täglich zehn Stunden heilige Joseph, heilige Rochus, Magdalenen, alle Heiligen des Kalenders schnitzte. Erst seit sechs Monaten hatte ihn der Ehrgeiz wieder ergriffen, als er Kameraden aus der Provinz wiedergefunden, Bursche, unter denen er der Älteste war und die er ehemals bei Papa {{Giraud}} kennengelernt hatte in einem Pensionat von Knaben, die heute lauter wilde Umstürzler waren; und dieser Ehrgeiz strebte nach Riesigem, angefacht durch den Umgang mit leidenschaftlichen Künstlern, die ihm mit dem Sturm und Drang ihrer Anschauungen den Kopf verdrehten. »Alle Wetter, ist das ein Stück!« sagte Claude. Der Bildhauer war entzückt, zog heftig an seiner Pfeife und ließ eine Rauchwolke los. »Nicht wahr? ... Ich will ihnen Fleisch zeigen, wirkliches Fleisch, nicht Schmer {{[Schmer]}}, wie sie es machen!« »Ist das eine Badende?« fragte Sandoz. »Nein, sie bekommt Weinranken ... Es wird eine Bacchantin, verstehst du?« Doch Claude geriet sogleich in Zorn. »Eine Bacchantin? Machst du dich lustig über uns? Gibt es denn eine Bacchantin? ... Eine Winzerin mache daraus, eine moderne Winzerin. Ich weiß, was du sagen willst: sie ist nackt. So mache denn eine nackte Bäuerin! Man muß es riechen; es muß Leben haben!« {{Mahou¬deau}} war ganz betroffen und hörte zitternd diese Reden. Er fürchtete ihn, beugte sich vor seinem Ideal von Kraft und Wahrheit und suchte ihn noch zu übertrumpfen. »Ja, ja, das wollte ich sagen. Eine Winzerin. Du sollst sehen, wie es nach dem Weibe riecht!« Sandoz, der um den riesigen Tonblock die Runde machte, stieß jetzt einen Ruf der Überraschung aus. »Ei, der Duckmäuser {{Chaine}} ist da!« Hinter dem Tonblock saß in der Tat {{Chaine}}, ein dicker Bursche, und malte still; er kopierte auf eine kleine Leinwand den erloschenen, rostigen Ofen des Ladens. Man erkannte den Bauer an seinen langsamen Bewegungen, an seinem gebräunten, lederharten Stiernacken. Man sah nur die gewölbte, eigensinnige Stirn; denn seine Nase war so kurz, daß sie zwischen den roten Wangen verschwand; ein rauher Bart verbarg seine starken Kinnbacken. Er war aus Saint-Firmin, zwei Meilen von Plassans; aus einem Dorfe, wo er bis zu seinem militärpflichtigen Alter die Rinder gehütet hatte. Der Ursprung seines Unglücks war die Begeisterung eines benachbarten Spießbürgers für die Spazierstockknöpfe, die er mit seinem Messer in Wurzeln schnitzte. Von da ab war er der geniale Hirte, der künftige große Mann des kunstliebenden Spießbürgers, der zufällig Mitglied der Museumskommission war; von ihm getrieben, geschmeichelt, mit trügerischen Hoffnungen genährt, hatte er nach und nach alles verfehlt: die Studien, die Wettpreise, die Pension der Stadt; und er war dennoch nach Paris gegangen, nachdem er von seinem Vater, einem armseligen Bauer, im voraus sein Erbteil – tausend Franken – verlangt hatte. Davon wollte er ein Jahr leben; inzwischen sollte der verheißene Triumph kommen. Die tausend Franken hatten achtzehn Monate ausgehalten. Als ihm nur mehr zwanzig Franken geblieben, zog er zu seinem Freunde {{Mahou¬deau}}; beide schliefen in einem und demselben Bette, im dunklen Hinterstübchen des Ladens und aßen von demselben Brote, das sie zwei Wochen voraus kauften, damit es sehr hart werde und man nicht zuviel auf einmal davon essen könne. »Ihr Ofen ist ja sehr genau gemalt, {{Chaine}}«, bemerkte Sandoz. {{Chaine}} antwortete nicht, lächelte stillvergnügt über dieses Lob in seinen Bart, und sein Gesicht hellte sich auf wie durch einen Sonnenstrahl. In seiner äußersten Blödigkeit und um das Unglück voll zu machen, hatte er sich durch die Ratschläge seines Gönners zur Malerei drängen lassen trotz seiner ausgesprochenen Fähigkeit für die Holzschnitzerei; er malte wie ein Maurer, verdarb die Farben, machte die hellsten und lebhaftesten unklar. Doch sein Triumph war die Genauigkeit in der Ungeschicklichkeit; er hatte die peinliche Genauigkeit eines Anfängers, die Sorge um die kleinste Einzelheit, worin die Kindlichkeit seines kaum von der Scholle losgelösten Wesens sich gefiel. Der Ofen mit seiner schiefen Perspektive war trocken und genau, in einem trübseligen Schlammton gehalten. &&x Claude trat näher und ward von Mitleid ergriffen angesichts dieser Malerei; gegen die schlechten Maler sonst so hart, fand er hier ein Wort des Lobes. »Ihnen kann man keinen Schwindel vorwerfen! Sie[[1]] malen wenigstens, wie Sie[[1]] fühlen. Das ist sehr gut!« Doch die Ladentür war aufgegangen und ein schöner, blonder Junge mit einer großen, rosigen Nase und großen blauen, kurzsichtigen Augen trat ein. »Wißt ihr,« rief er, »die Kräuterhändlerin nebenan steht ordentlich auf dem Anstand! ... Hu, wie häßlich!« Alle lachten, mit Ausnahme {{Mahou¬deaus}}, der sehr verlegen schien. »Jory {{[Jory]}}, der König der Tollköpfe«, sagte Sandoz, dem Neuangekommenen die Hand drückend. »Wie, {{Mahou¬deau}} schläft bei ihr?« sagte Jory, als er endlich begriffen. »Nun, macht nichts. Unter Freunden verweigert man sich eine Frau niemals.« »Du aber,« bemerkte der Bildhauer, »hast mit den Fingernägeln der deinen abermals Bekanntschaft gemacht; sie hat dir ein Stück der Backe weggerissen.« Alle lachten wieder, und jetzt war Jory an die Reihe zu erröten. Er hatte in der Tat ein zerkratztes Gesicht, zwei tiefe Ritzen. Er war der Sohn eines Richters in Plassans, den er durch seine Abenteuer zur Verzweiflung brachte, und hatte das Maß seiner schlimmen Streiche voll gemacht, indem er mit einer Tingeltangelsängerin durchbrannte unter dem Vorwande, nach Paris zu gehen, um da Literatur zu treiben; seit sechs Monaten, daß sie zusammen in einem Winkelhotel des Studentenviertels hausten, schund ihn dieses Mädchen bei lebendigem Leibe jedesmal, wenn er sie mit der erstbesten Dirne von der Straße betrog. Man sah ihn denn auch selten ohne eine neue Schramme, mit blutiger Nase, einem gespaltenem Ohr, einem blauen Auge. Die Unterhaltung war jetzt allgemein; nur {{Chaine}} fuhr fort zu malen, blöd und ausdauernd wie ein Lasttier. Jory war entzückt von dem Entwurf der Winzerin. Die dicken Weiber waren auch seine Leidenschaft. Er war in Plassans mit romantischen Sonetten aufgetreten und hatte die üppigen Brüste und Hüften einer Wursthändlerin besungen, welche die Ruhe seiner Nächte störte. In Paris, wo er die Bande wiedergefunden, ward er Kunstkritiker und schrieb, um leben zu können, Artikel zu zwanzig Franken für den »Tambour«, eine kleine marktschreierische Zeitung. Einer seiner Artikel, eine Studie über ein Gemälde Claudes, das bei dem Vater {{Mal¬gras}} ausgestellt war, hatte einen riesigen Skandal hervorgerufen; er opferte darin seinem Freunde die »bei dem Publikum beliebten« Maler und stellte Claude als das Oberhaupt einer neuen Schule, der &&c=8 Schule des Freilichts &&c=0 hin. Von sehr praktischem Sinne, wie er war, kümmerte er sich im Grunde wenig um alles, was nicht sein Vergnügen betraf; er wiederholte einfach die Grundsätze, die er in der Gruppe seiner Freunde gehört. »{{Mahou¬deau}}!« rief er, »du sollst deinen Artikel haben; ich will deine Winzerin berühmt machen ... Ach, welche Schenkel! Wer sich solche Schenkel gönnen könnte!« Dann sprach er plötzlich von anderen Dingen. »Wißt ihr schon? Mein geizhalsiger Vater hat sich bei mir entschuldigt. Er fürchtet, daß ich seinen Namen schänden könnte, und sendet mir hundert Franken monatlich. Ich bezahle jetzt meine[[Besitz]] Schulden.« »Schulden? Du bist zu vernünftig, um Schulden zu haben«, bemerkte Sandoz lächelnd. Jory legte in der Tat einen angestammten Geiz an den Tag, über den die Freunde sich belustigten. Er bezahlte die Weiber nicht, und es gelang ihm, sein unordentliches Leben ohne Geld und ohne Schulden zu führen. Mit dieser angeborenen Wissenschaft zu genießen, ohne Geld auszugeben, verband sich bei ihm eine fortwährende Doppelzüngigkeit, eine Gewohnheit zu lügen, die er in der frommgläubigen Umgebung seiner Familie erworben, wo die Sorge, seine Laster zu verbergen, ihn über alles, zu jeder Stunde, selbst überflüssigerweise zu lügen drängte. Er fand eine prächtige Antwort, den Ausruf eines Weisen, der viel gelebt. »Ihr kennt nicht den Wert des Geldes!« Diesmal wurde er niedergebrüllt. Welch ein Spießer! Die Beschimpfungen wurden immer ärger, als draußen jemand leise an die Fensterscheiben klopfte. »Die wird am Ende unerträglich«, sagte {{Mahou¬deau}} mit einer verdrossenen Gebärde. »Wer ist's, die Kräuterhändlerin?« fragte Jory. »Laß sie eintreten, das wird drollig werden.« &&x Übrigens hatte man die Tür schon geöffnet, ohne die Erlaubnis abzuwarten, und die Nachbarin, Frau {{Jabouille}} – Mathilde, wie man sie vertraulich nannte – erschien auf der Schwelle. Sie[[1]] war dreißig Jahre alt, hatte ein plattes, mageres Gesicht mit leidenschaftlichen Augen und blauen, aufgedunsenen Augenlidern. Man erzählte, daß die Geistlichen sie mit dem kleinen {{Jabouille}} verheiratet hatten, einem Witwer, dessen Kräuterhandlung damals – dank der frommen Kundschaft des Stadtviertels – sehr flott ging. Die Wahrheit war, daß man zuweilen unbestimmte Schatten von Sutanen bemerkte, wie sie durch das geheimnisvolle Dunkel des Ladens huschten, den ein würziger Weihrauchduft erfüllte. Es herrschte daselbst bei dem Verkaufe der Spritzenröhrchen eine klösterliche Stille, die salbungsvolle Stimmung einer Sakristei. Die Frommen, die eintraten, flüsterten wie im Beichtstuhl, schoben die Spritzen in ihre Tasche und gingen mit gesenkten Blicken ihres Weges. Unglücklicherweise waren Gerüchte über eine Fehlgeburt in Umlauf; die wohlgesinnten Leute sagten jedoch, es sei nur eine Verleumdung des gegenüber befindlichen Weinschenken. Seitdem der Witwer wieder geheiratet hatte, ging die Kräuterhandlung schlechter. Die Glasbecher schienen zu verblassen, die an der Decke hängenden trockenen Kräuter zerfielen in Staub; {{Jabouille}} selbst hustete sich die Seele heraus und verfiel augenscheinlich, schrumpfte zu einem Nichts ein. Obgleich Mathilde religiös, ward sie von der frommen Kundschaft dennoch allmählich verlassen; sie fand, daß die junge Frau sich zuviel mit jungen Leuten beschäftigte, seitdem ihr Mann dahinsiechte. Einen Augenblick stand sie unbeweglich, mit raschem Blicke die Winkel durchforschend. Ein starker Geruch hatte sich verbreitet, der Geruch der Heilkräuter, mit dem ihr Kleid durchtränkt war, und den sie in ihrem fetten, stets wirren Haar mitbrachte: der widrig-süßliche Geruch der Malven, der herbe Geruch des Holunders, der bittere Geruch des Rhabarber, vor allem aber der scharfe Geruch der Pfefferminze, der gleichsam ihr eigener Hauch war, der heiße Hauch, den sie den Männern unter die Nase blies. Sie[[1]] heuchelte eine Bewegung der Überraschung. »Mein Gott, Sie[[1]] haben Besuch! ... Das wußte ich nicht; ich komme wieder.« »Ganz recht«, sagte {{Mahou¬deau}} verdrossen. »Ich gehe übrigens aus; Sie[[1]] werden mir am Sonntag sitzen.« Claude schaute verblüfft auf Mathilde, dann auf die Winzerin. »Wie?« rief er; »sie sitzt dir Modell zu diesen Muskeln? Alle Wetter! Du machst sie aber hübsch dick!« Alle lachten wieder, während der Bildhauer Erklärungen stammelte. Nein, sie sitzt nicht für den Rumpf, auch nicht für die Beine, nur für den Kopf und die Hände; außerdem einige Andeutungen, nichts weiter. Doch Mathilde lachte mit den anderen; es war ein schrilles, schamloses Lachen. Keck war sie eingetreten und hatte die Tür geschlossen. Dann benahm sie sich wie zu Hause; sie war glücklich unter allen diesen Männern, rieb sich an ihnen, witterte sie. Ihr Lachen hatte die schwarzen Löcher ihres Mundes gezeigt, in dem mehrere Zähne fehlten; sie war erschreckend häßlich, schon verwüstet, die Haut gleichsam verbrannt, an den Knochen klebend. Jory, den sie zum ersten Male sah, schien sie in Versuchung zu führen mit seiner Frische eines gemästeten Huhnes und seiner großen, rosigen, vielverheißenden Nase. Sie[[1]] stieß ihn mit dem Ellbogen; dann – ohne Zweifel um ihn zu erhitzen – setzte sie sich plötzlich auf die Knie {{Mahou¬deaus}} mit der Sorglosigkeit einer Dirne. »Nein, laß mich,« sagte der Bildhauer; »ich habe zu tun. Nicht wahr, Jungen, man erwartet uns.« Er zwinkerte mit den Augen, denn er fühlte das Bedürfnis nach einem tüchtigen Spaziergang. Alle antworteten, daß man sie erwarte, und halfen ihm, sein Tonmodell mit nasser Leinwand zu bedecken. Mathilde mit ihrer unterwürfigen und verzweifelten Miene konnte sich indes nicht entschließen wegzugehen. Sie[[1]] stand da und begnügte sich, den Platz zu wechseln, wenn man sie stieß; während {{Chaine}}, der nicht mehr arbeitete, über seine Malerei hinweg sie mit den begehrlichen Augen eines Schüchternen beinahe verschlang. Bis jetzt hatte er den Mund nicht geöffnet. Aber als {{Mahou¬deau}} endlich mit den drei Kameraden aufbrach, entschloß er sich mit seiner dumpfen, durch das viele Schweigen schier eingerosteten Stimme zu fragen: »Kommst du nach Hause?« »Sehr spät. Iß und lege dich schlafen. Lebewohl!« {{Chaine}} blieb mit Mathilde allein in dem feuchten Laden, mitten unter den Lehmhaufen und Wasserpfützen in dem kreidigen Lichte, das durch die beschmierten Fenster hereinfiel und diesen verwahrlosten Ort des Elends grell beleuchtete. Claude und {{Mahou¬deau}} gingen voraus, während die beiden anderen ihnen folgten; Jory wehrte ab, als Sandoz zum Scherz versicherte, daß er – Jory – die Kräuterhändlerin erobert habe. »Aber nein, sie ist abscheulich, sie könnte unser aller Mutter sein! Ein Maul hat sie wie eine alte, zahnlose Hündin! ... Dabei stinkt sie wie eine Apotheke.« Sandoz lachte über diese Übertreibung. »Laß gut sein, du bist nicht so wählerisch«, sagte er achselzuckend. »Du nimmst oft genug mit Frauenzimmern fürlieb, die nicht mehr wert sind als Mathilde.« »Ich? Wo denn? ... Du mußt wissen, daß sie hinter unserem Rücken {{Chaine}} an den Hals gesprungen ist. Die Schweine werden sich jetzt gütlich tun!« {{Mahou¬deau}}, der in ein Gespräch mit Claude vertieft schien, wandte sich mitten in einem Satze lebhaft um: »Ich kümmere mich wenig darum!« Er vollendete den Satz, den er seinem Gefährten zu sagen hatte; zehn Schritte weiter fuhr er – über die Achsel sprechend – fort: »{{Chaine}} ist übrigens zu dumm dazu!« Man sprach nicht weiter davon. Alle vier schlenderten dahin und nahmen die ganze Breite der Invalidenpromenade ein. Es war das gewohnte Ausschwärmen, das allmähliche Anwachsen der Schar durch unterwegs aufgelesene Kameraden, der regellose Marsch einer zum Krieg aufbrechenden Horde. Diese Burschen mit dem frohen Sinn ihrer zwanzig Jahre nahmen Besitz von dem Pflaster. Wenn sie beisammen waren, klang es wie ein Fanfarengeschmetter vor ihnen her; sie ergriffen Paris mit einer Hand und steckten es ruhig in ihre Taschen. Der Sieg war ihnen nicht zweifelhaft. Das Elend mißachtend, gingen sie sorglos in ihren alten Schuhen und abgenutzten Röcken daher; brauchten sie doch nur zu wollen, um die Herren zu sein. Sie[[1]] waren von unsäglicher Verachtung gegen alles erfüllt, was nicht ihre Kunst war; von Verachtung gegen den Reichtum, gegen die Gesellschaft und vor allem gegen die Politik. Was sollte all das gemeine Zeug? Nur Dummköpfe geben sich damit ab. Eine stolze Ungerechtigkeit erfüllte sie, eine absichtliche Unkenntnis der Anforderungen des sozialen Lebens, der unsinnige Traum, auf Erden nichts als Künstler zu sein. Ihre Leidenschaft machte sie zuweilen ganz blöd, aber auch tapfer und stark. &&x Claude wurde lebhafter; in der Hitze der gemeinsamen Hoffnungen kehrte sein Glaube wieder. Die Qualen, die er am Morgen durchgemacht, hatten nur ein unklares Erschlaffen in ihm zurückgelassen. Schon sprach er mit {{Mahou¬deau}} und Sandoz wieder über sein Gemälde, allerdings mit der Versicherung, daß er es am nächsten Morgen vernichten werde. Jory, der sehr kurzsichtig war, schaute den alten Weibern unter die Nase und verbreitete sich in Ansichten über künstlerisches Schaffen; man müsse sich so geben, wie man ist, im ersten Aufsprudeln der Eingebung; er verbessere sich niemals. Indem sie sich so unterhielten, gingen die vier jungen Leute die Promenade hinab, deren Einsamkeit und schöne, ins Unendliche sich verlierende Baumreihen für ihre Gespräche wie geschaffen schienen. Doch als sie auf der Esplanade anlangten, ward der Streit so heftig, daß sie inmitten des weiten Straßenzuges stehen blieben. Claude war außer sich und nannte Jory einen Blödsinnigen; sei es nicht besser, ein mittelmäßiges Werk zu zerstören, als es der Öffentlichkeit zu übergeben? Dieses niedrige Geschäftsinteresse sei ekelhaft. Sandoz und {{Mahou¬deau}} sprachen gleichzeitig und sehr laut. Einzelne Bürger blickten sich unruhig um, und schließlich gab es eine Ansammlung um die wütenden jungen Leute, die einander in die Haare fahren zu wollen schienen. Dann setzten die Vorübergehenden verdrossen ihren Weg fort, an einen schlechten Scherz glaubend, als sie sahen, wie die jungen Leute plötzlich sehr freundschaftlich über eine hellgekleidete Amme mit langen, kirschroten Bändern sich begeisterten. Alle Wetter, war das ein derber Ton! Entzückt zwinkerten sie mit den Augen und folgten der Amme unter die Baumreihen, gleichsam plötzlich erwacht und erstaunt, daß sie schon da seien. Diese Esplanade, die unter dem freien Himmel überall offen dalag und nur im Süden durch die Perspektive des Invalidenpalastes abgeschlossen wurde, bezauberte sie durch ihre Größe und Ruhe; sie hatten Platz genug für ihre Gebärden und konnten sich ein wenig verschnaufen, sie, die so oft erklärt hatten, daß Paris zu eng sei und nicht genug Luft habe für den Ehrgeiz ihrer Brust. »Geht ihr irgendwohin?« fragte Sandoz zu {{Mahou¬deau}} und Jory. »Nein,« antwortete der letztere; »wir gehen mit euch... Wo geht ihr hin?« Claude schaute sie mit träumenden Blicken an. »Ich weiß nicht ... Nach dieser Richtung.« Sie[[1]] bogen nach dem Orsayufer {{[Orsay¬ufer]}} ab und gingen bis zum Eintrachtsplatze. Vor dem Gebäude des gesetzgebenden Körpers rief der Maler: »Ist das ein häßliches Gebäude!« »Neulich hat Julius {{Favre}} eine schöne Rede gehalten«, sagte Jory ... »{{Rouher}} hat sich sehr geärgert.« Doch die drei anderen ließen ihn nicht weiter reden; der Streit brach von neuem los. Wer ist Julius {{Favre}}? Wer ist {{Rouher}}? Existierten diese Leute? Tröpfe, die zehn Jahre nach ihrem Tode vollständig vergessen sind. Unter mitleidigem Achselzucken gingen sie über die Brücke. Mitten auf dem Eintrachtsplatze schwiegen sie. »Das ist gar nicht so übel!« erklärte Claude schließlich. Es war vier Uhr; der schöne Tag ging bei herrlichem Sonnenschein zu Ende: rechts und links zogen sich in der Richtung nach der Magdalenenkirche und nach dem Palaste des gesetzgebenden Körpers Häuserzeilen in fernen Perspektiven dahin und hoben sich scharf vom Himmel ab; während im {{Tuilerien}}-Garten die runden Wipfel der großen Kastanienbäume staffelweise anstiegen. Zwischen den grünen Säumen der Nebenalleen zog die Allee der Elysäischen Felder sich endlos dahin, am fernen Horizonte begrenzt durch die kolossale Öffnung des Triumphbogens. Ein Doppelstrom von Fußgängern und Wagen wälzte sich auf ihr fort mit der lebendigen Bewegung der Gespanne, dem eilenden Gewoge der Räder; und der Widerschein eines schimmernden Wagenfeldes, das Blinken einer Laternenscheibe war gleichsam der weiße Schaum in diesem Strom. Der Platz da unten mit den ungeheuren Fußsteigen und mit den Fahrstraßen so breit wie Teiche, füllte sich mit diesem unaufhörlichen Strom; nach allen Richtungen durchkreuzt von dem Strahlen der Räder und besät mit schwarzen Punkten, die Menschen waren; die beiden Springbrunnen waren im Gange und verbreiteten eine erfrischende Kühle inmitten des glühenden Lebens. Claude rief mit einem wonnigen Erschauern: »Ach, dieses Paris! ... Es gehört uns; wir brauchen es nur zu nehmen.« Alle vier ereiferten sich wieder und öffneten die begehrlich leuchtenden Augen. Blies nicht der Ruhm von der Höhe dieser Allee über die ganze Stadt hinab? Da lag Paris, und sie wollten es. »Nun denn, wir werden es nehmen«, bestätigte Sandoz mit seiner eigensinnigen Miene. »Ganz sicher«, sagten {{Mahou¬deau}} und Jory einfach. Sie[[1]] setzten ihren Weg fort, streiften noch weiter herum bis hinter die Magdalenenkirche, wo sie die {{Tronchet}}-Straße betraten. Auf dem {{Havre}}-Platze rief Sandoz plötzlich: »Wie? Gehen wir denn zu {{Baudequin}}?« Die anderen waren erstaunt. Schau, sie gingen zu {{Baudequin}}. »Welchen Tag haben wir heute?« fragte Claude. »Donnerstag ... {{Fage¬rolles}} und {{Gagnière}} müssen demnach dort sein... Gehen wir zu {{Baudequin}}.« Sie[[1]] stiegen die Amsterdamstraße hinauf. Sie[[1]] hatten Paris durchquert; es war ihr Lieblingsspaziergang. Aber sie hatten auch noch andere Wege, zuweilen von einem Ende der Ufer bis zum andern, oder auch ein Stück der Stadtbefestigungen vom Jakobstor bis zu den {{Moulineaux}}, oder einen Abstecher nach dem {{Père-La-Chaise}}, dem ein Bummel auf den äußeren Promenaden folgte. Sie[[1]] durchstreiften die Straßen, die Plätze, die Kreuzwege; sie liefen ganze Tage herum, solange ihre Beine sie trugen, als hätten sie die Stadtviertel eins nach dem andern erobern wollen, wobei sie ihre hochtönenden Redensarten an die Mauern der Häuser schleuderten; auch das Pflaster schien ihnen zu gehören, überall wo sie es mit ihren Stiefelsohlen traten; dieser alte Kampfboden, von dem ein Taumel aufzusteigen schien, der ihre Ermüdung betäubte. &&x Das Café {{Baudequin}} lag auf der {{Batignolles}}-Promenade an der Ecke der {{Darcet}}-Straße. Ohne zu wissen weshalb, hatte die Schar dieses Kaffeehaus zum Versammlungsorte gewählt, obgleich nur {{Gagnière}} in diesem Stadtviertel wohnte. Man versammelte sich da in der Regel Sonntag abends; am Donnerstag um fünf Uhr kam, wer frei war, für kurze Zeit dahin. Heute an diesem schönen sonnigen Tage waren die kleinen Tischchen unter dem Zeltdache vor dem Kaffeehause sämtlich besetzt durch eine Doppelreihe von Gästen, die den Fußsteig verrammelten. Doch die jungen Leute scheuten dieses Gedränge, diese öffentliche Schaustellung und schoben die Gäste zur Seite, um den leeren, kühlen Saal zu betreten. »{{Fage¬rolles}} ist allein da!« rief Claude. Er ging auf ihren Stammtisch zu, der links in einer Ecke stand und drückte einem schmächtigen, blassen Jungen die Hand, dessen Mädchengesicht von schelmischen grauen Augen erhellt wurde, die zuweilen stählerne Funken sprühten. Alle setzten sich, und man bestellte Bier. »Ich habe dich bei deinem Vater gesucht, er hat mich schön empfangen«, sagte der Maler. {{Fage¬rolles}}, der gern den verfluchten Kerl spielte, schlug sich auf die Schenkel. »Der Alte ärgert mich! ... Wir hatten heute morgen wieder einen Zank, und ich bin ihm durchgegangen. Er verlangt Zeichnungen von mir für seine zinkenen Schweinereien! Als ob wir an den zinkenen Kerlen in der Schule nicht genug hätten!« Dieser wohlfeile Spaß über die Professoren entzückte die Kameraden. Sie[[1]] fanden ihn spaßig und liebten ihn wegen der fortwährenden Feigheit eines schmeichlerischen und verleumderischen Gassenjungen. Sein unruhiges Lächeln irrte von dem einen zu dem anderen, während seine langen, geschmeidigen Finger aus dem verschütteten Bier mit angeborener Geschicklichkeit die verwickeltsten Szenen zeichneten. Seine Kunst ging ihm leicht von der Hand; in einem Nu gelang ihm alles. »Wo ist {{Gagnière}}?« fragte {{Mahou¬deau}}. »Hast[[Besitz]] du ihn nicht gesehen?« »Nein, ich bin schon seit einer Stunde da.« Doch Jory stieß in aller Stille Sandoz mit dem Ellbogen an und zeigte ihm mit dem Kopfe ein Mädchen, das mit seinem Begleiter an einem Tische im Hintergrunde des Saales saß. Es waren übrigens nur noch zwei Gäste da, zwei kartenspielende Sergeanten. Das Mädchen war noch ganz jung, eine jener Pariser Dirnen, die mit achtzehn Jahren noch mager sind wie eine unreife Frucht. Sie[[1]] sah aus wie ein frisiertes Hündchen mit ihrer Flut von blonden Löckchen über dem zarten Näschen und dem großen lachenden Munde in dem rosigen Lärvchen. Sie[[1]] blätterte in einer illustrierten Zeitung, während der Herr still sein Glas Madeira trank; über ihre Zeitung hinweg warf sie jede Minute heitere Blicke nach der Schar. »Ein netter Käfer!« murmelte Jory, der warm wurde. »Auf wen hat sie es abgesehen?... Mich schaut sie an.« {{Fage¬rolles}} unterbrach ihn lebhaft. »Nur keinen Irrtum; mir gehört sie... Glaubst du, ich säße seit einer Stunde da, um auf euch zu warten?« Die anderen lachten. Seine Stimme dämpfend, erzählte er ihnen von Irma {{Bécot}}. Eine drollige Kleine! Er kannte ihre Geschichte; sie war die Tochter eines Gewürzkrämers in der {{Montor¬gueil}}-Straße. Sie[[1]] hatte eine gute Bildung, kannte die biblische Geschichte, Rechnen, Orthographie, denn sie hatte bis zu ihrem sechzehnten Jahre eine benachbarte Schule besucht. Sie[[1]] machte ihre Aufgaben zwischen zwei Linsensäcken und vollendete ihre Erziehung sozusagen auf der Straße, auf dem Fußsteig lebend mitten unter dem Gedränge und lernte das Leben kennen aus dem fortwährenden Klatsch der Küchenmägde, welche die Scheußlichkeiten des Stadtviertels auskramten, während man ihnen für fünf {{Sous}} Käse abwog. Ihre Mutter war tot, und Vater {{Bécot}} hatte schließlich mit seinen Mägden geschlafen, um sein Vergnügen nicht außer dem Hause suchen zu müssen. Allein das brachte ihn auf den Geschmack für die Frauen; er mußte andere haben und stürzte sich bald in ein so heilloses Schlemmerleben, daß der Gewürzladen allmählich in die Brüche ging mit seinen trockenen Gemüsen, Zuckerdosen und anderen Leckereien. Irma ging noch zur Schule, als eines Abends ein Ladengehilfe, während er die Bude schloß, sie auf einen Korb Feigen hinlegte. Sechs Monate später war der Laden weg; ihr Vater starb infolge eines Schlagflusses, Irma suchte Zuflucht bei einer armen Tante, die sie prügelte, entfloh mit einem jungen Mann von gegenüber, kam dreimal wieder, um eines Tages endgültig auszufliegen. Seither war sie eine bekannte Figur aller Tanzböden von Montmartre und {{Batignolles}}. »Eine Straßendirne«, murmelte Claude mit einer Miene der Verachtung. &&x Plötzlich erhob sich der Herr und ging hinaus, nachdem er leise mit Irma gesprochen hatte. Als er verschwunden war, eilte das Mädchen mit dem Mutwillen eines entlaufenen Schülers herbei und setzte sich auf die Knie {{Fage¬rolles}}. »Ist der Kerl eine Klette!« rief sie... »Küsse mich rasch, er kommt sogleich wieder.« Sie[[1]] küßte ihn auf den Mund und trank aus seinem Glase. Sie[[1]] gab sich auch den anderen und lachte ihnen in ermunternder Weise zu; denn sie hatte eine Leidenschaft für die Künstler und bedauerte nur, daß diese nicht Geld genug hatten, um sich jeder besonders ein Weib leisten zu können. Besonders Jory schien sie zu interessieren, der sehr erhitzt war und flammende Augen auf sie heftete. Da er rauchte, nahm sie ihm die Zigarette aus dem Munde und steckte sie in den ihren, ohne ihr tolles Geschwätz zu unterbrechen. »Ihr alle seid Maler; das ist drollig! Und jene drei: warum sind sie so kopfhängerisch? Seid lustig und guter Dinge, ich will euch kitzeln; ihr sollt einmal sehen!« In der Tat: Claude, {{Mahou¬deau}} und Sandoz betrachteten sie mit ernster Miene. Doch sie spitzte die Ohren, und als sie ihren Zuhälter kommen sah, rief sie {{Fage¬rolles}} eilig zu: »Morgen abend, wenn du willst; hole mich aus der Brauerei {{Bréda}}.« Nachdem sie die von ihren Lippen feuchte Zigarette Jory wieder in den Mund gesteckt hatte, segelte sie mit langen Armen und funkelnden Augen – eine komischübermütige Grimasse schneidend – davon. Als ihr Begleiter mit ernster Miene, ein wenig blaß, wiedererschien, fand er sie unbeweglich, die Augen noch immer auf demselben Stiche der illustrierten Zeitung ruhend. Diese Szene hatte sich so schnell, mit einer so drolligen Eile abgespielt, daß die beiden Sergeanten mit derbem, gutmütigem Gelächter ihr Kartenspiel wiederaufnahmen. Irma hatte übrigens sie alle erobert. Sandoz erklärte, ihr Name {{Bécot}} (Küßchen) eigne sich sehr gut für einen Roman; Claude bat, sie möge ihm zu einer Studie sitzen; {{Mahou¬deau}} sah sie als Straßenjungen, eine Statuette, die sicherlich gut zu verkaufen sei. Bald ging sie fort; dabei sandte sie hinter dem Rücken ihres Zuhälters der ganzen Tischgesellschaft Kußhändchen zu, einen Regen von Küssen, die Jory vollends entflammten. Allein {{Fage¬rolles}} wollte sie noch nicht überlassen; unbewußt fühlte er sich geschmeichelt dadurch, ein verderbtes Kind des nämlichen Fußweges in ihr wiederzufinden, dem auch er entsprossen war. Es war fünf Uhr; die Schar ließ noch Bier kommen. Stammgäste aus dem Stadtviertel hatten sich an den benachbarten Tischen niedergelassen. Diese Spießbürger blickten von der Seite nach dem Winkel der Künstler hinüber, und in den Blicken mengte sich Achtung mit einer gewissen verlegenen Unterwürfigkeit. Man kannte sie hier sehr wohl, eine ganze Legende hatte sich um sie gebildet. Sie[[1]] redeten jetzt von allerlei dummen Sachen, von der Hitze, von den überfüllten Omnibussen, von einer neu entdeckten Weinstube, wo man wirkliches Fleisch vorgesetzt bekomme. Einer von ihnen wollte von einer Reihe unsauberer Gemälde zu sprechen beginnen, die im Luxemburg ausgestellt worden; allein alle stimmten darin überein, daß diese Bilder des Rahmens nicht wert seien. Dann sprachen sie gar nichts mehr, rauchten nur und tauschten von Zeit zu Zeit ein Wort oder ein verständliches Lachen. »Erwarten wir {{Gagnière}}?« fragte Claude endlich. Alle widersprachen. {{Gagnière}} sei unerträglich; übrigens werde er zur Suppe sich gewiß einfinden. »So kommt. Wir haben heute eine Hammelkeule; laßt uns rechtzeitig zur Stelle sein.« Jeder zahlte seine Zeche, und sie gingen. Das ganze Kaffeehaus geriet dabei in Bewegung. Mehrere junge Leute – ohne Zweifel Maler – steckten zischelnd die Köpfe zusammen und zeigten sich Claude, als sähen sie den Häuptling eines Stammes von Wilden. Der berühmte Artikel {{Jorys}} hatte seine Wirkung getan; das Publikum wurde mitschuldig und half selbst die Schule des Freilichts gründen, über welche die Bande noch ihren Spaß trieb. Das Café {{Baudequin}} – sagten sie heiter – ahnte gar nicht die Ehre, die sie ihm erwiesen, indem sie es zur Wiege eines Umsturzes in der Kunst erkoren. Auf der Promenade zählte die Gruppe schon fünf Mann, {{Fage¬rolles}} war zu ihnen gestoßen. Langsam durchstreiften sie wieder Paris mit der ruhigen Miene von Eroberern. Je mehr ihrer waren, desto mehr nahmen sie die Straßen in ihrer Breite ein, und desto mehr trugen sie auf ihren Sohlen von dem heißen Leben der Fußwege mit fort. Nachdem sie die {{Clichy}}-Straße hinuntergezogen waren, bogen sie in die Chaussee nach {{Antin}} ein, kamen dann durch die {{Richelieu}}-Straße, gingen auf dem {{Pont-des-Arts}} über die {{Seine}}, erreichten endlich durch die {{Seine}}-Straße den Luxemburgpalast, wo ein dreifarbiger Anschlagzettel, die schreiende Reklame eines Vorstadtzirkus, ihre geräuschvolle Bewunderung erregte. Der Abend kam, der Strom der Fußgänger floß langsamer; die müde Stadt erwartete den Abend, bereit, sich dem erstbesten Manne zu überliefern, der stark genug war, sie zu nehmen. Bei Sandoz in der Höllenstraße angekommen, ließ dieser die vier Kameraden in seine Wohnung eintreten, während er selbst in dem Zimmer seiner Mutter verschwand. Er blieb dort einige Minuten und kam dann zurück, ohne ein Wort zu sagen, mit dem heimlichen, zärtlichen Lächeln, das man stets an ihm sehen konnte, wenn er von seiner Mutter kam. In der engen Wohnung aber erhob sich sogleich großer Lärm, Gelächter, Geschrei, Streiten. Er selbst gab das Beispiel und half der Haushälterin das Essen anrichten. Die Frau schimpfte, weil schon halb acht Uhr war und der Braten zu verbrennen drohte. Die fünf jungen Leute saßen bei Tische und aßen die Suppe – eine sehr gute Zwiebelsuppe – als ein neuer Gast erschien. »{{Gagnière}}!« heulte man im Chor. {{Gagnière}}, ein kleiner, schlotteriger Kerl mit einem puppenhaften, schüchternen Gesichte, das ein spärlicher, blonder Bart umrahmte, blieb einen Augenblick auf der Schwelle stehen und blinzelte mit den grünen Augen. Er war aus {{Melun}}, der Sohn vermögender Bürgersleute, die ihm dort zwei Häuser hinterlassen hatten; er hatte die Malerei ganz allein im Walde von {{Fontaine¬bleau}} erlernt und malte trefflich aufgefaßte und sorgfältig ausgeführte Landschaften. Seine wahre Leidenschaft aber war die Musik, eine Musiknarrheit, eine geistige Verirrung, die ihn mit den Verzweifeltesten der Schar auf einen gleichen Fuß stellte. »Bin ich überflüssig?« fragte er sanft. »Nein, nein, komm' nur herein!« rief Sandoz. Schon legte die Haushälterin das Gedeck auf. »Man könnte gleich noch einen Teller für Dubuche bereithalten«, bemerkte Claude. »Er sagte mir, daß er sicher komme.« Allein man wetterte gegen Dubuche, der mit vornehmen Damen umging. Jory erzählte, er habe ihn im Wagen fahren sehen in Gesellschaft einer alten Dame und ihrer Tochter, deren Sonnenschirm er auf seinen Knien hielt. »Woher kommst du so spät?« fragte {{Fage¬rolles}} {{Gagnière}}. Dieser wollte eben seinen ersten Löffel Suppe essen und tat ihn wieder in den Teller. »Ich war in der {{Lancry}}-Straße, du weißt, wo Kammermusik gemacht wird ... O, mein Lieber, Sachen von Schumann, du hast keinen Begriff davon! Es packt einen ordentlich am Hinterkopfe; es ist, wie wenn eine Frau dir in den Nacken bläst. Ja, ja, es ist noch stoffloser als ein Kuß, das Streifen eines Hauches ... Auf Ehrenwort, man glaubt zu vergehen ...« Seine Augen wurden feucht, er erblaßte wie bei einer allzu lebhaften Freude. »Iß deine Suppe,« sagte {{Mahou¬deau}}; »du kannst uns das nachher erzählen.« &&x Der Rochen wurde aufgetragen, und man ließ die Essigflasche auf den Tisch setzen, um die braune Butter, die man ein wenig schal fand, damit zu versäuern. Es wurde tüchtig zugegriffen, die Brotstücke verschwanden rasch. Übrigens herrschte keinerlei Luxus; der Wein ward aus der Weinstube geholt, und die Gäste waren rücksichtsvoll genug, ihn reichlich zu wässern, um dem Gastgeber keine allzu große Ausgabe zu verursachen. Man hatte eben das Erscheinen der Hammelkeule mit einem Hurra begrüßt, und Sandoz machte sich daran, den Braten zu zerlegen, als die Tür von neuem aufging. Doch diesmal erhob sich ein lautes Geschrei der Abwehr. »Nein, niemand mehr!... Fort, Abtrünniger.« Dubuche, der nach Atem rang, weil er gelaufen war, und den dieses Geheul aus der Fassung brachte, steckte sein breites, blasses Gesicht herein und stammelte Entschuldigungen. »Wahrhaftig, ich versichere, es ist die Schuld der Omnibusse!... Ich habe in den Elysäischen Feldern auf fünf gewartet.« »Nein, nein, er lügt!... Er soll gehen, er kriegt keinen Hammelbraten!... Hinaus! hinaus!« Er war schließlich doch eingetreten, und da erst bemerkte man, daß er sehr fein, ganz schwarz gekleidet war, schwarzes Beinkleid, schwarzen Rock, schwarze Halsbinde trug, geputzt und geschniegelt war mit der förmlichen Steifheit eines Spießbürgers, der außer dem Hause essen geht. »Aha, er hat seine Einladung verpaßt«, rief {{Fage¬rolles}} scherzhaft ... »Seht Ihr denn nicht, daß seine vornehmen Damen ihn haben ziehen lassen, und daß er uns jetzt die Hammelkeule wegessen will, weil er nicht mehr weiß, wohin er gehen soll.« Er ward ganz rot und stammelte: »Was fällt euch ein!... Seid ihr aber boshaft!... Laßt mich in Frieden!« Sandoz und Claude, die beisammen saßen, lächelten; der erstere winkte Dubuche heran und sagte: »Lege selbst dein Gedeck auf; nimm dort einen Teller und ein Trinkglas und setzte dich hierher zwischen uns beide ... Sie[[1]] werden dich bald in Ruhe lassen.« Doch während man den Braten aß, wollten die Scherze kein Ende nehmen. Als die Haushälterin noch einen Teller Zwiebelsuppe und ein Stück Fisch für Dubuche aufgetrieben hatte, begann er selbst, gemütlich in die Späße einzustimmen. Er tat, als sei er schrecklich hungrig, wischte gierig seinen Teller aus und erzählte eine Geschichte von einer Mutter, die ihm die Hand ihrer Tochter verweigerte, weil er Architekt sei. Der Schluß der Mahlzeit war sehr geräuschvoll, alle redeten auf einmal. Ein Stück Briekäse – der allein den Nachtisch bestritt – hatte ungeheuren Erfolg. Man hatte fast nicht genug Brot dazu. Als der Wein wirklich ausgegangen war, trank jeder ein Glas klares Wasser und schnalzte mit der Zunge dazu unter lautem Gelächter. Mit gerötetem Gesicht und vollem Bauche, mit dem Wohlbehagen von Leuten, die soeben prächtig gespeist haben, gingen sie in das Schlafzimmer hinüber. Das waren die gemütlichen Abende bei Sandoz. Selbst in den Tagen des Elends hatte er stets ein Stück Fleisch mit seinen Kameraden zu teilen. Es war seine helle Freude, so zusammen zu sein, sämtliche Freunde, sämtlich von den nämlichen Gedanken lebend. Obgleich in ihrem Alter, fühlte er sich durch eine gewisse väterliche Gutmütigkeit gehoben, wenn er sie so bei sich und um sich versammelt sah, Hand in Hand und hoffnungstrunken. Da er nur ein Wohnzimmer hatte, gehörte ihnen dieses ganz, und weil Mangel an Platz war, mußten einige sich auf das Bett setzen. An diesen warmen Sommerabenden blieb das Fenster weit offen, um die freie Luft einströmen zu lassen; man sah in der hellen Nacht zwei dunkle Schattenbilder, welche die Häuser überragten: den Turm der Jakobskirche und den Baum im Garten der Taubstummenanstalt. An Tagen, wo man sich ein Übriges erlauben konnte, gab es Bier. Jeder brachte seinen Tabak mit, das Zimmer füllte sich rasch mit Rauch, schließlich plauderte man im Dunkel bis spät in die Nacht hinein in der tiefen Stille dieses entlegenen Stadtviertels. An diesem Tage erschien um neun Uhr die Haushälterin mit der Frage: »Darf ich gehen? Ich bin fertig.« »Ja, gehen Sie[[1]]. Sie[[1]] haben wohl Wasser ans Feuer gestellt; den Tee[[2]] will ich selbst bereiten.« Sandoz hatte sich erhoben. Er verschwand hinter der Haushälterin und kam erst nach einer Viertelstunde wieder. Ohne Zweifel war er zu seiner Mutter hinübergegangen, um sie vor dem Schlafengehen zu küssen; er war gewohnt, sie sorglich zuzudecken, ehe sie einschlief. Doch schon wurden die Stimmen lauter; {{Fage¬rolles}} erzählte eine Geschichte. »Ja, mein Alter, in der Schule wollen sie die Modelle verbessern. Neulich näherte sich mir Mazel {{[Mazel]}} und sagte: ›Die beiden Schenkel liegen nicht schnurgleich.‹ Ich antwortete ihm: ›Schauen Sie[[1]], mein Herr: sie hat sie so.‹ Es war die kleine {{Flora Beauchamp}}, ihr kennt sie ja. Und er entgegnete mir wütend: ›Wenn sie sie so hat, dann hat sie unrecht.‹« Man wälzte sich vor Lachen, besonders Claude, dem {{Fage¬rolles}} die Geschichte erzählte, um sich ihm gefällig zu zeigen. Seit einiger Zeit stand er unter seinem Einflusse. Obgleich er fortfuhr, mit der Geschicklichkeit eines Taschenspielers zu malen, sprach er doch nur mehr von satter, solider Malerei, von Naturstücken, lebendig auf die Leinwand hingeworfen, wie sie lebten und webten. Dies hinderte ihn übrigens nicht, die Freilichtmaler zu verspotten, die er beschuldigte, daß sie ihre Studien mit einem Kochlöffel verschmierten. Dubuche, der nicht gelacht hatte, und dessen Aufrichtigkeit sich gegen diese Reden auflehnte, wagte die Bemerkung: »Warum bleibst du in der Schule, wenn du findest, daß man euch dort verdummt? Man geht ganz einfach weg ... Ich weiß, ihr seid alle gegen mich, weil ich die Schule verteidige. Es ist meine[[Besitz]] Ansicht, daß es gut ist, ein Handwerk erst zu erlernen, wenn man es ausüben will.« Ein wütendes Geschrei brach los, und Claude bedurfte seines ganzen Ansehens, um sich bemerkbar zu machen. »Er hat recht, man muß sein Handwerk erlernen. Aber es ist nicht gut, es unter der Zuchtrute von Professoren zu erlernen, die einem gewaltsam ihre Art zu schauen aufdringen wollen ... Wie blöd ist es von diesem Mazel zu sagen, daß die Schenkel der {{Flora Beauchamp}} nicht schnurgleich liegen! Und so prächtige Schenkel! Ihr kennt sie ja: Schenkel, die das ausschweifende Leben dieser tollen Dirne bis ins Innerste verraten.« Er legte sich auf das Bett zurück, wo er saß, und fuhr – in die Höhe schauend – mit leidenschaftlich erregter Stimme fort: »Ach, das Leben, das Leben! Es fühlen und in seiner Wirklichkeit wiedergeben; es lieben, die wahre, ewige und wechselnde Schönheit einzig darin erblicken, nicht den einfältigen Gedanken haben, es zu veredeln, indem man es kastriert; begreifen, daß die vorgeblichen Höflichkeiten nichts anderes sind als Auswüchse der Charaktere, und Leben schaffen, Menschen schaffen die einzige Art, Gott zu sein!« Sein Glaube kehrte wieder; der Gang durch Paris hatte ihn wieder angespornt, er war von seiner Leidenschaft für das lebendige Fleisch wieder erfaßt. Man hörte ihn schweigend an. Er machte eine wütende Gebärde, dann beruhigte er sich. »Mein Gott, jeder hat seine Gedanken; das Ärgerliche ist nur, daß sie im Institut noch unduldsamer sind als wir ... Die Beurteilung des Salons gehört ihnen, und ich bin sicher, daß dieser blöde Mazel mir mein Bild zurückweisen wird.« Nun ergingen sich alle in Beschimpfungen, denn die Richterfrage war ein ewiger Gegenstand ihres Zornes. Man forderte Änderungen; jeder hatte eine Lösung in Bereitschaft, angefangen von dem allgemeinen Wahlrecht, angewandt auf die Wahl stark liberaler Richter, bis zur vollständigen Freiheit, einem allen Ausstellern zugänglichen Salon. &&x Während die anderen stritten, hatte {{Gagnière}} {{Mahou¬deau}} zum offenen Fenster gezogen und flüsterte mit leiser Stimme, in die Nacht hinausstarrend: »Ach, es ist nichts: vier Takte und eine hingeworfene Impression. Aber was liegt alles darin! ... Für mich ist's vor allem eine flüchtige Landschaft, ein trübes Stück der Straße mit dem Schatten eines Baumes, den man nicht sieht; dann geht ein Weib vorüber, man sieht kaum ein Profil; dann entfernt sie sich, und man begegnet ihr nie wieder ...« In diesem Augenblick rief {{Fage¬rolles}}: »{{Gagnière}}, was wirst du heuer in den Salon senden?« Doch er hörte nicht und fuhr entzückt fort: »In Schumann ist alles, das Unendliche! ... Und Wagner, den sie erst am Sonntag wieder ausgepfiffen haben!« Doch bei einem neuen Anrufe {{Fage¬rolles}}' fuhr er auf: »Wie? Was ich in den Salon senden werde? ... Vielleicht eine kleine Landschaft, einen Winkel der {{Seine}}. Es ist so schwer; ich muß vor allem mit mir selbst zufrieden sein.« Er war plötzlich wieder furchtsam und unruhig geworden. Seine Gedanken eines gewissenhaften Künstlers hielten ihn monatelang vor einer handbreiten Leinwand fest. Ein Anhänger der französischen Landschafter, dieser Meister, die zuerst die Natur erobert haben, richtete er seine Sorgfalt auf den zutreffenden Ton, auf die genaue Beobachtung der Gegenstände als Theoretiker, dessen Aufrichtigkeit so weit ging, daß sie ihm schließlich die Hand schwer machte. Oft wagte er nicht mehr einen zitternden Ton, von einer Trübseligkeit ergriffen, die bei seiner aufrührerischen Leidenschaft verwundern mußte. »Ich« – sagte {{Mahou¬deau}} – »freue mich schon im voraus bei dem Gedanken, was für Augen sie zu meinem Weibsbilde machen werden.« Claude zuckte die Achseln. »Du wirst sicher zugelassen: die Bildhauer denken freier als die Maler. Im übrigen verstehst du deine Sache sehr gut, du hast in den Fingern, was gefällt ... Deine Winzerin wird einschlagen.« Dieses Lob stimmte {{Mahou¬deau}} ernst; seine Eigenheit sollte die Kraft sein; die Anmut kannte er nicht und verachtete sie; und dennoch sproß die Anmut unüberwindlich unter seinen plumpen Fingern eines ungebildeten Arbeiters hervor wie eine Blume, die in dem harten Boden gedeiht, wohin ein Windstoß sie verschlagen. {{Fage¬rolles}} war sehr schlau und stellte nichts aus, aus Furcht, seine Meister zu verstimmen; er schimpfte über den Salon, diesen abscheulichen Markt, wo die gute Malerei mit der schlechten versauere. Im geheimen träumte er von dem großen Ehrenpreise, den er übrigens bespöttelte wie alles andere. Doch Jory pflanzte sich mit seinem Bierglase in der Hand mitten in das Zimmer hin. Mit kleinen Schlucken es leerend, erklärte er: »Diese Richter ärgern mich schließlich! ... Soll ich mit ihnen aufräumen? In der nächsten Nummer fange ich an, sie zu bombardieren. Ihr liefert mir Notizen, und wir machen ihr den Garaus ... Das wird einen Hauptspaß geben.« Claude ereiferte sich vollends, die Begeisterung wurde allgemein. Ja, ja, der Krieg mußte eröffnet werden. Alle waren dabei, alle drängten zusammen, um besser ihre Kraft zu fühlen und zusammen ins Feuer zu gehen. In diesem Augenblicke war kein einziger unter ihnen, der seinen Anteil am Ruhme für sich selbst zurückbehalten hätte; denn nichts trennte sie noch, weder ihre tiefgehenden Verschiedenheiten, die ihnen noch unbekannt waren, noch die Wettkämpfe, die sie eines Tages gegeneinander treiben sollten. War der Erfolg des einen nicht zugleich der Erfolg der anderen? Ihre Jugend gärte, sie flössen von Hingebung über, träumten von neuem den ewigen Traum, sich für den Kampf zur Eroberung der Erde einreihen zu lassen; jeder sollte seine Kraft dazu leihen, der eine den andern antreiben, die ganze Schar gleichzeitig ans Ziel gelangen. Claude als anerkannter Führer verkündete bereits den Sieg und verteilte Auszeichnungen. {{Fage¬rolles}} selbst glaubte trotz seiner pariserischen Leichtfertigkeit an die Notwendigkeit einer Vereinigung zum Kampfe; während Jory begehrlicher, noch halb und halb Provinzmensch, sich als nützlicher Kamerad zu zeigen trachtete, im Fluge die Redensarten auffing und hier seine Artikel vorbereitete. {{Mahou¬deau}} übertrieb seine geflissentlichen Schroffheiten, ballte die Hände wie ein Teigkneter, der mit seinen Fäusten eine Welt neu kneten wollte. Wonnig erregt und frei von der grauen Sorge um seine Malerei trieb {{Gagnière}} die Feinheit des &&c=8 Empfindens &&c=0 bis zum schließlichen Schwinden des &&c=8 Verstehens; &&c=0 Dubuche, fest in seinen Überzeugungen, warf nur hier und da einzelne Worte – aber Worte wie Keulenschläge – mitten unter die Hindernisse. Sandoz war selig, lachte vergnügt, weil er sie so einig sah, alle in einem Hemde, wie er sagte; er entkorkte eine neue Flasche Bier, er würde in seiner Freude das Haus geleert haben. »Nur fest zusammenhalten und nimmer loslassen!« rief er. »Einträchtig sein ist die Hauptsache, wenn man Gedanken im Kopfe hat. Der Teufel hole die Schwachsinnigen!« In diesem Augenblicke ertönte draußen die Klingel. Alle verstummten plötzlich. »Um elf Uhr!« sagte Sandoz erstaunt. »Wer kann das sein?« Er eilte hinaus, um zu öffnen, und man hörte ihn einen Freudenruf ausstoßen. Schon kam er zurück, öffnete angelweit die Tür und sagte: »Es ist sehr schön, daß Sie[[1]] uns ein wenig lieben und überraschen. Es ist {{Bongrand}}, meine[[Besitz]] Herren!« Der große Maler, den der Hausherr in dieser Weise mit einer achtungsvollen Vertraulichkeit ankündigte, kam mit zum Gruße vorgestreckten Händen näher. Alle erhoben sich in lebhafter Bewegung, beglückt durch den Druck dieser breiten, herzlich dargebotenen Hand. Es war ein dicker Mann von etwa fünfundvierzig Jahren mit einem runzeligen Gesichte unter langen, grauen Haaren. Er war vor kurzem erst ins Institut eingetreten und trug die Rosette eines Offiziers der Ehrenlegion im Knopfloche. Aber er liebte die Jugend; am liebsten flüchtete er von Zeit zu Zeit in diesen Kreis, um eine Pfeife unter diesen Anfängern zu rauchen, deren Feuer auch ihn neu erwärmte. »Ich will den Tee[[1]] machen!« rief Sandoz. &&x Als er aus der Küche mit dem Teekessel und den Tassen zurückkehrte, fand er {{Bongrand}} rittlings auf einem Sessel sitzen und seine kurze Tonpfeife rauchen mitten unter dem Lärm, der von neuem angefangen. {{Bongrand}} selbst sprach mit einer Donnerstimme. Er war der Enkel eines Bauern in der {{Beauce}} und der Sohn eines Spießbürgers; seine bäurische Abstammung wurde durch eine Mutter von stark künstlerischem Sinne verfeinert. Er war reich, hatte es nicht notwendig, seine Bilder zu verkaufen, und bewahrte die Neigungen und Ansichten der Bohème. »Ach ja, ihre Richter! Lieber möchte ich krepieren als daran teilnehmen!« sagte er mit lebhaften Gebärden. »Bin ich ein Henker, um arme Teufel hinauszuwerfen, die oft um das tägliche Brot kämpfen?« »Indes« – bemerkte Claude – »könnten Sie[[1]] uns unter den Richtern einen großen Dienst erweisen, indem Sie[[1]] unsere Bilder verteidigen.« »Ich? Hören Sie[[1]] auf! Ich würde euch nur schaden ... Ich zähle nicht; ich bin niemand.« Alle protestierten; {{Fage¬rolles}} rief mit schriller Stimme: »Wenn schon der Maler der ›ländlichen Hochzeit‹ nicht zählt!« Doch {{Bongrand}} wurde böse, stand auf und rief mit gerötetem Gesichte: »Laßt mich in Frieden mit der ›ländlichen Hochzeit‹! Ich muß Euch sagen, daß sie mich nachgerade ärgert. Sie[[1]] wird für mich wahrhaftig zum Alpdruck, seitdem man sie im Luxemburg-Museum ausgestellt hat.« Diese »ländliche Hochzeit« war bis jetzt sein Hauptwerk geblieben: eine Hochzeitsgesellschaft, die draußen zwischen den Getreidefeldern in regellosem Zuge herumstreifte; Bauern, die in der Nähe studiert, mit großer Wahrheit wiedergegeben waren und eine epische Haltung homerischer Helden hatten. Von diesem Bilde datierte ein Entwicklungsabschnitt, denn es hatte eine neue Formel gebracht. {{Dela¬croix}} folgend und parallel mit {{Cour¬bet}} gehend, war dies ein durch Logik gemäßigter Romantismus mit mehr Genauigkeit in der Beobachtung, mit mehr Vollkommenheit in der Mache, aber es war noch nicht das dreiste Herantreten an die Natur im grellen Freilicht. Indessen nahm die ganze junge Schule diese Kunst für sich in Anspruch. »Es gibt nichts Schöneres,« sagte Claude, »als die zwei ersten Gruppen, der Geigenspieler und die Neuvermählte mit dem alten Bauer.« »Und die große Bäuerin!« rief {{Mahou¬deau}}. »Die sich umwendet und winkend ruft.« »Und der Windstoß durch die Getreidefelder,« fügte {{Gagnière}} hinzu; »und die zwei hübschen Figuren des Mädchens und des Burschen, die weit hinten neckend und spielend nachfolgen!« Mit verlegener Miene und einem bittern Lächeln hörte {{Bongrand}} zu. Als {{Fage¬rolles}} ihn fragte, was er im Augenblick mache, antwortete er mit einem Achselzucken: »Mein Gott, nichts, kleine Sachen ... »Ich werde nicht ausstellen; ich möchte etwas Tüchtiges schaffen ... Wie glücklich seid Ihr, noch am Fuße des Berges zu sein! Man hat noch gute Beine und ist noch mutvoll, wenn es sich darum handelt hinaufzusteigen. Ist man aber erst oben, dann beginnen die Verdrießlichkeiten. Es ist eine wahre Qual; es gilt seine Fäuste gebrauchen und unaufhörliche Anstrengungen machen, weil man fürchtet, zu rasch wieder unten zu sein ... Meiner Treu, man möchte lieber noch unten sein, um alles neu machen zu können ... Lacht nur; ihr werdet es selbst eines Tages sehen!« Die Schar lachte in der Tat, weil sie eine widerspruchsvolle Ansicht vor sich zu haben glaubte, die Betrachtung eines berühmten Mannes, die sie übrigens entschuldigte. War es nicht die höchste Freude, mit dem Namen Meister begrüßt zu werden wie er? Die beiden Arme auf die Lehne seines Sessels gestützt, verzichtete er darauf, sich begreiflich zu machen; er hörte ihnen still zu und tat von Zeit zu Zeit einen kräftigen Zug aus seiner Pfeife. Dubuche, der in der Hauswirtschaft Bescheid wußte, half Sandoz den Tee[[1]] bereiten. Der Lärm dauerte fort. {{Fage¬rolles}} erzählte eine köstliche Geschichte vom Vater {{Mal¬gras}}, der eine Base seiner Frau herlieh, wenn man ihm eine Studie von ihr machte. Dann sprach man von den Modellen; {{Mahou¬deau}} war wütend, weil die schönen Bäuche verschwanden; es war unmöglich, ein Mädchen mit einem schönen Bauche zu bekommen. Doch plötzlich wuchs der Tumult noch an, man beglückwünschte {{Gagnière}} zu einem Kunstliebhaber, den er in den Konzerten im Königspalast kennen gelernt hatte, einen kleinen Rentier[[2]], einen Verrückten, dessen einzige Verschwendung darin bestand, Gemälde zu kaufen. Die anderen fragten lachend nach der Adresse dieses Mannes. Dann wurde über die Händler geschimpft; es war sehr traurig, daß der Kunstliebhaber dem Maler mißtraute und durchaus einen Vermittler haben wollte in der Hoffnung, einen Rabatt zu erlangen. Die Brotfrage regte sie noch mehr auf. Claude bekundete eine große Verachtung; man wurde allerdings bestohlen; aber was habe es weiter auf sich, wenn man ein Kunstwerk geschaffen und nur Wasser zu trinken habe? Jory, der abermals niedrige, gewinnsüchtige Ansichten ausgedrückt hatte, entfesselte die Entrüstung aller. Hinaus mit dem Journalisten! Man legte ihm strenge Fragen vor: wolle er seine Feder verkaufen? Wolle er sich nicht lieber die Hand weghauen, als das Gegenteil seiner Überzeugung schreiben? Man wartete übrigens seine Antwort nicht ab; die Empörung stieg immer höher; es war die schöne Torheit der zwanzig Jahre, die Verachtung für die ganze Welt, die einzige Leidenschaft für das Kunstwerk, losgelöst von den menschlichen Gebrechen, erhaben wie eine Sonne. Welch' eine Lust, sich in dem Glutofen, den sie entzündeten, zu verlieren und zu verzehren! {{Bongrand}}, der bis jetzt unbeweglich dagesessen, machte eine unbestimmte Gebärde des Leids angesichts dieser grenzenlosen Vertrauensseligkeit, dieser hellen Kampfesfreude. Er vergaß die hundert Bilder, die seinen Ruhm ausmachten; er dachte an die Aufnahme des Werkes, dessen Skizze er auf seiner Staffelei gelassen. Die kleine Pfeife aus dem Munde nehmend, murmelte er, die Augen feucht von innerer Bewegung: »Ach, die Jugend, die Jugend!« Sandoz, der sich vervielfältigte, goß bis zwei Uhr morgens heißes Wasser in den Teekessel; in dem schlafenden Stadtviertel hörte man nichts als das Miauen einer wilden Katze. Betäubt von ihren eigenen Worten, mit glühenden Augen und heiseren Stimmen schrien die jungen Leute jetzt alle zusammen, und keiner wußte mehr, was der andere sagte. Als sie sich endlich entschlossen aufzubrechen, nahm er die Lampe und leuchtete ihnen auf der Treppe, wobei er leise sagte: »Macht keinen Lärm, meine[[Besitz]] Mutter schläft.« Der gedämpfte Schritt der Schuhe über die Treppen verlor sich allmählich, und das Haus verfiel wieder in eine tiefe Stille. Es schlug vier Uhr. Claude, der {{Bongrand}} begleitete, sprach noch immer, während sie durch die menschenleeren Straßen gingen. Er wollte nicht schlafen gehen; er erwartete den Sonnenaufgang mit rasender Ungeduld, um sich wieder an sein Gemälde zu machen. Diesmal war er sicher, ein Meisterwerk zu schaffen, begeistert durch diesen im Freundeskreise verbrachten frohen Tag, der Kopf schmerzend und mit einer Welt schwanger. Endlich hatte er die Malerei gefunden; er sah sich nach seinem Atelier zurückkehren, wie man zu einer geliebten Frau zurückkehrt mit heftig klopfendem Herzen, verzweifelt über diese eintägige Abwesenheit, die ihm ein endloses Verlassen schien; und er sah sich geradeswegs auf seine Leinwand zugehen und in einer einzigen Sitzung seinen Traum verwirklichen. Alle zwanzig Schritte hielt beim flackernden Lichte der Gaslaternen {{Bongrand}} ihn bei einem Knopfe seines Rockes fest, um ihm zu wiederholen, daß die Malerei ein ganz vertracktes Handwerk sei! So pfiffig er – {{Bongrand}} – auch sei, er verstehe doch noch nichts davon. Bei jedem neuen Werke sei er ein Anfänger; man möchte mit dem Kopf gegen die Wand rennen. Der Himmel erhellte sich allmählich; beide fuhren fort zu reden, jeder für sich sehr laut unter den erblassenden Sternen ... &&x &&ns &&am &&g="Viertes_Kapitel." &&fa Viertes Kapitel. &&fe &&ax &&lg=x Sechs Wochen später saß Claude eines Morgens bei der Malerei in einer Flut von Sonnenlicht, welches durch das breite Fenster in das Atelier hereinfiel. Anhaltender Regen hatte die Mitte des Monats August trübselig gestaltet; mit dem blauen Himmel war ihm der Mut zur Arbeit wiedergekommen. Sein großes Gemälde wollte nicht vorwärts; lange Vormittage arbeitete er daran mit stillem Fleiße als kämpfender und ausdauernder Künstler. Man klopfte an die Tür. Er glaubte, es sei die Haushälterin Frau Joseph mit seinem Frühstück; und da der Schlüssel immer in der Tür steckte, rief er einfach: »Herein!« Die Tür war aufgegangen, eine leichte Bewegung entstand, dann hörte alles wieder auf. Er fuhr fort zu malen, ohne sich auch nur umzuwenden. Allein diese bebende Stille, ein unbestimmter, zitternder Hauch erregte schließlich eine Unruhe in ihm. Er schaute sich um und war ganz verblüfft: eine Frau war da, in hellem Kleide, das Gesicht unter einem weißen Schleier halb verborgen. Er kannte sie nicht; sie hielt einen Rosenstock in der Hand, was ihn vollends stutzig machte. Aber plötzlich erkannte er sie. »Sie[[1]] sind's, Fräulein? ... Wahrhaftig, an Sie[[1]] habe ich nicht gedacht!« Es war Christine. Er hatte nicht rechtzeitig diesen wenig liebenswürdigen Ausruf – den Ausruf der Wahrheit selbst – unterdrücken können. Anfänglich hatte ihre Erinnerung ihn beschäftigt; als später die Tage seit nahezu zwei Monaten dahinflossen und sie kein Lebenszeichen von sich gegeben, war sie zu einer flüchtigen, bedauerten Erscheinung geworden, zu einem reizenden Gesicht, das auf Nimmerwiedersehen verblaßt. »Ja, ich bin's ... Ich dachte, es sei schlimm, Ihnen nicht zu danken ...« Errötend und stammelnd hatte sie es gesagt, nur mit Mühe die rechten Worte findend. Ohne Zweifel hatte der Aufstieg auf der Treppe ihr den Atem benommen, denn ihr Herz pochte sehr heftig. War denn dieser Besuch nicht am Platze, den sie so lange erwogen und schließlich ganz natürlich gefunden hatte? Das Schlimmste war, daß sie am Ufer diesen Rosenstock gekauft hatte in der zarten Absicht, dem jungen Manne ihre Dankbarkeit zu bezeugen; diese Blumen waren ihr jetzt eine arge Verlegenheit. Wie sollte sie ihm sie übergeben? Was sollte er von ihr denken? Das Unziemliche aller dieser Dinge war ihr erst klar geworden, als sie die Tür öffnete. Doch Claude, noch verlegener als sie, erschöpfte sich jetzt in einem Übermaße von Höflichkeit. Er hatte seine Palette hingelegt und durchstöberte das Atelier, um einen Sessel freizumachen. »Ich bitte Sie[[1]], Platz zu nehmen, mein Fräulein. Wahrhaftig, das ist eine Überraschung! Sie[[1]] sind zu liebenswürdig.« Als Christine Platz genommen hatte, ward sie ruhiger. Er war so drollig mit seinen lebhaften, scheuen Bewegungen, und sie selbst fand ihn so schüchtern, daß sie lächeln mußte. Mutig reichte sie ihm die Rosen. »Nehmen Sie[[1]]; damit Sie[[1]] sehen, daß ich nicht undankbar bin.« Er sagte zuerst nichts, sondern schaute sie nur gerührt an. Als er sah, daß sie sich nicht lustig über ihn machte, drückte er ihre beiden Hände mit voller Kraft; dann setzte er den Strauß sogleich in eine mit Wasser gefüllte Vase, wobei er wiederholte: »Aber Sie[[1]] sind ja ein famoser Kerl! ... Zum erstenmal mache ich einer Frau dieses Kompliment, auf Ehre!« Er trat wieder zu ihr und fragte, ihr fest in die Augen blickend: »Ist's wahr, Sie[[1]] haben mich nicht vergessen?« »Sie[[1]] sehen es ja«, antwortete sie lachend. »Warum haben Sie[[1]] denn zwei Monate gewartet?« Sie[[1]] errötete von neuem. Die Lüge, zu der sie ihre Zuflucht nahm, erneuerte ihre Verlegenheit. »Ich bin nicht frei, wie Sie[[1]] wissen ... Frau Vanzade ist sehr gut zu mir; allein sie ist gelähmt und kann nicht ausgehen. Sie[[1]] selbst hat – um meine[[Besitz]] Gesundheit besorgt – mich nötigen müssen auszugehen, um ein wenig frische Luft zu schöpfen.« Sie[[1]] schwieg von der Scham, in die ihr Abenteuer vom Bourbonufer sie in den ersten Tagen gestürzt hatte. Als sie in dem Hause der alten Dame sich geschützt sah, folterte sie – gleich einem Fehltritt – die Erinnerung an die bei einem Manne verbrachte Nacht. Sie[[1]] glaubte, es sei ihr gelungen, diesen Mann aus ihrem Gedächtnisse zu bannen; es war nur mehr ein böser Traum, dessen Umrisse sich verflüchtigten. Dann war aber, ohne daß sie wußte wie inmitten ihres ruhigen Dahinlebens das Bild aus dem Schatten wieder hervorgetreten, immer deutlicher, immer schärfer, bis es allmählich alle ihre Stunden ausfüllte. Warum sollte sie ihn vergessen? Sie[[1]] hatte ihm keinen Vorwurf zu machen; war sie ihm nicht – im Gegenteil – Dank schuldig? Der Gedanke, ihn wiederzusehen, anfangs zurückgewiesen und später lange bekämpft, war unabweislich geworden. Jeden Abend ward sie in der Einsamkeit ihres Zimmers von der Versuchung neuerlich ergriffen; es war ein Unbehagen, das sie aufregte, ein ihr selbst unbekanntes Verlangen; sie war erst etwas ruhiger geworden, als sie sich diese Verwirrung mit ihrem Bedürfnis, sich dankbar zu erweisen, erklärte. Sie[[1]] war in diesem schläfrigen Hause so allein, so beklommen; der Strom ihrer Jugend gärte so gewaltig; ihr Herz begehrte so stürmisch nach Freundschaft! ... »So habe ich denn,« fuhr sie fort; »meinen[[Besitz]] ersten Ausgang dazu benutzt ... Und es war so schön heute morgen nach dem vielen unfreundlichen Regen! ...« Claude stand selig vor ihr und beichtete auch seinerseits, aber ohne etwas zu verbergen zu haben. »Ich wagte nicht mehr, an Sie[[1]] zu denken ... Sie[[1]] sind wie eine der märchenhaften Feen, die aus dem Fußboden auftauchen und durch die Mauern verschwinden immer in dem Augenblicke, wo man sich dessen nicht versieht. Ich sagte mir: es ist aus; es ist vielleicht gar nicht wahr, daß sie in diesem Atelier geweilt ... Jetzt sind Sie[[1]] da, und das macht mir ein Vergnügen, ein großes Vergnügen!« Christine wandte lächelnd und verwirrt den Kopf weg und tat jetzt, als schaue sie sich um. Ihr Lächeln verschwand; die grelle Malerei, die sie hier wiederfand, die flammenden Skizzen aus dem Süden, die furchtbar genaue Anatomie der Studien ließen ihr Blut erstarren wie das erstemal. Sie[[1]] wurde von einer wahren Furcht ergriffen und sagte ernst, mit veränderter Stimme: »Ich störe Sie[[1]], ich gehe.« »Nein, nein!« rief Claude und hinderte sie, ihren Sessel zu verlassen. »Ich war schon ganz dumm von der Arbeit, und es wird mir wohltun, ein wenig mit Ihnen zu plaudern ... Dieses verwünschte Bild peinigt mich schon genug!« &&x Christine erhob die Augen und betrachtete das große Bild, diese Leinwand, die das vorigemal zur Wand umgedreht war, und das sie vergebens hatte sehen wollen. Der Hintergrund, die dunkle, von einem Lichtfelde durchbrochene Lichtung war nur mit großen Strichen angedeutet. Die zwei ringenden Frauen hingegen, die Blonde und die Braune, waren fast fertig und hoben sich im Lichte ab mit ihren frischen Tönen. Der Herr im Vordergrunde, dreimal neu begonnen, war unfertig geblieben. An der Hauptfigur, dem im Grase liegenden Weibe, arbeitete der Maler hauptsächlich. Er hatte den Kopf nicht wieder in Angriff genommen, sondern malte mit rastlosem Eifer an dem Körper, änderte jede Woche das Modell und war dermaßen verzweifelt darüber, sich selber nicht befriedigen zu können, daß er, der sich schmeichelte, nichts erfinden zu können, seit zwei Tagen sein Vorbild außerhalb der Natur suchte. Christine erkannte sich sogleich. Das war sie: dieses Mädchen, das im Grase lag, einen Arm unter dem Nacken, lächelnd, mit leerem Blick unter den geschlossenen Augenlidern. Dieses Mädchen hatte ihr Gesicht; und eine Empörung richtete sie auf, als habe jene auch ihren Körper und als habe man ihre jungfräuliche Blöße hier roh enthüllt. Hauptsächlich verletzte sie die Rücksichtslosigkeit dieser Malerei, die so schroff war, daß sie sich dadurch wie entehrt, ihr Fleisch gleichsam zermartert fühlte. Sie[[1]] begriff diese Malerei nicht, sie fand sie abscheulich; sie fühlte einen Haß gegen diese, einen instinktiven Haß wie gegen eine Feindin. Sie[[1]] erhob sich und sagte kurz: »Ich gehe.« Claude folgte ihr mit den Augen, erstaunt und betrübt über diese plötzliche Änderung. »Wie, so rasch?« »Ja, man erwartet mich. Leben Sie[[1]] wohl!« Sie[[1]] war schon bei der Tür, als er ihre Hand ergreifen konnte. Er wagte die Frage: »Wann werde ich Sie[[1]] wiedersehen?« Ihre kleine Hand wurde weicher in der seinen. Sie[[1]] schien einen Augenblick zu zögern. »Ich weiß es nicht, ich bin so stark beschäftigt«, sagte sie. Dann machte sie sich los und ging mit den rasch hervorgestoßenen Worten: »Wenn ich kann ... an einem dieser Tage ... Leben Sie[[1]] wohl!« Claude war unbeweglich auf der Türschwelle stehen geblieben. Was war ihr denn wieder? Was bedeutete diese plötzliche Zurückhaltung, diese dumpfe Gereiztheit? Er schloß die Tür und ging mit schlenkernden Armen, ohne zu begreifen, im Atelier herum, den Satz, die Bewegung suchend, die sie verletzt haben mochte. Jetzt ergriff ihn der Zorn, und er machte ihm mit einem Fluche, mit einem heftigen Achselzucken Luft, wie um sich von dieser blöden Sorge zu befreien. Kannte man sich jemals bei den Weibern aus? Doch der Anblick des Rosenstraußes in dem Blumentopfe beruhigte ihn; der Raum war von dem Dufte der Rosen ganz erfüllt, und in diesem Dufte machte er sich still wieder an die Arbeit. Abermals verflossen zwei Monate. Wenn in den ersten Tagen das geringste Geräusch entstand, wenn Frau Joseph des Morgens das Frühstück oder Briefe brachte, hob Claude lebhaft den Kopf und machte unwillkürlich eine Gebärde der Enttäuschung. Er ging nicht mehr vor vier Uhr aus, und als eines Abends bei seiner Heimkehr die Hausbesorgerin ihm erzählte, daß gegen fünf Uhr ein Mädchen ihn gesucht habe, beruhigte er sich nicht eher, als bis er aus ihrer Schilderung erkannte, daß das Modell {{Zoé Piédefer}} die Besucherin gewesen. Als Tage auf Tage folgten, ohne daß sich etwas Neues ergab, kam ein wütender Arbeitseifer über ihn; er war für jedermann unzugänglich, heftig, daß selbst seine Freunde ihm nicht zu widersprechen wagten. Mit einer Gebärde fegte er die ganze Welt hinweg; es gab für ihn nichts mehr als die Malerei, man mochte seinethalben die Anverwandten, die Kameraden und vor allem die Weiber erdrosseln! Aus diesem Hitzfieber fiel er dann in eine furchtbare Trostlosigkeit; es kam eine Woche des Unvermögens und des Zweifels, eine ganze Marterwoche, daß er glaubte, vom Blödsinn befallen zu sein. Dann hatte er sich wieder gefaßt, hatte seine gewohnte Lebensweise, seinen einsamen Kampf mit seinem Gemälde wieder aufgenommen; da fuhr er an einem nebeligen Morgen gegen Ende Oktober plötzlich zusammen und legte rasch seine Palette hin. Man hatte nicht geklopft, aber er hatte einen die Treppe heraufsteigenden Schritt erkannt. Er öffnete, und sie trat ein. Sie[[1]] war es endlich. &&x Christine trug an jenem Tage einen weiten Mantel von Wollstoff, der sie ganz einhüllte. Ihr Samthütchen war von dunkler Farbe; der Nebel hatte ihren schwarzen Spitzenschleier mit Perlen besetzt. Aber er fand sie sehr frisch in diesem ersten Frösteln des Winters. Sie[[1]] entschuldigte sich, weil sie so lange nicht gekommen, und lächelte dabei mit ihrer ehrlichen Miene; sie gestand ihm, daß sie gezögert habe, daß sie überhaupt nicht mehr habe kommen wollen; ja, sie habe so ihre eigenen Gedanken; es seien dies Dinge, die er begreifen müsse. Er begriff nicht und suchte auch nicht zu begreifen; ihm genügte, daß sie da war, daß sie nicht zürnte, daß sie als gute Kameradin von Zeit zu Zeit heraufkommen wollte. Eine Erklärung fand zwischen ihnen nicht statt; die Qualen und Kämpfe der verflossenen Tage behielt jeder für sich. Fast eine Stunde lang plauderten sie sehr zutraulich ohne Rückhalt und Feindseligkeit, als sei ohne ihr Wissen während ihrer Trennung das gute Einvernehmen zwischen ihnen entstanden. Die Skizzen und Studien an den Wänden schien sie gar nicht zu sehen. Einen Augenblick betrachtete sie die große Leinwand, die nackte Frau, die vom flammenden Golde der Sonne umflutet, im Grase lag. Nein, das war nicht sie; dieses Mädchen hatte weder ihr Gesicht, noch ihren Körper. Wie hatte sie in diesem furchtbaren Farbengemengsel sich selbst erkennen können? Ihre Freundschaft verwandelte sich fast in Mitleid für diesen guten Jungen, der in seiner Figur nicht einmal ihre Ähnlichkeit anbrachte. Beim Scheiden reichte sie auf der Türschwelle ihm herzlich die Hand. »Daß Sie[[1]] es nur wissen: ich komme wieder.« »Ja, in zwei Monaten.« »Nein, die nächste Woche ... Sie[[1]] werden schon sehen; am Donnerstag.« Am Donnerstag kam sie wieder sehr pünktlich; und seitdem regelmäßig jede Woche einmal, anfänglich ohne einen Tag zu bestimmen, je nachdem sie freie Zeit fand; später wählte sie den Montag, weil Frau Vanzade ihr diesen Tag bewilligt hatte, um im Boulogner {{[Boulogner]}} Gehölze sich zu ergehen und frische Luft zu schöpfen. Sie[[1]] mußte um elf Uhr zu Hause sein; sie beeilte sich zu Fuße und kam ganz gerötet an, denn es war ein weiter Weg von Passy nach dem Bourbonufer. Während der vier Wintermonate Oktober bis Februar kam sie so, zuweilen im Regen, zuweilen im Nebel, oft bei dem bleichen Schein der Wintersonne, die eine sanfte Wärme an den Ufern verbreitete. Vom zweiten Monate ab kam sie zuweilen auch unversehens an einem andern Tage der Woche, einen Gang in die Stadt benutzend, um heraufzukommen; dann konnte sie nur zwei Minuten bleiben; man hatte knapp Zeit, sich guten Tag zu sagen, dann war sie schon wieder auf der Treppe, von wo sie ihm ein Lebewohl zurief. Claude begann jetzt, Christine kennen zu lernen. In seinem ewigen Mißtrauen gegen das Weib war ihm ein letzter Argwohn geblieben, der Gedanke an ein galantes Abenteuer in der Provinz. Allein die sanften Augen und das helle Lachen des Mädchens hatten jeden Verdacht getilgt; er fühlte, daß er es mit einem unschuldigen großen Kinde zu tun habe. Wenn sie ankam ohne Verlegenheit in froher, ungezwungener Stimmung wie bei einem Freunde, ging ein unerschöpfliches Plaudern an. Zwanzigmal schon hatte sie ihm ihre in Clermont verlebte Kinderzeit erzählt, und immer wieder kam sie darauf zurück. An dem Abend, als ihr Vater, der Kapitän Hellgrain {{[Hellgrain]}}, seinen letzten Schlaganfall hatte und wie vom Blitz getroffen von seinem Lehnstuhl zu Boden fiel, war sie mit ihrer Mutter in der Küche. Sie[[1]] erinnerte sich genau ihrer Rückkehr, dann der schrecklichen Nacht, wie der Kapitän, ein sehr großer, dicker Mann mit hervortretender Kinnlade auf der Matratze lag; sie hatte ihn nur so in ihrer Erinnerung behalten. Auch sie hatte diese vorspringende Kinnlade, und wenn ihre Mutter nicht wußte, wie sie das Kind bändigen sollte, pflegte sie ihr zuzurufen: »Ha, Spitzkinn, du wirst ein Wüterich wie dein Vater!« Arme Mutter! Wieviel Ärger hatte sie mit ihrer Unbesonnenheit, mit ihren geräuschvollen Spielen ihr verursacht! So weit sie nur zurückdenken konnte, sah sie diese immer an dem nämlichen Fenster, klein, schmächtig, geräuschlos ihre Fächer malend, mit ihren sanften Augen, die alles waren, was sie heute noch von ihr hatte. Man sagte es der guten Frau manchmal, um ihr eine Freude zu machen: »Sie[[1]] hat ihre Augen«. Dann lächelte sie und war glücklich, daß sie sich wenigstens in diesem Teil des Gesichtes ihrer Tochter wiederfand. Seit dem Tode ihres Gatten arbeitete sie so spät in die Nacht hinein, daß sie dabei ihr Sehvermögen einbüßte. Aber wie wollte sie ihr Leben fristen? Ihr Witwengehalt von sechshundert Franken genügte kaum für die Bedürfnisse des Kindes. Fünf Jahre lang hatte sie ihre Mutter mit jedem Tage blasser und magerer werden sehen, bis sie nur mehr ein Schatten war. Sie[[1]] machte sich jetzt unablässige Vorwürfe, weil sie nicht sehr artig gewesen, durch ihren Mangel an Fleiß die Mutter tief betrübt hatte. An jedem Montag hatte sie mit schönen Vorsätzen begonnen und versprochen, der Mutter bald in ihrem Gelderwerbe beizustehen, aber trotz ihrer Anstrengungen wollten Arme und Beine nicht ruhen; sie wurde krank, wenn sie stille saß. Eines Morgens hatte die Mutter sich nicht erheben können, und sie starb mit verlöschender Stimme, die Augen voll Tränen. Immer sehe sie die Tote so, die großen, tränennassen Augen auf sie gerichtet. &&x Zu anderen Malen, wenn Christine von Claude über Clermont befragt wurde, vergaß sie alle Trauer, um sich in mehr heiteren Erinnerungen zu ergehen. Sie[[1]] lachte hell auf, wenn sie sich erinnerte, wie sie in der {{Eclache}}-Straße kampierten, sie zu Straßburg geboren, ihr Vater ein {{Gascogner}}, ihre Mutter eine Pariserin, alle drei nach der {{Auvergne}} verschlagen, die sie verabscheuten. Die {{Eclache}}-Straße, die eng und feucht bis zum Pflanzengarten hinabsteigt, war trübselig wie ein Keller; kein Kaufladen, niemals ein Fußgänger, nichts als düstere Häuserseiten mit stets geschlossenen Fensterläden; um die Mittagsstunde jedoch drang die Sonne selbst in die inneren Höfe ein und ließ ihr helles Licht zu den Fenstern hereinströmen. Ihr Speisezimmer öffnete sich auf einen breiten Balkon, eine Art hölzerne Galerie, auf deren Geländer eine riesige {{Glycine}} stand, die sie in ihr Grün einhüllte. Dort war sie herangewachsen, anfänglich neben ihrem siechen Vater, dann mit ihrer Mutter eingeschlossen, welche der geringste Ausgang erschöpfte. Stadt und Umgebung waren ihr so vollständig unbekannt, daß sie und Claude schließlich lachten, wenn sie seine Fragen nur mit einem ewigen »Ich weiß nicht« beantworten konnte. Berge? Ja, die gab es auf einer Seite; man bemerkte sie am Ende der Straßen. Auf der andern Seite sah man, wenn man durch andere Straßen kam, ebene Felder sich endlos dahinziehen. Aber dahin ging man niemals; es war zu weit. Sie[[1]] kannte bloß den {{Puy de Dôme}}, der ganz rund war wie ein Höcker. In der Stadt hätte sie mit geschlossenen Augen nach der Kathedrale gehen können; man machte einen Umweg über den {{Youde}}-Platz und ging dann durch die Fleischerstraße. Mehr durfte man sie nicht fragen, der Rest verwirrte sich; es waren abschüssige Gäßchen und Promenaden, eine abfallende Stadt von schwarzer Lava, über welche sich Wolkenbrüche unter furchtbaren Donnergetöse entluden, um ihre Wassermassen gleich reißenden Strömen durch die Straßen zu wälzen. Sie[[1]] zitterte jetzt noch, wenn sie sich dieser Ungewitter erinnerte. Der Blitzableiter des Museums, den sie von ihrem Fenster über den Dächern sah, stand stets im Feuer. In dem Speisesaal, der auch als Salon diente, hatte sie ein Fenster für sich, eine tiefe Nische, so groß wie ein Zimmer, wo ihr Arbeitstisch und ihre kleinen Sachen standen. Hier hatte ihre Mutter sie lesen gelehrt; hier war sie später bei den Vorträgen ihrer Lehrer eingeschlafen, so sehr ermüdeten sie die Unterrichtsstunden. Sie[[1]] machte sich denn auch über ihre Unwissenheit lustig. Ein wohlunterrichtetes Fräulein, das nicht einmal die Namen aller Könige von Frankreich mit den Daten hersagen konnte; auch eine famose Musikerin, die es nicht weiter gebracht hatte als bis zum »Schifflein klein«; eine glänzende Aquarellistin, die keinen Baum zustande brachte, weil die Blätter so schwer nachzumachen sind. Dann ging sie plötzlich zu den fünfzehn Monaten über, die sie nach dem Tode ihrer Mutter bei den Schwestern von der Heimsuchung zugebracht hatte in einem großen Kloster vor der Stadt, mit herrlichen Gärten. Sie[[1]] erschöpfte sich in Geschichten von den Nonnen: es gab da Eifersüchteleien, Dummheiten, Einfältigkeiten zum Erschrecken. Sie[[1]] sollte Nonne werden, aber sie erstickte fast in der Kirche. Sie[[1]] war aufs höchste überrascht, als die Oberin, die sie sehr liebte, ihr das Klosterleben ausredete und ihr diesen Platz bei Frau Vanzade verschaffte. Sie[[1]] begriff noch heute nicht, wie die würdige Nonne so deutlich in ihrer Seele gelesen. Denn seitdem sie in Paris lebte, war sie tatsächlich in eine vollkommene religiöse Gleichgültigkeit verfallen. Wenn die Erinnerungen aus Clermont erschöpft waren, wollte Claude ihr Leben bei Frau Vanzade kennen lernen; und sie erzählte ihm jede Woche neue Einzelheiten. In dem kleinen, stillen, verschlossenen Hause zu Passy floß das Leben regelmäßig dahin, mit dem leisen Ticktack der alten Uhren. Zwei alte Diener, – eine Köchin und ein Kammerdiener – seit vierzig Jahren im Hause, schlichen allein, geräuschlos wie Gespenster, durch die Gemächer. Von Zeit zu Zeit kam ein Besuch, ein achtzigjähriger General, dermaßen ausgetrocknet, daß er kaum auf den Teppich drückte. Es war ein Haus der Schatten; die Sonne drang durch die Ritzen der Jalousien nur mit dem gedämpften Schein einer Nachtlampe. Seitdem Frau Vanzade, blind und an den Knien gelähmt, ihr Zimmer nicht mehr verließ, hatte sie keine andere Zerstreuung, als sich fromme Bücher endlos vorlesen zu lassen. Wie lästig war dem jungen Mädchen dies fortwährende Vorlesen! Hätte sie irgendeine Arbeit verstanden, mit welcher Freude würde sie Kleider zugeschnitten, Hüte geputzt, Blumen gemacht haben! Wie traurig, daß sie zu nichts brauchbar war; sie hatte alles gelernt und taugte doch zu nichts als zu einer Beschäftigung, in der sie halb und halb Dienstmädchen war! Überdies litt sie in diesem verschlossenen, starren Hause, das nach Moder roch; sie ward zuweilen von den übermütigen Anfällen ihrer Kindheit ergriffen wie in jener Zeit, da sie sich ihrer Mutter zuliebe zur Arbeit zwingen wollte; es war ein Aufruhr des Blutes in ihr; sie hätte schreien und hüpfen mögen, trunken von dem Bedürfnisse zu leben. Allein Frau Vanzade behandelte sie so sanft, wenn sie sie aus ihrem Zimmer entließ und ihr lange Spaziergänge empfahl, daß sie von Gewissensbissen erfüllt war, wenn sie vom Bourbonufer zurückkehrend, lügen, vom Boulogner Gehölz reden, eine Feier in der Kirche erfinden mußte, wohin sie seit Monaten keinen Fuß mehr setzte. Mit jedem Tage schien Frau {{Vandaze}} eine größere Zärtlichkeit für sie zu empfinden; sie erhielt unaufhörlich Geschenke, bald ein Seidenkleid, bald eine alte kleine Uhr, selbst Leibwäsche. Sie[[1]] liebte die alte Frau sehr und hatte eines Abends geweint, als die alte Dame sie ihre Tochter nannte; sie versprach, sie niemals zu verlassen; ihr Herz war von Mitleid erfüllt, wenn sie sie so alt und schwach sah. »Bah!« sagte Claude eines Morgens, »Sie[[1]] werden belohnt; Sie[[1]] macht Sie[[1]] zu Ihrer Erbin.« Christine war bei diesen Worten ganz betroffen. »Wo denken Sie[[1]] hin? Man sagt, sie habe drei Millionen. Nein, nein, ich habe nie daran gedacht; ich will es nicht; was würde aus mir werden?« »Reich würden Sie[[1]] werden! Ohne Zweifel wird sie Sie[[1]] vorher verheiraten.« Bei diesem Worte unterbrach sie ihn mit einem hellen Lachen. »Mit einem ihrer alten Freunde; vielleicht mit dem General, der ein silbernes Kinn hat. Das ist ein guter Spaß.« Beide blieben zueinander wie alte Bekannte. Er war in allen Dingen fast ebenso unerfahren wie sie, denn er hatte nur Mädchen kennen gelernt, die ihm der Zufall in den Weg geführt, hatte über die Wirklichkeit erhaben, in romantischen Liebschaften gelebt. Es schien ihnen – ihm wie ihr – sehr einfach und natürlich, sich in dieser Weise im geheimen als Freunde zu sehen ohne andere Galanterie, als einen Händedruck beim Kommen und Gehen. Er fragte sich nicht einmal, was sie in ihrer Unwissenheit eines ehrbaren Mädchens vom Leben und vom Manne wissen mochte; sie hingegen ahnte seine Furchtsamkeit und schaute ihn zuweilen fest an mit dem Augenflimmern und der erstaunten Verwirrung der sich selbst unbekannten Leidenschaft. Aber nichts Glühendes, nichts Erregtes verdarb ihnen noch das Vergnügen, das ihnen ihr Beisammensein verursachte. Ihre Hände blieben frisch; sie sprachen von allem in heiterem Tone, zankten zuweilen wie Freunde, die sicher waren, niemals uneinig zu werden. Aber diese Freundschaft ward eine so lebhafte, daß sie ohne einander nicht mehr leben konnten. &&x Sobald Christine ankam, zog Claude den Schlüssel aus der Tür. Sie[[1]] selbst verlangte es: so würde sie niemand stören. Schon nach wenigen Besuchen hatte sie von dem Atelier Besitz ergriffen; sie schien daselbst zu Hause zu sein. Es quälte sie, daselbst einige Ordnung zu schaffen, denn es ging ihr an die Nerven, sich inmitten einer solchen Verwahrlosung zu bewegen. Allein das war keine leichte Arbeit; der Maler verbot der Frau Joseph auszukehren aus Furcht, daß der Staub sich auf die frischen Malereien legen könne; und die ersten Male, wenn seine Freundin ein wenig aufzuräumen versuchte, folgte er ihr mit unruhigem, flehendem Blick. Wozu die Dinge von ihrem Platze zu rücken? Genügte es nicht, sie zur Hand zu haben? Allein sie bekundete eine so muntere Ausdauer, schien so glücklich, Hausmütterchen spielen zu können, daß er sie schließlich gewähren ließ. Wenn sie ankam und die Handschuhe abgestreift hatte, steckte sie ihren Rock auf, um ihn nicht zu beschmutzen, schob alles durcheinander und räumte im Handumdrehen in dem geräumigen Atelier auf. Vor dem Ofen lag kein Aschehaufen mehr; der Wandschirm verbarg das Bett und die Toilette; das Sofa war gebürstet, der Schrank abgewischt, daß er schimmerte, der weichholzene Tisch vom Kochgeschirr befreit und von den Farbenflecken gereinigt. Über den in schöner Gleichmäßigkeit aufgestellten Sesseln und den an die Wände gelehnten lahmen Staffeleien hing die große Kuckucksuhr mit ihren flammendroten Farben, und ihr Ticktack schien heller zu klingen. Es war prächtig; man hätte das Atelier kaum wieder erkannt. Erstaunt sah er sie hin und her gehen, singend schalten und walten. War das die Faulenzerin, die bei der geringsten Arbeit unerträgliche Krämpfe bekam? Doch sie lachte bei dieser Frage; die Kopfarbeit sei ihr zuwider, die Arbeit der Füße und Hände hingegen tue ihr wohl, richte sie auf wie einen jungen Baum. Sie[[1]] gestand – wie man einen Fehler gesteht – ihren Geschmack für die niedrigen Sorgen der Hauswirtschaft, diesen Geschmack, der ihre Mutter zur Verzweiflung brachte, deren Erziehungsideal die Kunst des angenehmen Lebens war, die Lehrerin mit den feinen Händen, die nichts anrührt. Darum wollte man es ihr auch verwehren, wenn sie – noch als kleines Mädchen – mit wonnigem Eifer fegte und scheuerte und die Köchin machte. Heute noch würde sie weniger Langeweile haben, wenn es bei Frau Vanzade ihr erlaubt wäre, sich mit der Hauswirtschaft zu befassen. Aber was würde man gesagt haben? Sie[[1]] würde sogleich aufgehört haben, eine Dame zu sein. So kam sie, um diese ihre Neigung zu befriedigen, nach dem Bourbonufer in das Atelier, wo sie ordnete und schaffte, bis ihr der Atem ausging, mit den Augen einer Sünderin, die von der verbotenen Frucht kostet. Claude merkte jetzt in seiner Umgebung die fürsorgliche Hand einer Frau. Um sie Platz nehmen zu lassen und ruhig mit ihr plaudern zu können, bat er sie zuweilen, einen zerrissenen Hemdärmel oder eine geplatzte Naht seiner Jacke wieder zusammenzunähen. Sie[[1]] selbst hatte sich erbötig gemacht, seine Leibwäsche zu untersuchen. Aber da war sie nicht mehr seine schöne, rührige Hauswirtin. Vor allem verstand sie es nicht; sie hielt die Nadel wie ein Mädchen, das in der Verachtung gegen die Näherei erzogen worden. Und dann: diese Unbeweglichkeit, diese Aufmerksamkeit, diese kleinen Punkte, die einer nach dem andern sorgfältig beobachtet werden mußten, brachten sie zur Verzweiflung. Das Atelier schimmerte wie ein Salon, aber Claude blieb in Lumpen; und beide scherzten darüber und fanden es drollig. Wie glücklich verbrachten sie diese vier Wintermonate, während es draußen regnete und fror, in diesem Atelier, wo der rotglühende Ofen summte wie eine Orgelpfeife. Der Winter schien sie hier noch mehr zu vereinsamen. Wenn der Schnee die benachbarten Dächer bedeckte, daß die Spatzen herbeiflogen und an die Scheiben des breiten Fensters klopften, lächelten sie, weil es ihnen so warm war in diesem weltverlorenen Winkel inmitten der großen, stillen Stadt. Nicht bloß in diesem engen Winkel waren sie beisammen; sie erlaubte ihm schließlich, sie nach Hause zu begleiten. Lange hatte sie darauf bestanden, allein fortzugehen, von der Scham gequält, draußen am Arme eines Mannes gesehen zu werden. Als aber eines Tages ein plötzlicher Regenschauer niederging, mußte sie einwilligen, daß er mit einem Regenschirm sie hinunter begleitete; und da der Regen sogleich, kaum daß sie jenseits der Louis-Philipp-Brücke waren, aufgehört, hatte sie ihn sogleich zurückgesandt; sie waren nur wenige Minuten, an die Brüstung gelehnt, beisammen geblieben, um das Treiben auf dem Markte zu betrachten, ganz glücklich, so unter dem freien Himmel beisammen zu sein. Unten hart am Pflaster des Hafens lagen die großen Kähne voll Äpfel in vier langen Reihen so dicht beisammen, daß man Bretterstege zwischen sie legen konnte, wo Frauen und Kinder umherliefen. Sie[[1]] fanden ihre Freude an diesen massenhaft aufgestapelten Früchten, die in großen Haufen auf der Böschung lagen oder in Körben befördert wurden. Ein starker, fast widriger Geruch – ein Geruch von gärendem Apfelsaft – drang mit dem feuchten Hauch des Flusses herauf. Als in der nächsten Woche die Sonne wieder zum Vorschein kam und Claude Christinen die Einsamkeit der Ufer rings um die Ludwigsinsel rühmte, willigte sie ein, einen Spaziergang dahin zu machen. Sie[[1]] gingen das {{Anjou}}-Ufer hinauf, blieben bei jedem Schritte stehen, interessierten sich für das Leben auf der {{Seine}}, für das Baggerschiff mit seinen kreischenden Zubern, für das schwimmende Waschhaus, aus dem lautes Gezänk hervordrang, für einen Krahn weit unten, der die Ladung eines Lastenschiffes löschte. Sie[[1]] war ganz besonders erstaunt: war es möglich, daß dieses so lebhafte Ulmenufer drüben, daß dieses Ufer Heinrichs IV. mit seiner unermeßlichen Böschung, seinem Strande, wo Scharen von Kindern und Hunden sich auf Sandhaufen wälzten, daß dieser ganze Horizont einer bevölkerten und arbeitsamen Stadt jener Fleck eines verwunschenen Ortes sei, den sie in der Nacht ihrer Ankunft gleichsam in Blut getaucht gesehen? Sie[[1]] umgingen dann die Spitze der Insel, verlangsamten ihren Gang noch mehr, um sich der Einsamkeit und der Stille zu freuen, die rings um die alten Paläste herrschte. Sie[[1]] betrachteten das Wasser, wie es sich schäumend durch den Balkenwald der Verpfählung wälzte, und kehrten dann längs des {{Bethune}}-Ufers und des {{Orleans}}-Ufers zurück, gleichsam einander näher gebracht durch die Ausbreitung des Flusses, sich enger zusammendrängend angesichts dieser ungeheuren Flut, die Blicke in der Ferne schweifend, bis zum Weinhafen und bis zum Botanischen Garten. Unter dem blassen Himmel blauten die Kuppeln von Monumentalbauten. Als sie bei der Ludwigsbrücke ankamen, mußte er ihr die Liebfrauenkirche nennen, die sie nicht erkannte, weil sie sie von der Rückseite sah, kolossal und zwischen ihren Strebepfeilern hockend, die ruhenden Pranken glichen, beherrscht von dem Doppelhaupt ihrer Türme über dem ungeheuerlich langen Rücken. Eine wahre Entdeckung war ihnen an jenem Tage die Westspitze der Insel, dieser Schnabel eines stets verankerten Schiffes, das mitten in der Flucht der beiden Strömungen Paris betrachtet, ohne es jemals zu erreichen. Sie[[1]] stiegen eine sehr steile Treppe hinab und entdeckten eine mit großen Bäumen bestandene Böschung, es war ein köstlicher Schlupfwinkel, ein Zufluchtsort inmitten der Menge; ringsumher das lebendige Gewühl von Paris an den Ufern, auf den Brücken, während sie hier, am Flußufer die Freude genossen, allein zu sein, ungekannt von allen. Fortan war dieses Ufer ihr ländlicher Winkel, der Fleck im Freien, wo sie sonnenhelle Stunden zubrachten, wenn die große Hitze des Ateliers, wo der rotglühende Ofen summte, sie beinahe erdrückte und ihre Hände in ein Fieber zu versetzen begann, vor dem sie Angst bekamen. &&x Indes hatte Christine bisher sich geweigert, sich weiter als bis zum Markthafen begleiten zu lassen. Auf dem Ulmen-Ufer verabschiedete sie stets Claude, als ob Paris, mit seiner Menge und seinen möglichen Begegnungen bei dieser langen Zeile des Ufers angefangen hätte, die sie entlang gehen mußte. Allein Passy war so fern, und sie langweilte sich so sehr, allein einen so weiten Weg zurückzulegen, dass sie allmählich nachgab und ihm erlaubte, zuerst bis zum Rathause, später bis zum {{Pont-Neuf}} und dann bis zu den {{Tuilerien}} mitzugehen. Sie[[1]] vergaß die Gefahr; die beiden gingen jetzt Arm in Arm dahin wie ein junges Ehepaar; dieser unaufhörlich wiederholte Spaziergang, dieses langsame Gehen auf demselben Bürgersteig neben dem Flusse hatte für sie einen unendlichen Reiz angenommen, ein so glückliches Genießen, daß ihnen dünkte, sie könnten niemals Schöneres empfinden. Sie[[1]] gehörten einander im Tiefinnersten an, ohne sich einander noch hingegeben zu haben. Es war, als steige die große Seele der Stadt aus dem Flusse auf und hülle sie mit all der Liebe ein, die durch all die Jahrhunderte in diesen alten Mauern gewaltet. Seit den sehr kalten Tagen des Dezembers kam Christine nur nachmittags, und gegen vier Uhr, wenn die Sonne unterging, begleitete Claude an seinem Arm sie zurück. Wenn sie an hellen Tagen bei der Louis-Philippe-Brücke anlangten, lag der ganze Ausblick auf die endlosen Ufer vor ihnen da. Von einem Ende bis zum andern erwärmte die zur Rüste gehende Sonne mit einem Goldstaub die Häuser des rechten Ufers, während das linke Ufer, die Inseln, die Gebäude sich in einer schwarzen Linie vom flammenden Abendhimmel abhoben. Zwischen diesem schimmernden und diesem dunklen Saum leuchtete die {{Seine}} mit dem tanzenden Widerschein der Abendsonne auf ihren Wellen, quer durchschnitten durch die dünnen Striche ihrer Brücken, die fünf Bogen der Liebfrauen-Brücke, den einzigen Bogen der {{Arcole}}-Brücke, dann der Wechselbrücke, dann der Neuen Brücke, einer immer schwächer als der andere und jeder nach seinem Schatten einen lichten Fleck zeigend, ein Stück samtblaues Wasser, das wie im Widerschein eines Spiegels verblaßte; während die vom dämmernden Abendhimmel sich abhebenden Linien des linken Ufers mit dem Schattenbilde der spitzigen Türme des Justizpalastes endigten, die schroff in die Leere starrten, rundete sich rechts eine weiche Krümmung in der Helle so unendlich lang, daß der Flora-Pavillon weit unten, der am äußersten Punkte wie eine Zitadelle hervortrat, ein Feenschloß schien, bläulich, leicht zitternd in dem rosigen Dunst am Horizonte. Sie[[1]] aber wandten, unter den laublosen Platanen im Sonnenlichte dahin schreitend, die Augen von diesem blendenden Bilde ab und erfreuten sich an gewissen Winkeln, immer denselben, besonders an einem: dem Haufen sehr alter Häuser über dem Markthafen; unten kleine Läden mit Trödelkram und Fischereiartikeln in einstöckigen Häuschen, überragt von Terrassen mit Lorbeerbäumen und wildem Wein; dahinter standen noch höher wackelige Häuser mit Trockenwäsche in den Fenstern, eine Anhäufung von sonderbaren Gebäuden, ein Wirrsal von Brettern und Fachwerk, einstürzende Mauern und hängende Gärten mit farbigen Glaskugeln, von den letzten Strahlen der Abendsonne beschienen. Weiter wandernd, ließen sie bald die einander folgenden großen Gebäude, die Kaserne, das Rathaus hinter sich, um sich für die andere Seite des Flusses zu interessieren, für die Altstadt, die eng gedrängt hinter ihren geraden, glatten Mauern ohne Uferböschung sich dahinzog. Die die dunklen Häuser überragenden Türme der Liebfrauenkirche strahlten wie neu vergoldet. Die Brüstung des Ufers war von da an mit den Kästen der Antiquar-Buchhändler besetzt; unter einem Bogen der Liebfrauen-Brücke kämpfte ein Kohlenkahn mit der reißenden Strömung. An Blumen-Markttagen machten sie trotz des rauhen Wetters hier Halt, um die ersten Veilchen und Frühnelken zu betrachten. Das linke Ufer lag jetzt frei und zog sich endlos dahin. Jenseits der Pfefferbüchsen des Justizpalastes tauchten die kleinen, fahlen Häuser des Uhrenufers auf, bis zu dem Baumdickicht am Uferdamm; je weiter sie vorwärts kamen, tauchten andere Ufer aus dem Dunste auf: in sehr großer Ferne das Voltaire-Ufer, das {{Mala¬quais}}-Ufer, die Kuppel des Instituts, der viereckige Bau der Münze, ein langer, grauer Strich von Häusern, an denen man selbst die Fenster nicht unterscheiden konnte, ein Vorgebirge von Dächern, deren ungleiche Schornsteine sie einer felsigen Küste ähnlich machten, die sich mitten aus einem leuchtenden Meere erhebt. Gegenüber trat der Flora-Pavillon aus dem traumhaften Nebeldunste hervor und hob seine Umrisse kräftig in dem letzten Aufflackern der Sonne ab. Jetzt entfaltete sich rechts und links zu beiden Seiten des Flusses der tiefe Hintergrund der Sebastopol- {{[Sebasto¬pol]}} und Palast-Promenade; es waren die neuen Bauten am Gerber-Ufer, das neue Polizeigebäude, die frühere Neue Brücke mit dem schwarzen Fleck seiner Statue; dann der Louvre, die {{Tuilerien}}; und im Hintergrunde, jenseits von {{Grenelle}}, die endlosen Fernen, die Hänge von {{Sèvres}}, das in eine Strahlenflut getauchte Land. Claude ging niemals weiter mit; vor der Königs-Brücke, bei den großen Bäumen der Badeanstalt {{Vigiers}} ließ ihn Christine stets haltmachen; wenn sie sich umwandten, um im goldigen Lichte der roten Sonnenscheibe noch einen Händedruck zu wechseln, schauten sie zurück und entdeckten am anderen Horizont die Ludwigs-Insel, woher sie kamen: ein verschwimmendes Ende der Hauptstadt, über welche unter dem schiefergrauen Osthimmel sich bereits die Nacht herabsenkte. Welch schöne Sonnenuntergänge genossen sie während dieser allwöchentlichen Bummel! Die Sonne begleitete sie in dieser zitternden Helle der Ufer durch das Leben an der {{Seine}} mit dem hüpfenden Widerschein ihres Lichtes auf den Wellen des Flusses, vorbei an den Kaufläden, die so warm waren wie Treibhäuser, an den Blumentöpfen der Samenhändler, an den geräuschvollen Käfigen der Vogelhändler, durch all den Lärm der Töne und Farben, das aus dem Flußufer die ewige Jugend der Städte macht. Während sie gingen, kleidete sich links über der dunklen Linie der Häuser der glühende Abendhimmel in Purpurrot. Das Gestirn schien sie zu erwarten, neigte sich immer tiefer, rollte langsam nach den entfernten Dächern, sobald sie die Liebfrauen-Brücke hinter sich hatten, angesichts des verbreiterten Flusses. In keinem hundertjährigen Walde, auf keiner Bergstraße, in keiner wiesenreichen Ebene hat es jemals solche großartigen Sonnenuntergänge gegeben wie hinter der Kuppel des Instituts. Paris geht in seiner Herrlichkeit schlafen. Bei jedem ihrer Spaziergänge wechselte der Sonnenbrand; neue Glutherde fügten ihre Feuer dieser Flammenkrone hinzu. Als eines Abends ein Platzregen sie überraschte, tauchte die Sonne hinter dem Regen wieder auf, entzündete das ganze Gewölk, und sie sahen über ihren Häuptern nichts als diesen flammenden Wasserstaub, der in blau und rosa schimmerte. An solchen Tagen hingegen, an denen der Himmel hell war, sank die Sonne einer Feuerkugel gleich majestätisch in einem ruhigen Saphir-See hernieder; einen Augenblick legte sich die schwarze Kuppel des Instituts vor, daß sie wie ein abnehmender Mond aussah; dann nahm die Kugel eine violette Färbung an und versank in einem blutrot gewordenen See. Vom Februar ab vergrößerte sich ihre krumme Bahn, und sie fiel geradeaus in die {{Seine}}, die am Horizonte bei der Annäherung dieses rotglühenden Eisens zu sieden schien. Die großen Dekorationen aber, die großen Zaubererscheinungen des Raumes flammten nur an stürmischen Abenden auf. Je nach der Laune des Windes gab es dann Schwefelmeere {{[Schwefel¬meere]}}, die Korallenfelsen peitschten, oder Paläste und Türme, über einander geschobene Bauten, die brannten, einstürzten, Lavaströme durch ihre Breschen ergießend; oder auch das Gestirn, das schon hinter einem Dunstschleier verschwunden gewesen, durchbrach diesen Wall mit einer solchen Lichtflut, daß Funkengarben hervorsprühten und von einem Ende des Himmels bis zum anderen schossen, sichtbar wie ein Flug goldener Pfeile. Es dämmerte der Abend, und sie schieden mit dieser letzten blendenden Erscheinung in den Augen; sie fühlten, daß dieses sieghafte Paris mitschuldig sei an der Freude, die sie nicht erschöpfen konnten, an der Freude, immer wieder von neuem diesen Spaziergang längs der steinernen Brustwehren zu beginnen. &&x Eines Tages ereignete sich plötzlich, was Claude befürchtet hatte, ohne es zu sagen. Christine schien nicht mehr zu glauben, daß man ihr begegnen könne. Wer kannte sie übrigens? Sie[[1]] werde so ewig unbekannt einherwandeln können. Er aber dachte an die Kameraden und erbebte manchmal, wenn er in der Ferne den Rücken eines Bekannten zu erkennen glaubte. Ihn ängstigte ein Gefühl der Scham; der Gedanke, daß man das junge Mädchen anschauen, anreden, Späße mit ihr machen könne, verursachte ihm ein unerträgliches Mißbehagen. Gerade an diesem Tage, als sie sich fest an seinem Arm schmiegte, und sie sich dem {{Pont-des-Arts}} näherten, stieß er auf Sandoz und Dubuche, welche die Stufen der Brücke herabkamen. Es war unmöglich, ihnen auszuweichen; sie befanden sich fast einander gegenüber; seine Freunde hatten sie übrigens sicherlich schon bemerkt, denn sie lächelten. Sehr bleich schritt er weiter und hielt schon alles für verloren, als er sah, wie Dubuche sich zu ihm wenden wollte; allein schon hielt Sandoz ihn zurück und führte ihn hinweg. Sie[[1]] gingen mit gleichgültiger Miene vorüber und verschwanden im Hofe des Louvre, ohne sich umzuwenden. Beide hatten das Original jenes Pastellkopfes erkannt, den der Maler mit der Eifersucht eines Liebhabers verbarg. Christine war sehr heiter und hatte nichts bemerkt. Claude, dessen Herz stürmisch pochte, antwortete ihr mit beklommenen Worten, zu Tränen gerührt, von Dankbarkeit überfließend für die Höflichkeit seiner beiden alten Gefährten. Einige Tage später gab es eine neue Aufregung. Er erwartete Christine nicht und hatte Sandoz ein Stelldichein gegeben. Als sie herauf geeilt kam, um ein Stündchen da zu verbringen – eine jener Überraschungen, die sie so sehr entzückten – und er der Gewohnheit gemäß den Schlüssel abgezogen hatte, pochte jemand vertraulich an die Tür. Er erkannte sogleich diese Art, sich anzukündigen, und war dermaßen verstört durch dieses Vorkommnis, daß er einen Sessel umwarf. Jetzt war es unmöglich, nicht zu antworten. Doch sie war erbleicht und flehte mit verzweifelter Gebärde; er stand unbeweglich da mit zurückgehaltenem Atem. Das Pochen an die Tür dauerte fort; eine Stimme rief: »Claude! Claude!« Er rührte sich noch immer nicht, kämpfte aber mit sich selber, die Lippen bleich, die Augen zu Boden gesenkt. Tiefe Stille herrschte; man hörte Tritte hinabsteigen, die hölzerne Treppe ächzen. Seine Brust erfüllte unendliche Trauer, ihm war, als müsse sie von inneren Vorwürfen zerspringen bei jedem dieser sich entfernenden Schritte, wie wenn er die Freundschaft seiner ganzen Jugendzeit verleugnet hätte. Doch eines Nachmittags ward abermals an die Tür geklopft, und Claude hatte nur mehr Zeit, verzweifelt die Worte zu murmeln: »Der Schlüssel ist an der Tür geblieben!« In der Tat hatte Christine vergessen, ihn abzuziehen. Entsetzt flüchtete sie hinter den Wandschirm, wo sie auf den Rand des Bettes niedersank und ihr Taschentuch an den Mund drückte, um das Geräusch ihres Atems zu unterdrücken. Man klopfte jetzt stärker; draußen wurde gelacht, und der Maler mußte rufen: »Herein!« Sein Mißbehagen wuchs, als er Jory bemerkte, der Irma {{Bécot}} galant am Arme führte. Seit zwei Wochen hatte {{Fage¬rolles}} sie ihm überlassen oder sich vielmehr in diese Laune gefügt aus Furcht, sie ganz zu verlieren. Sie[[1]] trieb sich jetzt in allen Ateliers herum, dermaßen toll vernarrt in ihren Körper, daß sie jede Woche mit den drei Hemden, die sie besaß, anderswohin zog, um für eine Nacht zurückzukehren, wenn ihr Herz es ihr gerade eingab. »Sie[[1]] wollte dein Atelier sehen, und ich führte sie dir her«, erklärte der Journalist. Doch ohne die Antwort des Malers abzuwarten, ging sie im Atelier schon herum und rief ohne jeden Zwang: »Ach, da ist's aber drollig! ... Ist das eine drollige Malerei! ... Seien Sie[[1]] doch liebenswürdig und zeigen Sie[[1]] mir alles; ich möchte alles sehen ... Und wo schlafen Sie[[1]]?« Claude hatte furchtbare Angst, daß sie den Wandschirm von der Stelle rücken könnte. Er dachte an Christine, die dahinten verborgen saß, und war schon verzweifelt darüber, was sie bisher gehört hatte. »Weißt du, was sie von dir verlangt?« fuhr Jory heiter fort. »Wie, du erinnerst dich nicht? Du hast ihr versprochen, irgend etwas nach ihr zu malen... Sie[[1]] sitzt dir für alles was du willst; nicht wahr, Liebste? »Gewiß, sogleich!« »Ja ... aber ...« stammelte der Maler verlegen; »mein Bild wird mich bis zur Eröffnung der Ausstellung in Anspruch nehmen ... Es ist eine Figur darauf, die mir sehr viel Mühe verursacht. Mit diesen verwünschten Modellen kann ich nicht vorwärts kommen!« Sie[[1]] hatte sich vor die Leinwand hingepflanzt und hob das Naschen mit Kennermiene. »Dieses nackte Weib im Grase ... Wie, wenn ich Ihnen dabei von Nutzen sein könnte?« Jory ereiferte sich sogleich. »Schau, das ist ein Gedanke! Du suchst ja ein schönes Mädchen und kannst es nicht finden ... Sie[[1]] wird sich entkleiden. Entkleide dich, Liebste: entkleide dich, damit er sehe.« Mit der einen Hand löste Irma rasch die Bänder ihres Hutes, mit der andern suchte sie die Nesteln ihres Leibchens, trotz der energischen Weigerungen Claudes, der sich wehrte, als ob man ihm Gewalt antue. »Nein, nein, es ist unnötig ... Sie[[1]] sind zu klein ... das brauche ich nicht; nein, durchaus nicht.« »Was verschlägt's?« sagte sie. »Sie[[1]] werden immerhin sehen.« Auch Jory bestand auf seinem Vorhaben. »Laß' sie doch; du machst ihr ein Vergnügen damit. Gewöhnlich sitzt sie nicht, sie hat es nicht nötig: aber es ist ihr eine Freude, sich zu zeigen. Sie[[1]] möchte am liebsten ohne Hemd leben. Entkleide dich, Liebste; nur die Brust; er fürchtet, du könntest ihn fressen.« Endlich verhinderte Claude sie, sich zu entkleiden. Er stammelte Entschuldigungen; später werde er sich glücklich schätzen; in diesem Augenblicke könne ein neues Modell nur neue Verwirrung anrichten. Sie[[1]] begnügte sich die Achseln zu zucken und heftete die schönen, lasterhaften Augen fest auf ihn, wobei ein verächtliches Lächeln ihren Mund umspielte. &&x Jory plauderte jetzt von der Schar. Warum war Claude letzten Donnerstag nicht zu Sandoz gekommen? Man sah ihn nicht mehr; Dubuche beschuldigte ihn, daß er sich von einer Schauspielerin aushalten lasse. Ferner habe zwischen {{Fage¬rolles}} und {{Mahou¬deau}} einen Streit über die Zulässigkeit des Fracks in der Skulptur stattgefunden. {{Gagnière}} hatte am letzten Sonntag einem Wagner-Konzert beigewohnt; dabei sei eine Prügelei entstanden, aus der er ein geschwollenes Auge heimgebracht habe. Er, Jory, habe sich im Café {{Baudequin}} schier ein Duell an den Hals geredet; das war wegen eines seiner letzten Artikel im »Tambour«. Er sei aber auch grausam mit diesen Farbenklecksern, mit diesen erborgten Berühmtheiten umgesprungen! Der Feldzug gegen die Richter des Salons mache großes Aufsehen; sie sollen zu Brei verarbeitet werden, diese Schufte von Idealismus, die der Natur den Zutritt wehren wollten. Gereizt und ungeduldig hörte Claude ihm zu. Er hatte seine Palette wieder ergriffen und trippelte vor seinem Gemälde herum. Der andere begriff endlich. »Du willst arbeiten; wir lassen dich allein.« Irma fuhr fort, den Maler zu betrachten mit ihrem halben Lächeln, erstaunt über die Albernheit dieses Laffen, der nichts von ihr wissen wollte, und nunmehr gequält von der Laune, ihn gegen seinen Willen zu ergattern. Sein Atelier sei zwar häßlich und auch an ihm selbst nichts Schönes; aber warum spiele er den Tugendhaften? Sie[[1]] scherzte einen Augenblick mit ihm wie eine, die in der Lasterhaftigkeit ihrer Jugend schon ihr Glück heraufziehen sieht. An der Tür bot sie sich ihm noch ein letztesmal an; mit einem heißen langen Händedruck sagte sie: »Sobald Sie[[1]] wollen.« Sie[[1]] waren fort, und Claude beeilte sich den Wandschirm zu entfernen, denn Christine war hinter ihm auf dem Bettrande sitzen geblieben, wie ohne Kraft, sich zu erheben. Sie[[1]] sprach nicht von diesem Mädchen; sie erklärte einfach, daß sie große Angst gehabt, und wollte sogleich fortgehen, weil sie zitterte, daß neuer Besuch kommen könne. Sie[[1]] nahm auf dem Grunde ihrer Augen eine Verwirrung über alle die Dinge mit, die sie nicht auszusprechen wagte. Dieser Ort einer rohen Kunst, dieses mit grellen Gemälden angefüllte Atelier verursachte ihr übrigens lange Zeit ein Mißbehagen. Sie[[1]] konnte sich an die wahrhaftigen Nacktheiten der Studien, an die rauhe Wirklichkeit der aus der Provence mitgebrachten Skizzen nicht gewöhnen; sie stießen sie ab, verletzten sie. Vor allem verstand sie nichts davon; sie war in der Liebe und Bewunderung für eine andere Kunst herangewachsen, für die feinen Aquarelle ihrer Mutter, jene traumhaft-zarten Fächer, auf denen lilafarbene Schmetterlinge in bläulich schimmernden Gärten herumflatterten. Oft noch vertrieb sie selbst sich die Zeit damit, mit schülerhafter Hand kleine Landschaften zu zeichnen, zwei oder drei Motive, die sich immer wiederholten, einen See mit einer Ruine, eine Mühle an einem Bache, ein Häuschen mit schneebedeckten Bäumchen davor. Sie[[1]] war erstaunt: war es möglich, daß ein verständiger junger Mann in einer so unvernünftigen, häßlichen, falschen Weise male? Denn sie fand diese Wirklichkeiten nicht bloß ungeheuer häßlich, sie beurteilte sie auch außerhalb aller statthaften Wahrheit. Kurz, es mußte jemand toll sein, solche Sachen zu malen. Eines Tages verlangte Claude durchaus ihr kleines Album aus Clermont zu sehen, von dem sie ihm gesprochen hatte. Nachdem sie sich lange geweigert, brachte sie es ihm endlich, im Grunde geschmeichelt, mit der lebhaften Neugierde zu erfahren, was er sagen werde. Er blätterte lächelnd darin, und da er schwieg, murmelte sie zuerst: »Sie[[1]] finden es schlecht, nicht wahr?« »Nein, es ist nur harmlos«, erwiderte er. Dieses Wort verletzte sie trotz des gutmütigen Tones, der ihn so liebenswürdig machte. »Mein Gott, ich habe von Mama nur wenig Unterricht bekommen. Ich verlange, daß die Malerei gut gemacht ist und daß sie gefällt.« Da brach er in ein helles Gelächter aus. »Gestehen Sie[[1]], daß meine[[Besitz]] Malerei Sie[[1]] krank macht. Ich habe es bemerkt; Sie[[1]] spitzen die Lippen und machen entsetzte Augen. Gewiß, es ist keine Malerei für Damen, am allerwenigsten für junge Mädchen ... Aber Sie[[1]] werden sich daran gewöhnen, das Auge muß dazu erzogen werden; und Sie[[1]] werden sehen, daß es sehr gesund und ehrbar ist, was ich da mache.« In der Tat gewöhnte sich Christine allmählich daran. Die künstlerische Überzeugung hatte anfänglich nichts damit zu schaffen, um so weniger als Claude in seiner Geringschätzung für die Urteile der Frauen sie nicht belehrte, vielmehr vermied, über Kunst mit ihr zu sprechen, als habe er diese Leidenschaft seines Lebens für sich behalten wollen, frei von der neuen Leidenschaft, die ihn ergriff. Allein sie gewöhnte sich allgemach daran und empfand schließlich Interesse für diese abscheulichen Bilder, als sie sah, welchen vornehmen Platz sie in dem Leben des Malers einnahmen. Das war ihr erster Haltepunkt; sie ward gerührt durch die Arbeitswut, durch die absolute Hingebung eines ganzen Wesens. War es nicht ergreifend? Lag darin nicht etwas Ehrenwertes? Als sie die Freuden und Leiden sah, die ihn erregten, je nachdem er eine gute oder schlechte Sitzung gehabt, gelangte sie bald dahin, Anteil an seinem Streben zu nehmen. Sie[[1]] ward betrübt, wenn sie ihn traurig fand; sie ward heiter, wenn er sie fröhlich empfing. Von da ab war es ihre Sorge: hatte er viel gearbeitet? war er zufrieden mit dem, was er gemacht, seitdem sie sich zuletzt gesehen? Nach zwei Monaten war sie gewonnen; sie stellte sich vor die Bilder hin, hatte keine Furcht mehr davor. Sie[[1]] billigte zwar noch immer nicht diese Art zu malen, begann aber gewisse Kunstausdrücke zu wiederholen, erklärte, es sei »kräftig, kühn aufgebaut, gut beleuchtet.« Er schien ihr so gut, sie liebte ihn so sehr, daß sie ihn zuerst entschuldigte, weil er solche Scheußlichkeiten schmierte, und schließlich Vorzüge daran entdeckte, um sie auch ihrerseits ein wenig zu lieben. &&x Aber ein Bild war da, – das große, für den nächsten Salon bestimmte – mit dem sie sich lange Zeit nicht befreunden konnte. Sie[[1]] betrachtete schon ohne Mißvergnügen die Studien aus dem Atelier {{Boutin}} und die Skizzen aus Plassans, während sie sich noch immer über das im Grase gelagerte nackte Weib aufregte. Es war ein persönlicher Groll, die Scham darüber, daß sie einen Augenblick sich da zu erkennen geglaubt hatte, eine dumpfe Verlegenheit angesichts diesen großen Körpers, der sie noch immer verletzte, obgleich sie an ihm immer weniger und weniger ihre Züge wiederfand. Anfänglich hatte sie protestiert und die Blicke weggewendet. Jetzt verharrte sie minutenlang mit festen Blicken in stummer Betrachtung vor dem Gemälde. Wie war ihre Ähnlichkeit so verschwunden? In dem Maße, als der Maler – ewig unzufrieden – mit erbitterter Ausdauer hundertmal wieder zu demselben Fleck zurückkehrte, verblaßte diese Ähnlichkeit immer mehr. Ohne daß sie es erklären konnte, ohne daß sie es sich zu gestehen wagte, empfand sie – deren Schamhaftigkeit am ersten Tag sich aufgelehnt hatte – einen steigenden Verdruß darüber, daß nichts von ihr mehr übrig blieb. Ihre Freundschaft schien dadurch zu leiden; mit jedem schwindenden Zuge fühlte sie sich ihm weniger nahe. Liebte er sie nicht, daß er sie so aus seinem Werke wegließ? Wer war dieses neue Weib, dieses unbekannte und unklare Gesicht, das unter dem ihrigen hervorbrach. Trostlos darüber, den Kopf verdorben zu haben, wußte Claude nicht, wie er sie bitten solle, ihm einige Stunden Modell zusitzen. Sie[[1]] sollte bloß sitzen, damit er einige Andeutungen aufnehmen könne. Aber er hatte sie so verdrossen gesehen, daß er fürchtete, sie noch mehr zu reizen. Nachdem er den Vorsatz gefaßt, scherzend seine Bitte vorzubringen, fand er jetzt die Worte nicht, und schämte sich plötzlich, als ob es sich um etwas Unschickliches handele. Eines Nachmittags erschreckte er sie durch einen jener Zornanfälle, die er selbst in ihrer Gegenwart nicht meistern konnte. Diese Woche wollte nichts von statten gehen. Er sprach davon, alles wegzulöschen, ging wütend im Atelier hin und her und stieß die Möbel über den Haufen. Plötzlich faßte er sie an den Schultern und setzte sie auf das Sofa. »Ich bitte Sie[[1]], erweisen Sie[[1]] mir einen Dienst, oder ich gehe daran zugrunde, bei meiner Ehre!« Sie[[1]] war bestürzt und begriff nicht. »Wie? was wollen Sie[[1]]?« Als sie ihn nach seinen Pinseln greifen sah, fügte sie unbesonnen hinzu: »Ach ja ... Warum haben Sie[[1]] es nicht schon früher verlangt?« Sie[[1]] legte sich auf ein Kissen zurück und schob den Arm unter den Nacken. Aber eine Überraschung und Verwirrung darüber, daß sie so schnell eingewilligt, hatten sie ernst gestimmt; denn sie hatte selbst nicht gewußt, daß sie zu dieser Sache entschlossen sei; sie würde bestimmt erklärt haben, daß sie ihm niemals als Modell dienen werde. Entzückt rief er: »Wirklich? Sie[[1]] willigen ein? Sapperlot, welch' ein Prachtweib wollen wir zusammen aufbauen!« Abermals sagte sie, ohne zu überlegen: »Aber nur den Kopf!« In der Hast[[beeilen]] eines Menschen, der da fürchtet, zu weit gegangen zu sein, stammelte er: »Gewiß, nur den Kopf!« Beide schwiegen verlegen; er begann zu malen, während sie, unbeweglich ins Leere blickend, noch immer darüber verwirrt war, daß ihr ein solcher Satz entschlüpft. Schon empfand sie Reue über ihre Willfährigkeit, als ob sie sich in etwas Sträfliches einlasse, indem sie gestattete, daß man dieser im hellen Sonnenlichte daliegenden nackten Frau die Ähnlichkeit mit ihrem Gesichte gebe. In zwei Sitzungen malte Claude den Kopf fertig. Er strömte von Freude über und rief, das sei sein bestes Stück Malerei. Er hatte Recht: niemals hatte er ein lebendigeres Gesicht in wahrem Lichte gebadet. Glücklich, weil sie ihn so glücklich sah, war auch Christine heiter geworden; sie fand ihren Kopf sehr gut, noch immer nicht sehr ähnlich, aber erstaunlich ausdrucksvoll. Sie[[1]] verharrten lange vor dem Bilde, zwinkerten mit den Augen, rückten bis an die Wand zurück. »Jetzt will ich Sie[[1]] mit Hilfe eines Modells fertig machen«, sagte er ... »Endlich habe ich das sakrische Weib!« In einem Anfall übermütiger Laune faßte er Christine um den Leib, und sie tanzten zusammen, was er einen »Siegestanz« nannte. Sie[[1]] lachte laut und spielte für ihr Leben gern; weg war ihre Verwirrung, weg waren ihre Bedenken und ihr Unbehagen. Allein in der nächsten Woche verdüsterten sich Claudes Züge wieder. Er hatte {{Zoé Piédefer}} zum Modell für den Körper gewählt, und sie lieferte ihm nicht, was er suchte: der feine Kopf, sagte er, sitze nicht recht auf den ordinären Schultern. Aber er verharrte eigensinnig bei dem Werke, löschte das Geschaffene aus, um von neuem anzufangen. Um die Mitte des Januar verlor er den Mut, ließ die Arbeit im Stiche, wandte das Gemälde zur Mauer um; vierzehn Tage später machte er sich wieder daran mit einem anderen Modell, der langen Judith, was ihn die Töne zu ändern zwang. Da wurde die Sache noch schlimmer; er ließ {{Zoé}} wiederkommen, verlor die Richtung und ward krank vor Angst und Ungewißheit. Das Schlimmste war, daß die Hauptfigur allein ihn so in Wut versetzte; denn der Rest des Werkes: die Bäume, die zwei Frauen im Hintergrunde, der Herr in der Jacke waren fertig, gelungen, befriedigten ihn vollständig. Der Februar ging zu Ende; er hatte nur noch einige Wochen, um das Bild nach dem Salon zu senden. Es war ein Unglück. &&x Eines Abends fluchte er vor Christine und brach in den Wutschrei aus: »Donnerwetter! Wer hat auch je gehört, daß man den Kopf eines Weibes auf den Körper eines andern Weibes setzt! ... Ich sollte mir die Hand abhacken! In seinem Innern keimte jetzt ein einziger Gedanke: von ihr zu verlangen, daß sie ihm für die ganze Figur sitze. Anfangs war es ein schüchterner Wunsch, den er als einen unsinnigen schnell wieder von sich wies; dann entstand in ihm ein stiller immer wieder aufgenommener Widerstreit, der sich schließlich – unter dem Zwang der Notwendigkeit – zu einem klaren, heftigen Verlangen steigerte. Die Erinnerung an die Brust, die er einige Minuten gesehen, wollte nimmer von ihm weichen. Er sah sie wieder in der Frische ihrer Jugend, strahlend, unerläßlich. Wenn er sie nicht haben konnte, war es ebenso gut, auf sein Gemälde zu verzichten, denn keine andere werde ihn befriedigen. Wenn er auf einen Sessel hingesunken, sich stundenlang in seinem Unvermögen verzehrte und nicht mehr wußte, wo er einen Pinselstrich anbringen sollte, faßte er einen heldenmütigen Entschluß: sobald sie eintrete, werde er ihr seine Pein gestehen in so rührenden Worten, daß sie vielleicht nachgebe. Doch wenn sie ankam mit ihrem kameradschaftlichen Lachen in ihrem keuschen Kleide, das nichts von ihrem Körper auslieferte, verlor er allen Mut und wandte die Augen weg aus Furcht, daß sie ihn dabei ertappen könne, wie er unter ihrem Leibchen die geschmeidige Linie des Torso suchte. Man konnte von einer Freundin einen solchen Dienst nicht verlangen; niemals werde er die Kühnheit dazu finden. Als er sich eines Abends anschickte, sie heimzugeleiten, und sie ihren Hut aufsetzte, die Arme emporgehoben, blieben sie zwei Sekunden Aug' in Auge, er erbebend angesichts der Brustknospen, die schier den Stoff sprengten, sie plötzlich ernst und bleich werdend, daß er sich verraten sah. Während sie die Ufer entlang gingen, sprachen sie kaum: diese Sache schwebte zwischen ihnen, während die Sonne am tiefroten Himmel zur Rüste ging. Noch bei zwei anderen Gelegenheiten las er in ihrem Blick, daß der ihn unablässig quälende Gedanke ihr bekannt sei. In der Tat dachte sie, seitdem er daran dachte, ebenfalls unwillkürlich daran, durch Anspielungen aufmerksam gemacht, die ihm unwillkürlich entschlüpft waren. Anfänglich wurde sie davon gestreift, später mußte sie dabei Halt machen; aber sie glaubte sich nicht dagegen wehren zu müssen, denn es schien ihr außerhalb der Möglichkeiten des Lebens zu sein, einer jener Träume, deren man sich schämt. Die Furcht, daß er wagen könne, es von ihr zu verlangen, war ihr fern; sie kannte ihn jetzt sehr wohl; sie würde ihn mit einer Maulschelle zum Schweigen gebracht haben, bevor er die ersten Worte vorgebracht hätte, trotz seiner plötzlichen Zornausbrüche. Er war einfach wahnsinnig. Niemals! niemals! Tage vergingen, und derselbe Gedanke wuchs zwischen ihnen an. Sobald sie beisammen waren, konnten sie sich nicht erwehren, daran zu denken. Sie[[1]] sprachen kein Wort, aber ihr Stillschweigen war davon erfüllt; sie wagten keine Bewegung mehr, tauschten kein Lächeln aus, ohne am Grunde die Sache wiederzufinden, die unmöglich zu sagen war, und von der sie überströmten. Bald blieb nichts anderes übrig in ihrem kameradschaftlichem Leben. Wenn er sie ansah, glaubte sie sich von seinem Blick entkleidet; die harmlosen Worte nahmen eine verwirrende Bedeutung an; jeder Händedruck ging über die Handwurzel und ließ einen Schauer den Körper entlanggehen. Was sie bisher vermieden hatten, die Störung ihres Verhältnisses, das Erwachen des Mannes und des Weibes in ihrer innigen Freundschaft: es brach endlich los unter der beständigen Herausforderung dieser jungfräulichen Nacktheit. Allmählich empfanden sie ein geheimes Fieber, das bisher ihnen selbst unbekannt gewesen. Eine plötzliche Hitze stieg zuweilen in ihre Wangen; eine Berührung ihrer Finger ließ sie erröten. Es war fortan gleichsam eine Erregung von Minute zu Minute, die ihr Blut peitschte, während in dieser Unterjochung ihres ganzen Wesens die Qual durch das, was sie so verschwiegen, ohne es sich verheimlichen zu können, dermaßen ins Ungeheuerliche wuchs, daß ihre Brust von tiefen Seufzern gehoben wurde und sie schier daran erstickten. Um die Mitte des Monats März fand Christine, als sie zu Besuch kam, Claude vom Kummer erdrückt, vor seinem Gemälde sitzen. Er hatte sie nicht kommen hören und blieb unbeweglich, die leeren, unsteten Augen auf das unvollendete Werk gerichtet. In drei Tagen ging die Frist für die Einsendung zur Ausstellung im Salon zu Ende. »Nun?« fragte sie sanft, verzweifelt wegen seiner Verzweiflung. Er schauerte zusammen und wandte sich um. »Es ist aus; ich werde in diesem Jahre nicht ausstellen ... Ich hatte auf diesen Salon so stark gerechnet! ...« Beide versanken wieder in ihre Niedergeschlagenheit, in der sie von großen unbestimmten Dingen bewegt wurden. Dann sagte sie laut denkend: »Es ist noch Zeit!« »Zeit? Nein; es müßte ein Wunder geschehen. Wo soll ich jetzt ein Modell finden? Seit heute Morgen kämpfe ich und glaubte einen Augenblick einen Gedanken zu haben. Ja, ich wollte diese Irma aufsuchen, die neulich gekommen ist, als Sie[[1]] hier waren. Ich weiß wohl, daß sie klein und rund ist, und daß ich vielleicht alles werde ändern müssen ... aber sie ist jung, sie ist vielleicht möglich ... entschieden, ich will es versuchen ...« Er unterbrach sich. Die glühenden Augen, mit denen er sie betrachtete, sagten deutlich: »Ach, Sie[[1]] sind ja da; es wäre das erwartete Wunder, der sichere Triumph, wenn Sie[[1]] mir dieses höchste Opfer bringen wollten. Ich flehe Sie[[1]] an und verlange dieses Opfer von Ihnen wie von einer angebeteten Freundin, der schönsten und keuschesten!« Sehr bleich vor ihm stehend, hörte sie jedes dieser Worte, als seien sie ausgesprochen; das heiße Flehen seiner Augen übte eine mächtige Wirkung auf sie aus. Ohne Hast[[beeilen]] legte sie Hut und Mantel ab; dann nestelte sie mit der nämlichen ruhigen Gebärde ihr Leibchen auf und zog es aus, ebenso das Mieder; hierauf ließ sie die Röcke fallen und knöpfte die Achselbänder des Hemdes auf, das auf die Hüften herabglitt. Sie[[1]] hatte kein Wort gesprochen; sie schien fern von diesem Orte zu sein, wie an jenen Abenden, wo sie in ihrem Zimmer eingeschlossen, in einem Traum verloren, sich mechanisch entkleidete, ohne darauf zu achten. Warum sollte sie es zugeben, daß eine Nebenbuhlerin ihren Körper leihe, nachdem sie selbst schon ihr Gesicht gegeben? Sie[[1]] wollte ganz da sein, zu Hause sein in ihrer Zärtlichkeit; denn sie begriff endlich, welches eifersüchtige Mißbehagen diese ungeheuerliche Zwitterschöpfung ihr seit langer Zeit verursachte. Noch immer stumm legte sie sich nackt und jungfräulich auf das Sofa hin und nahm die Stellung an: ein Arm unter dem Nacken, die Augen geschlossen. &&x Tief ergriffen, unbeweglich in seiner Freude sah er ihr zu, wie sie sich entkleidete. Er fand sie wieder. Die flüchtige Erscheinung, die er so oft in seine Erinnerung zurückgerufen: sie ward jetzt wieder lebendig. Es war diese noch schmächtige Kindlichkeit, aber so geschmeidig, von einer so frischen Jugend; und er erstaunte von neuem: wo verbarg sie diese entwickelte Brust, die man unter dem Kleide nicht einmal vermutete. Auch er sprach nichts mehr, sondern begann zu malen, in der schier andächtigen Stille, die eingetreten war. Drei Stunden lang harrte er bei der Arbeit aus, mit einer so mannhaften Anstrengung, daß er in einem Zuge eine prächtige Skizze des ganzen Körpers anfertigte. Niemals zuvor hatte das Fleisch des Weibes ihn in dem Maße berauscht: sein Herz pochte wie vor der Blöße einer Anbetungswürdigen. Er näherte sich nicht; er blieb überrascht von der Umwandlung des Gesichtes, dessen Kinnladen – ein wenig massig und sinnlich – unter der zarten Ruhe der Stirn und Wangen sich verfeinert hatten. Während dieser drei Stunden rührte sie sich nicht, ließ keinen Laut vernehmen, machte ihm das Geschenk ihrer jungfräulichen Scham ohne Verlegenheit, ohne ein Frösteln. Beide fühlten, daß wenn sie einen einzigen Satz sprächen, es eine große Scham über sie bringen müsse. Allein von Zeit zu Zeit öffnete sie ihre hellen Augen und heftete sie auf einen unbestimmten Punkt des Raumes, blieb so einen Augenblick, ohne daß er etwas von ihren Gedanken hätte lesen können, schloß sie dann wieder, sank in ihrer Unbeweglichkeit einer schönen Marmorstatute zurück mit dem eigenartigen starren Lächeln ihrer Stellung. Mit einer Gebärde gab Claude zu verstehen, daß er fertig sei; er war wieder linkisch geworden und warf einen Sessel um, damit er schneller den Rücken kehren könne, während Christine, sehr rot geworden, das Sofa verließ. Hastig kleidete sie sich wieder an; ein plötzlich ausbrechender Schauer durchrieselte, eine solche Bewegung ergriff sie, daß sie sich verkehrt zunestelte, zog die Ärmel herunter, schob den Kragen hinauf, um nicht das kleinste Fleckchen ihrer nackten Haut freizulassen. Sie[[1]] war schon in ihren Mantel gehüllt, als er noch immer zur Mauer gekehrt stand und sie nicht anzublicken wagte. Endlich kam er zu ihr zurück; sie sahen sich zögernd an, von einer tiefen Ergriffenheit beklommen, die sie noch immer keine Worte finden ließ. War es Traurigkeit, eine endlose, unbewußte, namenlose Traurigkeit? Denn ihre Augen füllten sich mit Tränen, als hätten sie ihr Leben verdorben, an den Grund menschlichen Jammers gerührt. In seiner zärtlichen Rührung und Kümmernis, und weil er kein Dankeswort über die Lippen brachte, küßte er sie auf die Stirn. &&x &&ns &&am &&g="Fünftes_Kapitel." &&fa Fünftes Kapitel. &&fe &&ax &&lg=x Am 15. Mai schlief Claude noch um neun Uhr, – denn er war erst um drei Uhr morgens von Sandoz zurückgekommen – als Frau Joseph ihm einen großen Strauß weißen Flieders brachte, den ein Stadtbote gebracht hatte. Er begriff; Christine beglückwünschte ihn im voraus zu dem Erfolge seines Gemäldes; es war heute ein großer Tag für ihn: die Eröffnung des »Salons der Zurückgewiesenen«, eine Einrichtung, die in jenem Jahre geschaffen wurde und wo sein von den offiziellen Richtern abgewiesenes Bild ausgestellt werden sollte. Diese zarte Erinnerung, dieser frische, duftige Flieder, der ihn erweckte, rührte ihn sehr, als seien diese Blumen die Voraussagung eines glücklichen Tages. Noch im Hemde und bloßfüßig tat er sie in den auf dem Tische stehenden Blumentopf. Schlaftrunken und bestürzt kleidete er sich an, sich selbst ausscheltend, daß er solange geschlafen. Er hatte gestern Dubuche und Sandoz versprochen, sie bei letzterem um acht Uhr abzuholen, damit sie sich alle drei zusammen nach dem Industrie-Palaste begeben, wo man den Rest der Schar treffen sollte. Jetzt hatte er sich schon um eine Stunde verspätet! Gerade heute konnte er in seinem Atelier nichts finden; seitdem das große Bild fort war, herrschte da eine seltsame Unordnung. Fünf Minuten lang suchte er seine Schuhe, unter alten Rahmen auf den Knien liegend. Goldstäubchen flogen auf, da er sich das Geld für einen Rahmen nicht zu beschaffen wußte, hatte er durch einen benachbarten Tischler vier Brettchen dazu herrichten lassen und sie mit Hilfe seiner Freundin vergoldet, die sich bei dieser Gelegenheit als sehr geschickte Vergolderin erwies. Als er endlich angekleidet war und seinen mit Goldstäubchen bestreuten Filz aufgesetzt hatte, machte er sich auf den Weg; doch ein abergläubischer Gedanke führte ihn zu den Blumen zurück, die allein mitten auf dem Tische zurückblieben. Wenn er diesen Fliederstrauß nicht küsse, werde ihm ein Schimpf widerfahren, dachte er. Er küßte ihn also und sog mit voller Lunge den scharfen Lenzesduft des Flieders ein. Unter der Torwölbung reichte er – seiner Gewohnheit gemäß – der Hausbesorgerin den Schlüssel. »Frau Joseph«, sagte er, »ich komme den ganzen Tag nicht mehr heim.« In weniger denn zwanzig Minuten war Claude in der Höllenstraße, bei Sandoz. Er fürchtete, diesen nicht mehr zu Hause finden; allein auch Sandoz hatte sich verspätet; seine Mutter hatte eine schlechte Nacht verbracht, dies hatte ihn geängstigt und länger zurückgehalten. Jetzt war er wieder beruhigt und erzählte ihm, Dubuche habe geschrieben, man solle ihn nicht erwarten, man werde ihn beim Stelldichein in der Ausstellung treffen. Die beiden brachen also auf, und da es nahezu elf Uhr war, entschlossen sie sich zu frühstücken; sie betraten eine kleine, verlassene Milchhandlung und saßen lange da trotz ihres glühenden Verlangens zu sehen von einer Trägheit ergriffen, mit einer gewissen Rührung und Traurigkeit sich in ihre Jugend-Erinnerungen versenkend. &&x Es schlug ein Uhr, als sie die Elysäischen Felder durchschritten. Es war ein köstlicher Tag mit einem weithin klaren, noch kühlen Himmel, dessen Bläue ein leiser Wind noch zu vertiefen schien. Im Lichte der Sonne, welche die Farbe reifen Getreides hatte, dehnten sich die Kastanienbäume in langen Reihen dahin mit ihrem zartgrünen, frisch glänzenden, jungen Laub; und die Springbrunnen mit ihren Wassergarben, die sauber gehaltenen Rasenplätze, die Tiefe der Alleen und die Breite der Plätze gaben diesem weiten Horizont ein sehr vornehmes Aussehen. Einige Kutschen – selten um diese Stunde – fuhren hinan, während eine Flut von Menschen in weiter Ferne und wimmelnd wie ein Ameisennest sich unter der riesigen Säulenreihe des Industrie-Palais verlor. Als sie eingetreten waren, erschauerte Claude in der ungeheuren Vorhalle, wo es kühl war wie in einem Keller und das feuchte Pflaster unter den Tritten klang wie die Fliesen einer Kirche. Er betrachtete die beiden Riesentreppen rechts und links und fragte im Tone der Verachtung: »Sollen wir einen schmutzigen Salon durchschreiten?« »Nein, nein!« antwortete Sandoz. »Gehen wir durch den Garten und über die Weststiege zum Salon der Zurückgewiesenen.« Mit geringschätziger Miene schritten sie zwischen den kleinen Tischchen der Katalogverkäuferinnen dahin. Durch die Öffnung riesiger Vorhänge von rotem Samt wurde – jenseits einer dunklen Torwölbung – der Wintergarten sichtbar. Zu dieser Tageszeit war der Garten fast leer; nur am Buffet unter der großen Uhr standen Leute, die ihr Frühstück einnahmen. Die große Menge befand sich im ersten Stock und füllte daselbst die Säle; die weißen Statuen allein säumten die mit gelben Kies bestreuten Wege ein, die sich scharf von den grünen Rasenplätzen abhoben. Es war ein unbewegliches Volk aus Marmor, in ein gedämpftes Licht getaucht, das zerstäubt durch die hohen Scheiben hereinfiel. Nach Süden verdunkelten leinene Vorhänge eine Hälfte des Schiffes, das die Sonne mit ihrem blonden Lichte erfüllte und an dessen beiden Enden die farbigen Fenster rote und blaue Flecke bildeten. Einige schon ermüdete Besucher saßen auf den Sesseln und auf den frisch gestrichenen Bänken; aus dem eisernen Deckengebälk flogen Spatzenschwärme hernieder und hüpften zwitschernd und zutraulich auf dem gelben Sande dahin, wo sie ihre Nahrung suchten. Claude und Sandoz gingen auffällig rasch durch die Halle, ohne einen Blick um sich zu werfen. Eine Minerva von Bronze, steif und vornehm, das Werk eines Institutsmitgliedes, hatte gleich beim Eintritt ihre Erbitterung hervorgerufen. Doch als sie mit raschen Schritten die schier unendliche Reihe von Büsten entlang eilten, erkannten sie {{Bongrand}}, der einsam die Runde um eine liegende Kolossalfigur machte. »Ihr seid es!« rief er, als sie ihm die Hand reichten. »Ich betrachtete soeben die Figur unseres Freundes {{Mahou¬deau}}. Die Herren Richter haben wenigstens den Verstand gehabt, sie anzunehmen und ihr einen guten Platz anzuweisen. Kommt Ihr von oben?« »Nein, wir sind soeben erst eingetroffen«, sagte Claude. Da äußerte er sich in sehr warmen Worten über den Salon der Zurückgewiesenen. Er war zwar Mitglied des Instituts, hielt sich aber abseits von seinen Kollegen und erheiterte sich an der Geschichte; er sprach von der ewigen Unzufriedenheit der Maler, von dem Feldzug der kleinen Blätter wie des »Tambour«, von den fortwährenden Protestaktionen und Reklamationen, die endlich den Kaiser stutzig gemacht hatten; von dem künstlerischen Staatsstreiche dieses schweigsamen Träumers (denn die Maßregel stammte von ihm allein); von der Bestürzung aller, als dieser Pflasterstein in den Froschteich fiel. »Ihr habt keine Vorstellung von der Entrüstung unter den Jury-Mitgliedern! ... Gegen mich sind sie mißtrauisch; wenn ich dabei bin, schweigen sie. Die ganze Wut kehrt sich gegen die abscheulichen Realisten; ihnen hat man systematisch die Pforten des Tempels verschlossen, ihrethalben hat der Kaiser gestattet, daß das Publikum den Prozeß überprüfe; sie triumphieren. Ich habe schöne Dinge zu hören; ich möchte nicht viel für eure Haut geben, ihr Jungen!« Er lachte laut und breitete die Arme aus, wie um die ganze Jugend zu umarmen, die er aus dem Boden aufsteigen sah. »Ihre Schüler nehmen zu«, sagte Claude einfach. Mit einer Gebärde der Verlegenheit hieß er ihn schweigen. Er hatte nichts ausgestellt; und diese Ausstellung, durch die er wandelte, diese Gemälde, diese Statuen, diese Anstrengungen menschlicher Schöpfungskraft: sie erfüllten ihn mit Bedauern. Es war nicht Neid, denn es gab keine edlere und bessere Seele; sondern die Rückkehr zu sich selbst, die dumpfe Furcht vor einem langsamen Verfall, diese uneingestandene Furcht, die ihn beschlich. »Und wie geht's denn im Salon der Zurückgewiesenen?« fragte Sandoz. »Ausgezeichnet! Ihr werdet sehen.« Dann wandte er sich zu Claude, behielt dessen beide Hände in der seinen und sagte: »Sie[[1]], mein Guter, sind ein ganzer Künstler. Mich nennt man boshaft, aber ich sage Ihnen: Ich möchte zehn Jahre meines Lebens dafür geben, Ihre prächtige Frauenfigur gemalt zu haben.« Dieses Lob aus solchem Munde rührte den jungen Maler zu Tränen. Endlich ein Erfolg! Er fand kein Wort des Dankes, sprach plötzlich von anderen Dingen, um seine Ergriffenheit zu verbergen. »Dieser wackere {{Mahou¬deau}}!« sagte er. » Seine Figur ist sehr gut. Sehr viel Temperament, nicht wahr?« Sandoz und er machten jetzt die Runde um das Gipsmodell. {{Bongrand}} antwortete mit einem Lächeln: »Ja, ja, zu viel Schenkel, zu viel Busen, aber betrachtet nur die Gelenke, wie fein und schön! ... Lebt wohl, ich verlasse Euch. Ich muß mich ein wenig niedersetzen, meine[[Besitz]] Beine sind weg.« Claude hatte den Kopf erhoben und horchte. Ein riesiger Lärm, der ihm anfänglich nicht aufgefallen war, erfüllte andauernd die Luft; es war wie das Tosen eines Sturmes gegen die Küste, das Grollen eines aus unendlicher Ferne daherkommenden unermüdlichen Ansturms. »Horch, was ist das?« »Das ist die Menge oben in den Sälen«, sagte {{Bongrand}} sich entfernend. &&x Die beiden jungen Leute stiegen, nachdem sie den Garten durchschritten, zum Salon der Zurückgewiesenen hinauf. Man hatte ihn sehr gut eingerichtet; die zugelassenen Gemälde waren auch nicht besser untergebracht: hoch hinaufreichende Vorhänge von alten Tapisserien an den Türen mit grünem Stoff überzogene Stützleisten, mit rotem Samt gepolsterte Bänkchen, Lichtschirme von weißer Leinwand unter dem Glasdache; und der erste Anblick in der Flucht der Säle war der nämliche, dasselbe Gold der Rahmen, dieselben gelben Flecke der Leinwand. Aber ein eigenartiger Frohsinn herrschte da, ein Glanz der Jugend, den man sich im ersten Augenblick nicht deutlich erklären konnte. Die jetzt schon dichte Menge wuchs von Minute zu Minute an; denn man verließ den offiziellen Salon und eilte hierher, von der Neugierde und von dem Verlangen getrieben, die Richter zu beurteilen, und schließlich schon auf der Schwelle von der Gewißheit ergötzt, daß man außerordentlich gefallende Dinge zu sehen bekommen werde. Es war sehr warm, ein feiner Staub stieg von dem Fußboden auf; gegen vier Uhr mußte die Luft erstickend werden. »Alle Wetter!« sagte Sandoz und gebrauchte seine Ellbogen. »Es wird nicht leicht sein, hier durchzukommen und dein Bild zu finden.« In einer Anwandlung brüderlicher Zuneigung eilte er vorwärts. An diesem Tage lebte er nur für das Werk und den Ruhm seines alten Kameraden. »Laß doch!« rief Claude. »Wir kommen schon dahin; mein Bild fliegt nicht davon.« Er tat, als habe er gar keine Eile trotz seines unwiderstehlichen Verlangens zu laufen. Er erhob den Kopf und schaute. In der lauten Stimme der Menge, die ihn betäubt hatte, unterschied man ein leises, noch zurückgehaltenes Gelächter, gedeckt von dem Getrippel der Füße und von dem Geräusch der Unterhaltungen. Vor gewissen Bildern ergingen sich Gruppen von Besuchern in allerlei Scherzen. Das beunruhigte ihn, denn er war von der Leichtgläubigkeit und Empfindlichkeit eines Weibes inmitten seiner auffahrenden Rauheit, stets des Martyriums gewärtig, stets betroffen darüber, daß er zurückgewiesen und bespöttelt werde. »Die Leute sind vergnügt hier!« murmelte er. »Man hat auch Ursache dazu«, bemerkte Sandoz. »Schau dir doch die ganz außerordentlichen Sachen an.« Doch in diesem Augenblicke stieß, als sie noch im ersten Saale verweilten, {{Fage¬rolles}} zu ihnen, der sie bisher nicht gesehen hatte. Er fuhr auf, ohne Zweifel verdrießlich wegen dieser Begegnung. Übrigens faßte er sich sogleich und tat sehr liebenswürdig. »Ich dachte an Euch und bin schon seit einer Stunde da.« »Wo haben Sie[[1]] denn das Bild Claudes hingesteckt?« fragte Sandoz. {{Fage¬rolles}}, der zwanzig Minuten vor dem Bilde gestanden, um es zu studieren und seinen Eindruck auf das Publikum zu beobachten, antwortete ohne Zögern: »Ich weiß nicht ... Wir wollen es zusammen suchen.« Er schloß sich ihnen an. Der stete Spaßvogel, der er war, steckte nicht mehr die Gassenjungenmanieren heraus; er war vornehm gekleidet und zeigte, obgleich noch immer zu beißendem Spott bereit, doch die ernste Miene eines Jungen, der ans Ziel gelangen will. Er fügte im Tone der Überzeugung hinzu: »Ich bedaure, dieses Jahr nichts in die Ausstellung gesandt zu haben. Ich wäre jetzt unter euch und hätte meinen[[Besitz]] Anteil am Erfolge ... Es gibt erstaunliche Sachen da; zum Beispiel diese Pferde ...« Er zeigte auf eine große Leinwand ihnen gegenüber, vor der eine lachende Menge sich staute. Es war, sagte man, das Werk eines ehemaligen Tierarztes, Pferde in natürlicher Größe, auf einer Wiese frei sich tummelnd, aber ganz phantastische Pferde in blauer, violetter, rosa Farbe, und von einem Knochenbau, der durch die Haut zum Vorschein kam. »Mir scheint gar, du treibst deinen Spaß mit uns«, erklärte Claude argwöhnisch. {{Fage¬rolles}} heuchelte Begeisterung. »Wie? Aber das Ding strotzt von Vorzügen! Der gute Mann kennt sein Pferd genau. Allerdings malt er wie ein Schweinkerl. Aber was tut das, wenn er nur originell und naturwahr ist?« Sein feines Mädchengesicht blieb ernst; nur ein gelber Funke von Spott blitzte auf dem Grunde seiner hellen Augen auf. Er fügte eine boshafte Anspielung hinzu, die er allein verstand: »Ja, wenn du dich vom Gelächter der Schwachköpfe beeinflussen lassen willst, wirst du sogleich noch ganz andere Dinge sehen.« Die drei Kameraden hatten ihren Weg fortgesetzt, kamen aber in der dichtgedrängten Menge nur mühsam vorwärts. Beim Eintritt in den zweiten Saal überschauten sie mit einem Blick die Wände, aber das gesuchte Gemälde war nicht da. Was sie sahen, war Irma {{Bécot}} am Arme {{Gagnières}}, beide an eine Stützleiste gedrängt, er im Begriff, ein kleines Bild zu betrachten, während sie, entzückt von dem Gedränge, ihr rosiges Lärvchen hob und die Menge anlachte. »Wie?« sagte Sandoz erstaunt. »Sie[[1]] hält sich jetzt zu {{Gagnière}}?« »Eine vorübergehende Laune«, erklärte {{Fage¬rolles}} ruhig. »Die Geschichte ist so drollig ... Ihr wißt, daß man ihr soeben eine Wohnung sehr fein eingerichtet hat; ja, dieser junge, blöde Marquis, von dem in den Zeitungen soviel die Rede ist. Eine Geriebene, die es noch weit bringen wird; ich habe es immer gesagt. Allein es nützt nichts, daß man sie in wappengeschmückte Betten legt, sie hat ein wildes Verlangen nach Gurtbetten; an manchen Abenden zieht es sie unwiderstehlich nach der Dachstube eines Malers. So geschah es, daß sie letzten Sonntag um ein Uhr morgens, nachdem sie alles im Stiche gelassen, plötzlich im Café {{Baudequin}} auftauchte. Wir waren eben fortgegangen, und es war bloß noch {{Gagnière}} da, der über seinem Bierglase schlummerte ... So nahm sie denn {{Gagnière}}.« &&x Irma hatte sie bemerkt und sandte ihnen von der Ferne zärtliche Winke zu. Sie[[1]] mußten sich nähern. Als {{Gagnière}} sich umwandte mit seinen blassen Haaren und seinem kleinen, bartlosen Gesichte, noch bleicher als sonst, zeigte er sich gar nicht überrascht, die Kameraden hinter seinem Rücken zu finden. »Das ist unerhört«, murmelte er. »Was denn?« fragte {{Fage¬rolles}}. »Dieses kleine Kunstwerk ... Ehrlich und einfach und überzeugt!« Er zeigte auf das kleine Bildchen, vor dem er in Betrachtung versunken gestanden, eine ganz kindische Malerei, wie sie etwa ein Knäblein von vier Jahren hervorgebracht haben würde: ein Häuschen am Rande eines schmalen Weges, mit einem kleinen Bäumchen daneben, das Ganze schief gestellt, mit schwarzen Strichen umgeben, den korkzieherförmigen Rauch nicht zu vergessen, der vom Dache aufstieg. Claude machte eine nervöse Bewegung, während {{Fage¬rolles}} ruhig wiederholte: »Sehr fein, sehr fein ... Aber wo ist denn dein Bild, {{Gagnière}}?« »Mein Bild ist da.« In der Tat hing sein Bild neben dem kleinen Kunstwerke. Es war eine Landschaft, perlgrau, ein Stück {{Seine}}-Ufer, sorgfältig gemalt, sehr hübsch im Ton, wenngleich etwas schwerfällig, vollkommen in der hergebrachten Weise, ohne jede gewaltsame Neuerung. »Wie konnten sie so dumm sein, das zurückzuweisen?« sagte Claude, der sich mit Interesse genähert hatte. »Ich frage euch, warum?« In der Tat war kein Grund ersichtlich, der die Abweisung der Richter erklärt hätte. »Weil es realistisch ist«, sagte {{Fage¬rolles}} mit einer so schneidenden Stimme, daß man nicht wissen konnte, ob er die Richter oder das Bild verhöhnte. Irma, um die sich niemand kümmerte, schaute inzwischen Claude fest an mit dem unbewußten Lächeln, welches das linkische, scheue Wesen dieses großen Jungen auf ihre Lippen rief. Ist es nicht seltsam, daß er nicht einmal auf den Einfall gekommen, sie wiederzusehen. Sie[[1]] fand ihn so eigenartig, so drollig, keineswegs vorteilhaft aussehend, struppig, das Gesicht verstört wie nach einem schweren Fieber! Verdrossen wegen der geringen Aufmerksamkeit, die er ihr schenkte, berührte sie vertraulich seinen Arm. »Es scheint, daß dort drüben einer Ihrer Freunde Sie[[1]] sucht.« Es war Dubuche, den sie kannte, weil sie ihn einmal im Café {{Baudequin}} getroffen. Er arbeitete sich mühsam durch die Menge, mit den Augen über die Flut der Köpfe dahin irrend. Doch plötzlich kehrte in dem Augenblicke, da Claude sich ihm mit lebhaften Gebärden bemerkbar zu machen suchte, der andere ihm den Rücken, um sehr untertänig eine Gruppe von drei Personen zu grüßen: der Vater dick und kurz, das Gesicht von einem allzu heißen Blute gerötet, die Mutter sehr mager, wachsfarben, an Blutleere dahinsiechend, die Tochter mit achtzehn Jahren noch so schwächlich und wenig entwickelt wie ein ganz junges Kind. »Aha, der sitzt fest«, sagte der Maler. »Hat der Kerl häßliche Bekanntschaften! Wo hat er diese Scheusale aufgegabelt?« {{Gagnière}} sagte sehr gelassen, daß er sie dem Namen nach kenne. Vater {{Margaillan}} sei ein Großunternehmer in Maurerarbeiten, fünf- oder sechsfacher Millionär. Er baue ganze Promenaden und bereichere sich so an den großen Pariser Arbeiten. Ohne Zweifel habe Dubuche seine Bekanntschaft durch Vermittlung eines der Architekten gemacht, deren Pläne er überprüfe und verbessere. Sandoz, dem die Magerkeit des Mädchens dauerte, gab mit einem Worte sein Urteil über sie ab. »Das arme, geschundene Kätzchen! Welch ein Jammer! »Schweig!« rief Claude wütend. »Sie[[1]] tragen alle Verbrechen des Spießbürgertums im Gesichte; sie haben die Skrofeln {{[Skro¬feln]}} und die Dummheit. So ist es recht ... Unser Abtrünniger geht mit ihnen. So ein Architekt ist eine öde Seele! Glückliche Reise!« Dubuche, der seine Freunde nicht bemerkt hatte, reichte soeben der Mutter den Arm und entfernte sich, um der Familie mit den Gebärden einer übertriebenen Gefälligkeit die Gemälde zu erklären. »Kommt weiter«, sagte {{Fage¬rolles}}. Dann fragte er {{Gagnière}}: »Weißt du, wo sie Claudes Gemälde hingetan haben?« »Nein, ich suchte es auch schon ... Ich gehe mit euch.« Er begleitete sie und vergaß {{Bécot}} bei der Stützleiste. Sie[[1]] hatte die Laune gehabt, an seinem Arm den Salon zu besuchen, und er war so wenig gewöhnt, eine Frau spazieren zu führen, daß er sie unterwegs jeden Augenblick verlor und verblüfft war, sie immer wieder an seiner Seite zu finden, ohne daß er wußte, wie und warum sie beisammen waren. Sie[[1]] lief ihm auch jetzt wieder nach und faßte ihn am Arm, um Claude zu folgen, der mit {{Fage¬rolles}} und Sandoz schon einen anderen Saal betreten hatte. So wanderten sie ihrer fünf herum, die Nase hoch, in dem Gedränge bald getrennt, bald wieder vereinigt, von der Strömung mitgerissen. Eine abscheuliche Kleckserei von {{Chaine}} hielt sie fest, ein »Christus, der Ehebrecherin verzeihend«, trockene Figuren wie in Holz geschnitzt, von einem Knochenbau, der violett durch die Haut schimmerte, und wie mit Schmutz gemalt. Gleich daneben bewunderten sie eine sehr schöne Studie: eine weibliche Figur, Rückansicht, mit vorspringenden Lenden und abgewandtem Kopfe. Es hing an den Mauern entlang ein Gemengsel des Vortrefflichsten mit dem Schlechtesten; alle Arten durcheinander, die Farbenverderber aus der historischen Schule hart neben den jungen Hitzköpfen des Realismus; die albernen Tröpfe, die in der großen Menge verschwanden, neben den Prahlhänsen der Originalität, eine tote {{Jesabel}}, die in den Kellern der Schule der schönen Künste gemodert zu haben schien, neben der Dame in Weiß, einer sehr interessanten Schöpfung eines Meisterpinsels; ein Hirt am Meer – ein gemaltes Märchen auf großer Leinwand – neben einem kleinen Bildchen, »Spanier beim Ballspiel« darstellend, eine Lichtwirkung von glänzender Stärke. Nichts fehlte von der Gattung des Abscheulichen: weder die Militärstücke mit den bleiernen Soldaten, noch die fahle Altertümelei, noch die mittelalterlichen Bilder, wie mit Erdpech hingeschmiert. Aber aus dieser unzusammenhängenden Sammlung – Landschaften fast ausnahmslos wahr und zutreffend im Ton; Bilder, zumeist interessant in der Mache – ging ein wohltuender Hauch der Jugend und kraftvoller Leidenschaft aus. Gab es im offiziellen Salon weniger schlechte Bilder, so war daselbst der Durchschnitt sicherlich alltäglicher und mittelmäßiger. Man hatte das Gefühl, daß man eine Schlacht vor sich habe, eine lustige Schlacht, mit Tagesanbruch beim Klang der Hörner mutig begonnen, daß man mit der Gewißheit gegen den Feind marschiere, vor Tagesanbruch ihn geschlagen zu haben. &&x Durch diesen Kampfeshauch gestärkt, ward Claude jetzt lebhafter und unzufriedener; er hörte jetzt das Gelächter des Publikums mit herausfordernder Miene, als habe er Kugeln pfeifen gehört. Was beim Eintritt nur ein Kichern war, klang immer lauter, je weiter man kam. Schon im dritten Saale unterdrückten die Frauen ihr Lachen nicht mehr mit ihren Taschentüchern; die Männer streckten die Bäuche heraus, um es sich besser erleichtern zu können. Es war die ansteckende Heiterkeit einer Menge, die gekommen war, sich zu unterhalten, allmählich erregt wurde wegen eines Nichts, von den schönen Sachen ebenso belustigt wie von den häßlichen. Man lachte weniger vor dem Christus {{Chaines}}, als vor der Frauenstudie, deren vorspringende Lende, die aus der Leinwand herauszuquellen drohte, außerordentlich komisch schien. Auch die Dame in Weiß erheiterte die Menge; die Leute stießen sich mit dem Ellbogen an und hielten sich die Seiten vor Lachen; es fand sich stets eine Ansammlung von Lachern. Jede Leinwand hatte ihren Erfolg; die Leute riefen einander von fern heran, um sich die guten Sachen zu zeigen; geistreiche Bemerkungen gingen von Mund zu Mund, so daß Claude, als sie den vierten Saal betraten, schier eine alte Dame ohrfeigte, deren Glucksen ihn erbitterte. »Welch blödes Volk!« sagte er zu den übrigen. »Man fühlt sich versucht, ihnen Meisterwerke an die Köpfe zu schleudern.« Auch Sandoz war aufgeregt; {{Fage¬rolles}} fuhr fort, die schlechtesten Bilder sehr laut zu loben, was die Heiterkeit noch erhöhte, während {{Gagnière}}, in dem Gedränge schier verschwindend, die entzückte Irma hinter sich her schleppte, deren Röcke sich allen Männern um die Beine wickelten. Plötzlich tauchte Jory vor ihnen auf. Seine große, rote Nase, sein blondes Gesicht eines hübschen Jungen strahlte. Mit kräftigen Armen durchbrach er das Gewühl, gestikulierte, jubelte, als handle es sich um einen persönlichen Sieg. Sobald er Claude erblickte, rief er: »Ha, endlich bist du da; seit einer Stunde suche ich dich ... Ein Erfolg, mein Bester, ein Erfolg! ...« »Was für ein Erfolg?« »Der Erfolg deines Gemäldes! ... Komm, ich muß es dir zeigen. Du wirst sehen, es ist ganz außerordentlich!« Claude erblaßte; eine tiefe Freude durchströmte ihn, während er tat, als ob er die Nachricht mit Gleichmut aufnehme. Er erinnerte sich des Wortes, das {{Bongrand}} gesprochen, und er glaubte, Genie zu besitzen. »Guten Tag!« fuhr Jory fort, und reichte den anderen die Hände. Ruhig nahmen sie, er, {{Fage¬rolles}} und {{Gagnière}}, Irma {{Bécot}} in die Mitte, die ihnen gutmütig zulächelte, ihre Gunst allen gleichmäßig zuwendend, weil man ja »zu einer Familie gehöre«, wie sie sagte. »Wo ist es denn?« fragte Sandoz ungeduldig. »Führe uns.« Jory ging voran, die Schar folgte ihm. Bei der Tür des letzten Saales mußte man mit den Fäusten arbeiten, um hindurchzukommen. Claude aber, der zurückgetreten war, hörte noch immer das Gelächter aufsteigen, einen immer wachsenden Lärm, das Tosen einer Flut gegen die Küste. Als er endlich den Saal betrat, sah er eine ungeheure, wimmelnde, verworrene Masse, die sich vor seinem Bilde drängte. Alles Gelächter schwoll hier an, fand hier sein Ziel. Man lachte über sein Bild. »Nun,« rief Jory triumphierend, »ist das ein Erfolg?« Schüchtern und beschämt, als habe man ihn selbst geohrfeigt, murmelte {{Gagnière}}: »Zuviel Erfolg ... Mir wäre etwas anderes lieber.« »Bist du aber dumm!« fuhr Jory in einer Aufwallung begeisterter Überzeugung fort. »Das ist der Erfolg. Was verschlägt's, daß sie lachen? Wir sind in der Mode; morgen werden alle Blätter von uns reden.« »Diese Trottel!« brummte Sandoz mit schmerzerstickter Stimme. {{Fage¬rolles}} schwieg mit der teilnahmslosen und würdigen Miene eines Familienfreundes, der einem Leichenbegängnisse folgt. Irma allein lächelte, sie fand die Geschichte drollig; dann lehnte sie sich mit einer schmeichelnden Gebärde an die Schulter des verhöhnten Malers, duzte ihn und flüsterte ihm ins Ohr: »Muß dich nicht kränken, mein Kleiner. Das sind nichts als Dummheiten; man hat seinen Spaß.« Doch Claude blieb unbeweglich. Eine große Kälte überkam ihm. Sein Herz hatte einen Augenblick stillgestanden, so grausam war die Enttäuschung. Mit weit geöffneten, durch eine unwiderstehliche Kraft angezogenen und festgehaltenen Augen betrachtete er sein Bild; er war erstaunt, er erkannte es kaum in diesem Saale. Es war sicherlich nicht dasselbe Werk wie in seinem Atelier. In dem fahlen Lichte, das durch den leinenen Vorhang sickerte, war das Gemälde gelb geworden; es schien auch kleiner, roher und schwerfälliger zugleich; und – sei es infolge der Wirkung der Umgebung, sei es wegen des neuen Raumes – er sah mit dem ersten Blick alle Fehler, nachdem er monatelang geblendet von ihm gestanden hatte. Mit wenigen Pinselstrichen malte er das Bild im Geiste neu, schob die Felder zurück, verbesserte da und dort die Zeichnung eines Gliedes, änderte den Wert eines Tones. Der Herr in der Samtjacke taugte nichts, war zu teigig und saß schlecht; nur die Hand war schön. Die zwei ringenden Frauen im Hintergrunde – die Blonde und die Schwarze – waren zu skizzenhaft und schwankend; nur ein Künstlerauge konnte sie belustigend finden. Dagegen war er zufrieden mit den Bäumen, mit der sonnenhellen Lichtung; und die nackte Frau im Grase schien ihm über sein Talent zu gehen, als habe ein anderer sie gemalt und als habe er sie so lebendig und so strahlend noch gar nicht gekannt. Er wandte sich zu Sandoz und sagte einfach: »Die Leute haben Recht, wenn sie lachen; das Bild ist unvollständig ... Immerhin ist die weibliche Hauptfigur gelungen; {{Bongrand}} hat sich nicht über mich lustig gemacht.« Sein Freund bemühte sich, ihn hin wegzuführen; aber er wich nicht; kam vielmehr näher. Nachdem er sein Werk beurteilt hatte, behorchte und beobachtete er die Menge. Das Gelächter dauerte fort und steigerte sich bis zur Raserei. Er sah, wie die Besucher schon an der Tür den Mund aufrissen; ihre Augen wurden kleiner, ihre Gesichter wurden breiter; das stürmische Pfauchen dicker Männer, das rostige Kreischen magerer Männer wurde übertönt von dem schrillen, flötenartigen Kichern der Frauen. Gegenüber an der Stützleiste warfen sich einige junge Leute zurück, als habe man sie gekitzelt. Eine Dame war auf ein Bänkchen niedergesunken, preßte die Knie zusammen; drohte zu ersticken, rang hinter ihrem Taschentuche nach Atem. Die Nachricht von diesem drolligen Gemälde schien sich zu verbreiten; man lief aus allen Ecken und Enden des Salons herbei; ganze Scharen kamen an, drängten sich herzu, wollten mit dabei sein. »Wo denn? – Dort! – Ha, welch' ein Spaß!« Die Witzworte fielen dichter als anderwärts; der Vorwurf was es hauptsächlich, der die Heiterkeit anfachte; man begriff die Sache nicht, man fand sie unsinnig, drollig zum Kranklachen. »Der Dame ist zu heiß, während der Herr seine Samtjacke angelegt hat, um sich keinen Schnupfen zu holen. – Aber nein; sie ist ja schon blau; der Herr hat sie aus einem Sumpfe gezogen und ruht jetzt in gehöriger Entfernung aus, wobei er sich die Nase zuhält. – Der Mann ist gar nicht höflich; er könnte uns doch seine andere Seite zeigen. – Es ist ein Mädchen-Pensionat auf dem Spaziergang: schaut doch, die beiden dort unten spielen ›Bockspringen‹. – Das ist die eingeseifte Wäsche! die Leiber sind blau, die Bäume sind blau, der Mann hat sein Bild in Waschblau getaucht.« Die nicht lachten, ärgerten sich: diese Bläue, diese neuartige Betonung des Lichts schien ein Schimpf. Werde man solche Schmähung der Kunst zulassen? Alte Herren schwangen ihre Stöcke. Ein ernster Herr ging beleidigt weg und bemerkte seiner Frau gegenüber, er sei kein Freund von schlechten Späßen. Ein anderer, ein kleiner, zaghafter Herr, suchte im Katalog die Erklärung des Bildes, um das in seiner Gesellschaft befindliche Fräulein aufzuklären; als er mit lauter Stimme den Titel »Freilicht« las, brach rings um ihn her ein neuer Sturm von Gelächter und Hohngeschrei aus. Das Wort lief von Mund zu Mund, man wiederholte es, erläuterte es: Freilicht! ach ja, Freilicht; der Bauch frei, alles frei. Es drohte ein Skandal zu werden; die Menge wuchs noch immer an, die Gesichter röteten sich in der steigenden Hitze, und jedes Gesicht zeigte den runden, dummen Mund der Unwissenden, die über Malerei urteilten, den Mund, der die ganze Summe von Eseleien, albernen Bemerkungen, blöden und schlechten Scherzen ausdrückte, die der Anblick eines originellen Werkes dem spießbürgerlichen Schwachsinn zu entlocken vermag. &&x Um das Maß voll zu machen, sah Claude in diesem Augenblicke Dubuche wieder auftauchen, der die Familie {{Margaillan}} hinter sich herschleppte. Vor dem Bilde wollte der Architekt verlegen, von einer feigen Scham ergriffen, die Schritte beschleunigen, seine Gesellschaft hinwegführen, wobei er tat, als habe er weder das Bild, noch seine Freunde bemerkt. Doch schon hatte der Bauunternehmer auf seinen kurzen Beinen sich hingepflanzt, riß die Augen auf und fragte sehr laut mit seiner groben, rauhen Stimme: »Wessen Pfote hat denn das geschmiert?« Diese gemütliche Roheit, dieser Ausruf eines millionenreichen Emporkömmlings, der den Durchschnitt der öffentlichen Meinung darstellte, erneuerte die Heiterkeit; geschmeichelt von seinem Erfolg, gekitzelt von der Seltsamkeit dieser Malerei, brach er ebenfalls in ein Gelächter aus, das so maßlos dröhnend aus seiner dicken Brust hervorkam, daß er alle anderen Lacher übertönte. Es war das Hallelujah, der Schlußakkord der großen Orgel. »Führen Sie[[1]] meine[[Besitz]] Tochter hinweg«, sagte die blasse Frau {{Margaillan}} Herrn Dubuche ins Ohr. Er eilte hinzu und machte Regine frei, welche die Augenlider gesenkt hatte; dabei entwickelte er eine Muskelkraft, als habe er dieses arme Wesen aus Todesgefahr gerettet. Nachdem er an der Tür die Familie {{Margaillan}} unter Händedrücken und den Grüßen eines Mannes von Welt verlassen hatte, kam er zu seinen Freunden zurück und sagte rundheraus zu Sandoz, {{Fage¬rolles}} und {{Gagnière}}: »Was wollt Ihr? Es ist nicht meine[[Besitz]] Schuld ... Ich hatte ihm vorausgesagt, daß das Publikum nicht begreifen werde. Es ist unanständig; Ihr könnt sagen, was Ihr wollt, es ist unanständig.« »Man hat {{Dela¬croix}} verhöhnt«, unterbrach ihn Sandoz kreideweiß vor Wut mit geballten Fäusten. Man hat auch {{Cour¬bet}} verhöhnt. Verdammtes Gesindel, blöde Henker!« {{Gagnière}}, der jetzt diesen Künstlergroll teilte, erboste sich bei dem Gedanken an die Schlachten in den Sonntags-Konzerten im Wolfsschritt-{{[Wolfs¬schritt]}}-Saale, wo wahre Musik gemacht wurde. »Sie[[1]] pfeifen Wagner aus ... es sind die nämlichen, ich erkenne sie ... Der Dicke dort ...« Jory mußte ihn zurückhalten; er würde die Menge aufgereizt haben. Er wiederholte, es sei prächtig und für hunderttausend Franken Publizität {{[Publi¬zi¬tät]}} da. Irma, die {{Gagnière}} abermals verloren, hatte in der Menge wieder zwei Freunde gefunden, zwei junge Börsenbesucher, die zu den ärgsten Spöttern gehörten und die sie belehrte, die sie zwang, das Bild sehr schön zu finden, indem sie ihnen auf die Finger schlug. {{Fage¬rolles}} schwieg; er betrachtete das Gemälde und betrachtete das Publikum. Mit seiner Witterung eines Parisers und seinem geschmeidigen Gewissen eines Jungen erklärte er sich das Mißverständnis und fühlte schon in unbestimmter Weise, was nötig sei, damit diese Malerei alle erobere; vielleicht nur einige auf Täuschung berechnete Striche, Abschwächungen, eine bessere Anordnung des Stoffes, eine Milderung der Mache. Der Einfluß, den Claude auf ihn übte, dauerte fort; er blieb durchdrungen davon, für immer gezeichnet! Allein er fand, daß jener ein Erznarr sei, eine solche Sache auszustellen. War es nicht blöd, an die Verständigkeit des Publikums zu glauben? Was sollte das nackte Weib neben diesem bekleideten Herrn? Was bedeuteten die zwei ringenden Frauen im Hintergrunde? Dabei die Vorzüge eines Meisters, ein Stück Malerei, wie es kein anderes in dem Salon gab! Er fühlte eine tiefe Mißachtung gegen diesen wunderbar begabten Maler, der ganz Paris zum Lachen brachte wie der letzte Farbenkleckser. Diese Mißachtung ward so stark, daß er sie nicht länger verbergen konnte. In einer Anwandlung unüberwindlichen Freimutes sagte er: »Höre, mein Lieber, du hast es gewollt; du bist zu dumm!« Claude wandte die Blicke von der Menge und sah ihn schweigend an. Er war unter dem Gelächter nicht schwach geworden, nur erblaßt, seine Lippen wurden von einem nervösen Zucken bewegt. Niemand kannte ihn, sein Gemälde allein wurde beschimpft. Dann wandte er wieder einen Moment die Blicke auf das Bild und ließ sie von da langsam über die anderen Bilder schweifen. In dem Zusammenbruche seiner Träume, in dem brennenden Schmerze, den sein Stolz erlitten, wehte ihm ein Hauch des Mutes, der Gesundheit und Jugendlichkeit aus all der Malerei an, die so heiter und tapfer, mit einer ungezügelten Leidenschaftlichkeit den Ansturm auf die alte Mache unternahm. Er fühlte sich dadurch getröstet und gestärkt, ohne Gewissensbisse und ohne Beklemmung, im Gegenteil gedrängt, den Kampf mit dem Publikum weiterzuführen. Gewiß sah man viele Ungeschicklichkeit, viele kindische Anstrengungen; aber im allgemeinen welch schöner Ton und welch schönes Licht! ein silbergraues, feines, gedämpftes Licht, erheitert durch alle hüpfenden Reflexe des Freilichts. Es war, als habe man plötzlich ein Fenster geöffnet in der alten Erdharzküche {{[Erd¬harz¬küche]}} mit den immer wieder neu gekochten Säften der Überlieferung; und es drang die Sonne ein, und die Mauern lachten an diesem Frühlingsmorgen. Der helle Ton seines Bildes, diese Bläue, die man verspottete, trat unter allen anderen hervor. War es nicht die erwartete Morgenröte, eine neue Zeit, die für die Kunst anbrach? Er bemerkte einen Kritiker, der stehen blieb, ohne zu lachen, berühmte Maler, die überrascht, mit ernster Miene seine Gemälde betrachteten. Der schmierige Vater {{Mal¬gras}} ging mit der geringschätzigen Miene eines Feinschmeckers von Bild zu Bild und blieb schließlich vor dem seinen stehen, in aufmerksame Betrachtung sich versenkend. Da wandte Claude sich zu {{Fage¬rolles}} und setzte diesen durch seine verspätete Antwort in Erstaunen. »Man ist so dumm, wie man es sein kann, mein Lieber; und man darf annehmen, daß ich dumm bleiben werde. Um so besser für dich, wenn du ein Gescheiter bist.« {{Fage¬rolles}} klopfte ihm auf die Schulter als Kamerad, der nur Spaß macht; und Claude ließ sich von Sandoz am Arm nehmen. Man führte ihn endlich hinweg, die ganze Schar verließ den Salon der Zurückgewiesenen, um nach dem Saal der Architektur hinüberzugehen. Dubuche, von dem man einen Entwurf für ein Museum angenommen hatte, flehte so sehr, daß es schwer war, seinen Wunsch nicht zu erfüllen. »Welch ein Eiskeller!« scherzte Jory, als sie den Saal betraten. »Da kann man aufatmen.« &&x Alle nahmen den Hut ab und trockneten sich erleichtert die Stirn, als seien sie nach einer langen Wanderung im Sonnenschein unter kühlem, schattigem Laub angekommen. Der Saal war leer. Von der mit einer weißen Leinwand verhüllten Decke fiel eine gleichmäßige, sanfte Helle in den Raum, die sich – gleich dem unbeweglichen Wasser einer Quelle – in dem stark gefirnißten Fußboden widerspiegelte. An den blaßrot gestrichenen vier Wänden hingen die großen und kleinen Rahmen der verschiedenen, in Aquarell gehaltenen Entwürfe. Ein einziger Besucher – ein bärtiger Herr – stand inmitten dieser Wüste vor dem Entwürfe eines Krankenhauses in tiefem Studium. Drei Damen erschienen und eilten erschreckt durch den Saal. Dubuche zeigte und erläuterte den Freunden sein Werk. Es war ein einziger Rahmen, ein armseliger, kleiner Museumssaal, den er in hastigem Ehrgeiz gegen den Brauch und gegen den Willen seines Lehrers eingesandt hatte, der es indes für eine Ehrensache angesehen, die Annahme des Entwurfes durchzusetzen. »In deinem Museum sollen vielleicht die Bilder aus der Freilichtschule untergebracht werden?« fragte {{Fage¬rolles}}, ohne zu lachen. {{Gagnière}} nickte bewundernd mit dem Kopfe und dachte dabei an etwas anderes, während Claude und Sandoz aus Freundschaft den Entwurf betrachteten und eine aufrichtige Teilnahme zeigten. »Es ist gar nicht übel«, sagte der erstere. »Die Verzierungen bewegen sich in einer ziemlich aus der Mode gekommenen Überlieferung; aber das schadet nichts, die Arbeit ist gut!« Jory war ungeduldig und unterbrach ihn schließlich. »Gehen wir? ... Man holt sich hier einen Schnupfen.« Die Schar setzte ihren Weg fort. Doch das Schlimmste war, daß sie, um ihren Weg abzukürzen, den offiziellen Salon durchschreiten mußten. Sie[[1]] ergaben sich drein trotz des geleisteten Schwures, keinen Fuß dahin zu setzen. Die Menge zerteilend, schritten sie in schroffer Teilnahmlosigkeit durch die Flucht der Säle mit Blicken der Entrüstung nach rechts und links. Hier herrschte nicht der heitere Lärm ihres Salons der Zurückgewiesenen mit den hellen Tönen und dem übertriebenen Sonnenlichte. Goldrahmen voll Schatten folgten aufeinander, steife und schwarze Sachen, Ateliersnacktheiten, die im Kellerlichte vergilbten, die ganze klassische Erbschaft: Geschichte, Genre, Landschaft, alle zusammen in dieselbe Wagenschmiere des Modischen getaucht. Eine gleichförmige Mittelmäßigkeit sprach sich in diesen Werken aus, die Unsauberkeit des Tons, die sie kennzeichnete, auf dem guten Untergrunde einer blutarmen und entarteten Kunst. Sie[[1]] beschleunigten ihre Schritte und beeilten sich, aus diesem noch aufrecht stehenden Reiche des Erdharzes hinauszukommen, mit ihrer Ungerechtigkeit von Sektierern alles in Bausch und Bogen verdammend; es sei nichts, aber schon gar nichts da, riefen sie. Endlich waren sie draußen und stiegen eben in den Garten hinab, als sie {{Mahou¬deau}} und {{Chaine}} begegneten. Der erstere warf sich Claude in die Arme. »Ach, mein Lieber, welches Leben steckt in deinem Bilde!« Der Maler lobte sogleich die Winzerin. »Auch du hast ihnen ein tüchtiges Stück an den Kopf geschleudert«, sagte er. Doch der Anblick {{Chaines}}, von dessen Ehebrecherin niemand sprach und der still herumirrte, erregte sein Mitleid. Die abscheuliche Malerei und das verfehlte Leben dieses Bauern, der ein Opfer spießbürgerlicher Bewunderung war, stimmten ihn tieftraurig. Er bereitete ihm stets die Freude eines Lobspruches; er schüttelte ihm auch jetzt wieder freundschaftlich die Hand und rief: »Auch Ihre Maschine ist sehr gut ... Sie[[1]] sind ein ganzer Kerl, dem das Zeichnen keine Angst macht.« »Nein; gewiß nicht!« erklärte {{Chaine}}, unter seinem struppigen schwarzen Barte tief errötend. {{Mahou¬deau}} und er schlossen sich der Schar an; der erstere fragte die anderen, ob sie den &&c=8 Sämann &&c=0 von {{Cham¬bou¬vard}} gesehen hätten. Es sei unerhört, das einzige Stück Skulptur im Salon. Alle folgten ihm in den Garten, den die Menge jetzt überflutete. »Schau!« rief {{Mahou¬deau}}, im Mittelwege stehen bleibend. »{{Cham¬bou¬vard}} steht gerade vor seinem Sämann.« In der Tat stand ein stämmiger Mann auf seinen dicken Beinen da und bewunderte sich selbst. Der Kopf saß tief zwischen den Schultern, und er hatte das breite, schöne Gesicht eines indischen Götzen. Man erzählte, er sei der Sohn eines Tierarztes aus der Gegend von Amiens. Mit fünfundvierzig Jahren war er schon der Schöpfer von zwanzig Meisterwerken; es waren einfache, lebendige Statuen mit sehr modernem Fleische, geknetet durch einen genialen Arbeiter, ohne jede Künstelei; und alles auf das Geratewohl des Schaffens, seine Werke spendend, wie eine Wiese ihr Gras spendet, an einem Tage gut, an einem anderen Tage schlecht, in vollkommener Unkenntnis dessen, was erschuf. Sein Mangel an kritischem Sinn ging so weit, daß er keinen Unterschied machte zwischen den rühmlichsten Schöpfungen seiner Hände und den Unholden, die er zuweilen hervorbrachte. Ohne nervöses Fieber, ohne einen Zweifel, stets fest und überzeugt, hatte er den Stolz eines Gottes. »Der Sämann ist erstaunlich!« murmelte Claude. »Welcher Aufbau, welche Bewegung!« {{Fage¬rolles}}, der keinen Blick auf die Statue geworfen hatte, ergötzte sich an dem großen Manne und dem Gefolge gaffender Schüler, das er stets hinter sich herschleppte. »Schaut den Gänsemarsch an!« rief er. »Es ist, als ob sie zum heiligen Abendmahl gingen! Und er! Welch ein Tierschädel, verklärt durch die Betrachtung des eigenen Nabels!« Allein und voll Behagen inmitten der allgemeinen Neugierde stand {{Cham¬bou¬vard}} in Verwunderung da mit der betroffenen Miene eines Menschen, der erstaunt ist, ein ähnliches Werk erzeugt zu haben. Es war, als sehe er es zum erstenmal, und er konnte sich daran nicht satt sehen. Dann erglänzte sein breites Antlitz in Entzücken, er nickte mit dem Kopfe, brach in ein seliges, unwiderstehliches Lachen aus und wiederholte: »Komisch ... komisch ...« Sein Gefolge verging schier in Verzückung, während er nichts anderes fand, um seine Selbstanbetung auszudrücken. &&x Doch jetzt entstand eine leichte Bewegung: {{Bongrand}}, der mit den Händen auf dem Rücken und mit unsteten Blicken umherging, war auf {{Cham¬bou¬vard}} gestoßen; das Publikum trat flüsternd beiseite und interessierte sich für den Händedruck der beiden berühmten Künstler, der eine kurz und vollblütig, der andere groß und fröstelnd. Man hörte sie kameradschaftliche Worte austauschen. »Immer Meisterwerke!« – »Gewiß! Und Sie[[1]] haben dieses Jahr nichts ausgestellt?« – »Nein, nichts; ich ruhe aus, ich suche.« – »Sie[[1]] Spaßvogel! Das kommt von selbst.« – »Auf Wiedersehen!« – »Auf Wiedersehen!« Schon ging {{Cham¬bou¬vard}}, gefolgt von seinem Hofe, langsam durch die Menge mit den Blicken eines Monarchen, der sich des Lebens freut; während {{Bongrand}}, der Claude und dessen Freunde erkannt hatte, sich mit fiebernden Händen diesen näherte und, mit einer Bewegung des Kinns auf den Bildhauer weisend, ausrief: »Das ist ein Kerl, den ich beneide. Der glaubt immer, Meisterwerke geschaffen zu haben!« Er belobte {{Mahou¬deau}} für seine Winzerin, zeigte sich väterlich gegen alle mit seiner behäbigen Gemütlichkeit, seiner Gelassenheit eines gut gestellten und dekorierten Romantikers. Dann wandte er sich an Claude. »Was sagte ich Ihnen? Sie[[1]] haben aber selbst gesehen ... Sie[[1]] sind jetzt das Oberhaupt einer Schule.« »Ach ja,« antwortete Claude, »man hat mich schön heimgeschickt. Sie[[1]] sind unser aller Meister.« {{Bongrand}} machte eine schmerzliche Gebärde und entfernte sich mit den Worten: »Schweigen Sie[[1]], ich bin nicht einmal Meister meiner selbst.« Noch einen Augenblick irrte die Schar im Garten umher. Man war zur &&c=8 Winzerin &&c=0 zurückgekehrt, um sie zu betrachten, als Jory bemerkte, daß {{Gagnière}} seine Irma {{Bécot}} nicht mehr am Arme habe. Dieser war verblüfft: wo zum Teufel mochte er sie verloren haben? Doch als {{Fage¬rolles}} ihm mitteilte, daß sie mit zwei Freunden, die sie in der Menge gefunden, davongegangen sei, beruhigte er sich und folgte den übrigen, erfreut über diesen unerwarteten Glücksfall. Man konnte jetzt nur mehr mit vieler Mühe sich fortbewegen. Alle Bänke waren im Sturm genommen; die Wege waren von ganzen Gruppen verstellt, die langsame Bewegung der Spaziergänger geriet ins Stocken und kehrte unaufhörlich zu den bronzenen und marmornen Bildwerken zurück, welche den Beifall des Publikums gefunden hatten. Von dem stark belagerten Büfett ging ein lautes Gesumme, ein Geräusch von Löffeln und Tellern aus und mengte sich in das zitternde Leben, das in dem ungeheuren Schiffe herrschte. Die Sperlinge waren wieder in das gußeiserne Gebälk zurückgekehrt; man hörte ihr lautes Gezwitscher, mit dem sie die zur Rüste gehende Sonne unter dem heißen Glasdache begrüßten. Es herrschte eine feuchte Treibhaushitze; die Luft war unbeweglich, widrig, von dem Gerüche frisch aufgeworfenen Erdreiches. Das Gewoge im Garten übertönend, dauerte im ersten Stocke das Gepolter der Füße auf dem eisernen Fußboden unablässig fort mit dem Tosen eines Seesturmes, der die Küste peitscht. Claude, der dieses Tosen des Ungewitters deutlich hörte, hatte schließlich nichts anderes als dieses Geheul in den Ohren. Es war das Hohngelächter der Menge, das vor seinem Bilde zu einem Orkan anwuchs. Er machte eine nervöse Gebärde und rief: »Was suchen wir hier? Ich nehme nichts am Büfett; es stinkt nach dem Institut ... Laßt uns draußen einen Schoppen trinken; wollt ihr?« Alle gingen hinaus mit müden Beinen und langweiligen, geringschätzigen Gesichtern. Draußen schöpften sie laut Atem mit einer Miene des Entzückens, weil sie wieder zur schönen Lenzesnatur zurückkehren durften. Es hatte soeben vier Uhr geschlagen; die Sonne beleuchtete mit ihren schrägen Strahlen die Elysäischen Felder, und alles flammte: die dichten Reihen von Kutschen, das junge Laub der Bäume, die Wasserstrahlen der Springbrunnen, die emporschossen und wie ein Goldstaub zerflatterten. In zögerndem Bummelgang schritten sie hinab und machten schließlich in einem kleinen Kaffeehause halt, im Postillon zur Eintracht links vor dem Platze. Der Saal war so eng, daß sie vorzogen, draußen am Saume des Gehweges sich niederzulassen trotz der Kühle, die von dem dichten, dunklen Laubdache niederrieselte. Doch hinter den vier Reihen Kastanienbäumen lag jenseits dieses Streifens von grünlichem Schatten vor ihnen die sonnenhelle Fahrbahn der Allee, auf der Paris wie auf einer Ruhmesstraße dahinzog, die Kutschen mit den sternartig strahlenden Rädern, die großen, gelben Omnibusse, mit Gold mehr überladen als Triumphwagen, Reiter, deren Rosse Funken zu sprühen schienen, Fußgänger, die in dem Lichte sich verklärten und erstrahlten. Hinter seinem unberührt gebliebenen Bierglase sprach und stritt Claude nahezu drei Stunden lang in einem immer wachsenden Fieber, mit müdem Körper und einem Kopfe, der voll war von all der Malerei, die er soeben gesehen. Es war die übliche Unterhaltung unter Kameraden nach dem Verlassen des Salons, dieses Jahr noch angeregt durch die freimütige Maßregel des Kaisers; eine Hochflut von Grundsätzen, ein betäubendes Durcheinander, in dem die Zungen nur lallten; die ganze Leidenschaft der Kunst, von der ihre Jugend aufloderte. »Das Publikum lacht... was weiter?« rief er. »Man muß das Publikum erziehen. Im Grunde ist's ein Sieg. Entfernt zweihundert plumpe Bilder aus unserem Salon, und er verdunkelt den andern. Wir haben den Wagemut; unser ist die Zukunft. Ja, ja, man wird später sehen; werden ihren Salon totmachen, mit Hilfe von Meisterwerken als Eroberer in ihn einziehen. Lache nur, lache, du großes Tier Paris, bis du uns zu Füßen sinken wirst!« Sich unterbrechend, zeigte er mit einer prophetischen Bewegung nach der stolzen Allee, wo im Sonnenschein der Luxus und die Freude der Stadt dahinrollten. Seine Gebärde wurde umfassender, stieg bis zum Eintrachtsplatze hinab, den man seitwärts unter den Bäumen wahrnahm mit einem seiner Springbrunnen, dessen Becken überflossen, mit einem Ende seiner Einfassungen und zweien seiner Statuen: Rouen {{[Rouen]}} mit riesigen Brüsten und &&c=8 Lille &&c=0 {{[Lille]}}, das einen ungeheuren nackten Fuß vorstreckt. »Das &&c=8 Freilicht &&c=0 macht ihnen Spaß«, fuhr er fort. »Es sei, da sie es wollen, das Freilicht, die Schule des Freilichts! ... Es war nur unter uns, existierte noch gestern nur für einige Maler. Jetzt bringen sie das Wort in die Mode; das Publikum selbst gründet die Schule. Mir ist's recht; nennen wir's die Freilichtschule!« Jory schlug sich auf die Schenkel. »Sagte ich dir's nicht? Ich war sicher, daß ich mit meinen[[Besitz]] Artikeln diese Trottel dazu bringe anzubeißen. Wir wollen sie hübsch ärgern.« Auch {{Mahou¬deau}} stimmte in den Siegesgesang ein; er kam immer wieder auf seine Winzerin zurück, deren Kühnheit er dem stillen {{Chaine}} erklärte, der allein ihm zuhörte; während {{Gagnière}} mit der Schroffheit der Schüchternen, die man auf das Gebiet der reinen Gedanken gejagt hat, davon sprach, daß das ganze Institut guillotiniert werden müsse; Sandoz in seiner glühenden Teilnahme eines Arbeitsamen, und Dubuche, von den vorwärts stürmenden Freunden angesteckt, redeten sich immer mehr in eine Erbitterung hinein, hieben auf die Tische und schwemmten mit jedem Schluck Bier Paris hinunter. {{Fage¬rolles}} allein bewahrte seine lächelnde Ruhe. Er war ihnen nur zum Spaß gefolgt, weil es ihm ein seltsames Vergnügen machte, die Kameraden in Possen hineinzudrängen, die ein schlimmes Ende nehmen mußten. Während er ihren revolutionären Geist anspornte, faßte er im stillen den festen Entschluß, sich kräftig um den Preis von Rom zu beweiben; dieser Tag führte in ihm die Entscheidung herbei; er fand es albern, sein Talent noch länger bloßzustellen. &&x Die Sonne stieg am Horizont hernieder, und man sah in ihrem mattgoldenen Lichte nichts als den Strom der aus dem Gehölz zurückkehrenden Wagen. Auch der Besuch des Salons schien zu Ende; eine endlose Reihe von Leuten kam heraus, darunter viele Herren mit kritischen Mienen, jeder mit einem Katalog unter dem Arm. {{Gagnière}} geriet in eine plötzliche Begeisterung. »Ach, {{Courajod}}! Das ist einer, der die Landschaft erfunden hat! Haben Sie[[1]] seinen ›Sumpf von {{Gagny}}‹ im Luxembourg gesehen?« »Ein Wunderwerk!« rief Claude. »Es ist vor dreißig Jahren gemalt, und seither hat man nichts Besseres hervorgebracht ... Warum läßt man das Bild im Luxembourgpalast? Das müßte im Louvre sein.« »{{Courajod}} ist ja noch am Leben«, sagte {{Fage¬rolles}}. »Wie? {{Courajod}} ist noch am Leben? Man sieht ihn nicht mehr; man spricht von ihm nicht mehr.« Die Verblüffung war allgemein, als {{Fage¬rolles}} versicherte, daß der große Landschafter, jetzt siebzig Jahre alt, irgendwo bei Montmartre in einem kleinen Häuschen zurückgezogen lebe, umgeben von Hühnern, Enten und Hunden. So konnte man sich selbst überleben; es gab alte Künstler, die dem Trübsinn verfallen, vor ihrem Tode verschwanden. Alle schwiegen; ein Frösteln hatte sie ergriffen, als sie {{Bongrand}} am Arme eines Freundes vorübergehen sahen, das Antlitz hochgerötet, mit unruhiger Bewegung ihnen einen Gruß zuwinkend; knapp hinter ihm kam {{Cham¬bou¬vard}} von seinen Schülern umgeben, sehr laut lachend, fest auftretend, als unbedingter Meister, der Unsterblichkeit sicher. »Wie, du verläßt uns?« fragte {{Mahou¬deau}} seinen Freund {{Chaine}}, der sich erhoben hatte.« Der andere brummte etwas in den Bart, nachdem er zum Abschied Händedrücke ausgeteilt. »Der geht sich deine Hebamme vergönnen,« sagte Jory zu {{Mahou¬deau}}; »jawohl, die Kräuterhändlerin ... Auf mein Wort, ich sah vorhin seine Augen plötzlich aufflammen; es kommt über den Jungen wie ein Zahnschmerz; sieh, wie er rennt.« Der Bildhauer zuckte die Achseln, während die anderen lachten. Nur Claude hatte nicht zugehört. Er sprach jetzt mit Dubuche über Architektur. Sein Museumssaal sei nicht übel; aber es sei nichts Neues darin, man sehe eine mühsame Mosaik der alten Schulformeln. Müssen nicht alle Kräfte gleichmäßig fortschreiten? Die Entwicklung, welche die Literatur, die Malerei, selbst die Musik umgestaltete, mußte sie nicht auch die Architektur erneuern? Wenn einmal die Architektur eines Jahrhunderts ihren eigenen Stil haben mußte, so sei es sicherlich der des Jahrhunderts, in welches man bald eintreten werde, eines neuen Jahrhunderts, eines reingefegten Bodens, in dem alles neu aufgebaut werde, eines frisch besäten Feldes, auf dem ein neues Volk emporwachse. Am Boden lagen die griechischen Tempel, die kein Daseinsrecht mehr hatten, unter unserem Himmel inmitten unserer Gesellschaft; am Boden lagen die gotischen Kathedralen, da der Glaube an die Legenden tot war; am Boden lagen die feinen Säulenreihen, die sorgfältige Spitzenarbeit der Renaissance, dieser auf das Mittelalter gepfropfte Frühling der Antike, diese Schatzkästlein der Kunst, in denen unsere Demokratie ihr Heim nicht findet. Er verlangte, er forderte mit heftigen Gebärden die architekturale Formel dieser Demokratie, das Werk in Stein, das sie zum Ausdruck bringen solle, das Gebäude, wo sie zu Hause sei, irgend etwas Unermeßliches und Starkes, Einfaches, und Großes, jenes Etwas, das sich bereits in unseren Bahnhöfen, in unseren Hallen andeute mit der soliden Eleganz ihres Eisengebälks, aber noch geläutert, bis zur Schönheit erhaben, die Größe unserer Errungenschaften kündend. »O ja, o ja«, wiederholte Dubuche, von Claudes Begeisterung fortgerissen. »Das werde ich eines Tages machen; du sollst es sehen. Laß mich nur erst ans Ziel gelangen; wenn ich frei bin, wenn ich frei bin! ...« Es kam die Nacht. Claude wurde in der Erregtheit seiner Leidenschaft immer lebhafter, von einer Beredsamkeit, welche die Kameraden an ihm bisher nicht gekannt hatten. Alle wurden durch seine Reden angeregt, durch die inhaltsvollen Worte, die er unter sie warf, zu einer geräuschvollen Heiterkeit gestimmt. Er war schließlich wieder auf sein Bild gekommen und sprach scherzend davon, ahmte Spießbürger nach, die es betrachteten, die ganze Stufenleiter ihres blöden Gelächters. In der in ein aschgraues Dämmerlicht getauchten Allee sah man nur mehr die Schatten weniger Wagen vorüberziehen. Der Gehweg war ganz dunkel, und eine eisige Kälte senkte sich von den Bäumen hernieder. Aus einem Garten hinter dem Kaffeehause tönte gedämpfter Gesang herüber; es war eine Probe im Uhrenkonzertsaal, die gefühlvolle Stimme eines Mädchens, das sich in einem neuen Liede versuchte. »Ja, die Trottel haben mir viel Spaß gemacht!« rief Claude in einem letzten Gelächter. »Nicht für hunderttausend Franken würde ich meinen[[Besitz]] heutigen Tag hingeben!« Er schwieg erschöpft; allen war die Redelust ausgegangen. Eine Stille war angetreten; sie fröstelten in dem kühlen Abendwind. Endlich schieden sie mit müdem Händedruck wie in einer Betäubung. Dubuche speiste in der Stadt, {{Fage¬rolles}} hatte ein Stelldichein. Jory, {{Mahou¬deau}} und {{Gagnière}} bemühten sich vergebens, Claude zu {{Foucart}} mitzunehmen, einem Restaurant zu fünfundzwanzig {{Sous}}; Sandoz hatte ihn bereits beim Arm genommen, beunruhigt durch seine Heiterkeit. »Komm mit; ich habe meiner Mutter versprochen heimzukehren; du wirst mit uns essen, und wir beschließen den Tag ganz angenehm zusammen.« Beide gingen das Ufer hinab, die {{Tuilerien}} entlang, in brüderlicher Zuneigung fest aneinander geschmiegt. Aber bei der Brücke der Heiligen Väter blieb der Maler plötzlich stehen. »Du verläßt mich?« rief Sandoz. »Du sollst doch mit mir essen?« »Nein, ich danke. Ich habe Kopfschmerz und gehe schlafen.« Bei dieser Entschuldigung blieb er. »Gut, gut«, sagte schließlich der andere lächelnd. »Man sieht dich nicht mehr, du lebst in ein Geheimnis gehüllt. Geh, ich will dich nicht weiter aufhalten.« Claude unterdrückte eine Bewegung der Ungeduld, ließ seinen Freund die Brücke überschreiten und setzte allein seinen Weg am Ufer fort. Er ging mit hängenden Armen und zu Boden gesenktem Kopfe, ohne etwas zu sehen; er machte lange Schritte wie ein Mondsüchtiger, den der Instinkt leidet. Auf dem Bourbonufer vor seiner Haustür erhob er erstaunt die Augen, als er knapp am Bürgersteig eine Droschke halten sah, die ihm den Weg verstellte. Mit demselben mechanischen Schritte trat er bei der Pförtnerin ein, um seinen Schlüssel zu verlangen. »Ich habe ihn der Dame gegeben«, rief Frau Joseph aus dem Hintergrunde ihres Stübchens. »Die Dame ist oben.« »Welche Dame?« fragte er betroffen. »Die junge Person, die immer kommt ... Sie[[1]] wissen ja.« Er wußte nicht und entschloß sich endlich hinaufzugehen, eine Beute der äußersten Verwirrung. Der Schlüssel steckte in der Tür, die er öffnete und langsam wieder schloß. &&x Claude blieb einen Augenblick unbeweglich stehen. Das Atelier war in Schatten getaucht, in einen violett scheinenden Schatten, der in einem trüben Dämmer durch das breite Glasfenster hereinfiel und alle Dinge einhüllte. Er sah den Fußboden nicht mehr deutlich, auf dem die Möbel, die Bilder, alles, was da herumlag und stand, zu zerfließen schien wie in dem trägen Wasser eines Sumpfes. Doch hob sich von allem eine dunkle Gestalt ab, die am Rande des Sofas saß, steif durch das lange Warten, beklommen und trostlos bei diesem zur Neige gehenden Tage. Es war Christine; er hatte sie erkannt. Sie[[1]] reichte ihm die Hände und murmelte mit leiser, stockender Stimme: »Seit drei Stunden bin ich da allein und horche auf das Geräusch Ihrer Schritte. Beim Fortgehen nahm ich einen Wagen, denn ich wollte nur hierherkommen und rasch wieder heimkehren. Aber ich wäre die ganze Nacht da geblieben; ich konnte nicht fortgehen, ohne Ihnen die Hände gedrückt zu haben.« Sie[[1]] fuhr fort, erzählte von ihrem heftigen Verlangen, sein Bild zu sehen; wie sie nach dem Salon geeilt und mitten in den Sturm des Gelächters und Gejohles der Menge geraten sei. Sie[[1]] zischte man so aus; auf ihre Blöße spien die Leute, auf diese Blöße, deren rohe Schaustellung vor dem Gespött von Paris ihr gleich an der Tür den Atem benommen hatte. Von einer wahnsinnigen Furcht ergriffen, vor Scham und Schmerz fast den Verstand verlierend, war sie geflohen, als habe sie gefühlt, wie all das Gelächter ihre nackte Haut treffe, sie mit Peitschenhieben blutig geißele. Doch sie vergaß jetzt sich selbst und dachte nur an ihn, trostlos bei dem Gedanken an seinen Kummer, die Bitterkeit wegen dieses Mißerfolges noch durch ihre ganze frauenhafte Empfindlichkeit steigernd und von einem unermeßlichen Bedürfnisse nach Mitleid überfließend. »O, mein Freund, grämen Sie[[1]] sich nicht! ... Ich wollte Sie[[1]] sehen und Ihnen sagen, daß es nur Neider sind, daß ich Ihr Bild sehr gut finde, daß ich stolz und überglücklich bin, Sie[[1]] dabei unterstützt zu haben, ein klein wenig mit dabei zu gelten.« Noch immer unbeweglich hörte er sie diese zärtlichen Worte stammeln; plötzlich stürzte er ihr zu Füßen und ließ – in Tränen ausbrechend – sein Haupt auf ihre Knie niedersinken. Seine ganze Erregtheit vom Nachmittag, seine Tapferkeit eines ausgezischten Künstlers, seine Heiterkeit und seine Heftigkeit machten sich Luft in einem Weinkrampfe, der ihn beinahe erstickte. Seitdem er den Ausstellungssaal verlassen, wo er den Schimpf des Hohngelächters erduldet, hörte er das Gelächter gleich einer kläffenden Meute ihn verfolgen, in den Elysäischen Feldern, dann die {{Seine}} entlang und jetzt auch hier in seinem Heim hinter seinem Rücken. Seine Kraft war völlig geschwunden, er fühlte sich hinfälliger als ein Kind, und seinen Kopf in ihrem Schoße verbergend, wiederholte er mit erlöschender Stimme und matter Gebärde: »Mein Gott, wie leide ich!« Da hob sie, von Leidenschaft überwältigt, mit ihren beiden Händen seinen Kopf bis zu ihrem Munde. Sie[[1]] küßte ihn und hauchte ihm mit heißem Atem, bis in sein Herz dringend, die Worte zu: »Schweig, schweig, ich liebe dich!« Sie[[1]] fanden sich; ihre Kameradschaft mußte zu diesem Sofa führen, nachdem das Abenteuer mit dem Bilde sie allmählich vereint hatte. Die Dämmerung hüllte sie ein; sie blieben, einander in den Armen liegend, in Seligkeit vergehend, in Tränen gebadet in dieser ersten Liebesfreude. Der Fliederstrauß, den sie am Morgen gesandt, stand neben ihnen auf dem Tische und erfüllte den dunkeln Raum mit seinem Dufte; und nur die vom Rahmen aufgeflogenen Goldstäubchen leuchteten in einem sternenartigen Flimmern. &&x &&ns &&am &&g="Sechstes_Kapitel." &&fa Sechstes Kapitel. &&fe &&ax &&lg=x Als die Nacht gekommen war, sagte er, sie noch immer in seinen Armen haltend: »Bleibe!« Doch sie hatte sich mit einer Anstrengung losgemacht. »Ich kann nicht, ich muß heimkehren.« »Nun, dann morgen ... Ich bitte dich, komm morgen wieder.« »Morgen ist's unmöglich, aber bald. Lebewohl!« Aber am nächsten Morgen war sie um sieben Uhr da, noch ganz rot von der Lüge, die sie der Frau Vanzade gesagt hatte: sie müsse eine aus Clermont ankommende Freundin auf dem Bahnhofe erwarten und wolle mit ihr den Tag zubringen. Entzückt, sie einen ganzen Tag zu besitzen, wollte Claude sie auf das Land hinausführen in dem Bedürfnisse, sie weit fort im hellen Sonnenschein für sich allein zu haben. Sie[[1]] war bezaubert von dem Vorschlage, und sie machten sich – närrisch vor Freude – auf den Weg nach dem Lazarusbahnhofe, wo eben ein Zug nach {{Havre}} abging. Er kannte das Dörfchen {{Benne¬court}} bei {{Mantes}}; dort war eine Künstlerkneipe, wo zuweilen die Schar der Kameraden sich getummelt; unbekümmert um die zwei Stunden Eisenbahnfahrt, führte er sie dahin frühstücken, wie er sie nach {{Asnières}} geführt haben würde. Sie[[1]] fand ein großes Vergnügen an dieser schier endlosen Reise. Wenn's am Ende der Welt lag, um so besser. Es war ihnen, als solle der Abend niemals kommen. Um zehn Uhr stiegen sie in {{Bonnières}} aus und ließen sich mittelst der Fähre – einer alten, an der Kette laufenden Fähre – über den Fluß setzen; denn {{Benne¬court}} lag am andern Ufer der {{Seine}}. Es war ein herrlicher Maitag; die Sonne bestreute das ruhig dahinfließende Wasser mit Goldsternen, das junge Laub prangte in zartem Grün unter dem fleckenlosen Blau des Himmels. Jenseits der Inseln, mit denen der Fluß an dieser Stelle bedeckt ist, erblickten sie zu ihrer Freude die ländliche Herberge mit ihrem kleinen Gewürzladen, ihrem großen Saal, der nach frischer Wäsche roch, ihrem großen, mit Dünger angefüllten Hofe, wo Enten in der Mistpfütze herumwatschelten. »Vater {{Faucheur}}, wir kommen frühstücken ... Einen Eierkuchen, Würste, Käse.« »Werden Sie[[1]] hier schlafen, Herr Claude?« »Nein, nein, ein andermal. Und Weißwein, von dem leichten, der ein wenig die Gurgel kratzt.« Schon war Christine der Mutter {{Faucheur}} in den Hühnerhof gefolgt. Als letztere mit Eiern zurückkehrte, fragte sie den Maler mit dem schlauen Lächeln der Bäuerin: »Sie[[1]] sind also jetzt verheiratet?« »Natürlich,« antwortete er rundweg; »es muß wohl so sein, da ich meine[[Besitz]] Frau bei mir habe.«: Das Frühstück war köstlich, der Eierkuchen zu stark ausgebacken, die Würste zu fett, das Brot so hart, daß er ihr Tunkschnitten {{[Tunk¬schnit¬ten]}} schneiden mußte, damit sie sich die Handknöchel nicht verrenke. Sie[[1]] tranken zwei Flaschen und brachen eine dritte an; sie waren so heiter, so geräuschvoll, daß sie sich selbst betäubten in dem großen Saale, wo sie allein speisten. Christinens Wangen glühten, und sie versicherte, daß sie berauscht sei; es war ihr noch nie widerfahren, und sie fand es so drollig, so drollig! ... Sie[[1]] lachte und konnte nicht an sich halten. »Laß uns ins Freie gehen«, sagte sie endlich. »Ja, wir wollen einen Gang machen. Wir fahren um vier Uhr zurück und haben drei Stunden vor uns.« Sie[[1]] gingen das Dorf {{Benne¬court}} hinauf, dessen gelbe Häuser sich zwei Kilometer lang am Flußufer hinziehen. Das ganze Dorf war bei der Feldarbeit; sie begegneten nur drei Kühen, die von einem kleinen Mädchen geführt wurden. Er erklärte ihr mit ausgestrecktem Arm die Gegend und schien genau zu wissen, wohin er ging. Als sie bei dem letzten Hause angekommen waren, einem alten Bau, der knapp am Flußufer gegenüber den Hängen von {{Jeufosse}} stand, machte er die Runde um das Haus und betrat ein kleines, dichtes Eichengehölz. Das war das Ende der Welt, das beide suchten, ein samtweicher Rasen, ein Obdach von Laub, wohin nur die Sonne in dünnen Flammenpfeilen dringen konnte. Sogleich fanden sich ihre Lippen in einem gierigen Kusse; sie gab sich ihm hin, und er nahm sie inmitten des frischen Geruches des Grases, wohin sie sich niedergelassen hatten. Lange verweilten sie an diesem Orte in bewegter Stimmung, nur selten ein leises Wort tauschend, bloß der Liebkosung ihres Hauches hingegeben, in Verzückung vor den Goldpünktchen, die sie am Grunde ihrer braunen Augen leuchten sahen. Als sie zwei Stunden später aus dem Wäldchen herauskamen, erbebten sie: ein Bauer stand in der weit geöffneten Tür des Hauses; er schien sie mit den eingekniffenen Augen eines alten Wolfes belauert zu haben. Sie[[1]] errötete tief; während er, um seine Verlegenheit zu verbergen, laut ausrief: »Schau, Vater {{Poirette}}! Die Hütte gehört Euch?« Der Alte erzählte unter Tränen, seine Mieter seien fort, ohne ihn zu bezahlen, und hätten ihre Möbel zurückgelassen. Er lud sie ein einzutreten. »Sie[[1]] können immerhin das Haus besichtigen; vielleicht wissen Sie[[1]] jemanden, dem Sie[[1]] es empfehlen würden. Es gibt viele Pariser, die damit zufrieden wären. Dreihundert Franken jährlich mit den Möbeln: das ist doch geschenkt, nicht wahr?« Sie[[1]] folgten ihm neugierig. Es war ein großer Bau in der Form einer Laterne, augenscheinlich aus einer Scheune umgestaltet; unten eine riesig große Küche und daneben ein Saal, der als Tanzboden hätte dienen können; oben gleichfalls zwei Gelasse, so geräumig, daß man sich darin verlor. Die Möbel bestanden aus einem Bett von Nußbaumholz, das in einem der Zimmer stand, aus einem Tisch und dem Küchengerät. Der verlassene Garten vor dem Hause war mit prächtigen Aprikosenbäumen bepflanzt und voll riesiger Rosenstöcke, die mit Rosen bedeckt waren. Hinter dem Hause lag ein kleines Kartoffelfeld, das sich bis zu dem Eichenwäldchen hinzog und mit einer lebenden Hecke eingefriedet war. »Die Kartoffeln will ich dem Mieter überlassen«, sagte Vater {{Poirette}}. Claude und Christine hatten sich angeschaut in dem plötzlichen Verlangen nach Einsamkeit und Vergessen, wie es die Liebenden so mächtig überkommt. Wie schön wäre es, sich da zu lieben in diesem Nest fern von den anderen! Doch sie lächelten sogleich; konnten sie denn? Sie[[1]] hatten knapp Zeit, den Zug zu erreichen, um nach Paris zurückzukehren. Der alte Bauer – der Vater der Frau {{Faucheur}} – gab ihnen das Geleit bis zur Fähre. Als sie eingestiegen waren, rief er nach einem inneren Kampf ihnen nach: »Hören Sie[[1]]: ich will es für zweihundertfünfzig Franken überlassen! Schicken Sie[[1]] mir Leute!« In Paris begleitete Claude Christine bis zu dem Hause der Frau Vanzade. Sie[[1]] waren sehr traurig geworden, tauschten einen langen, verzweifelten, stummen Händedruck aus und wagten nicht sich zu küssen. Jetzt begann ein qualvolles Leben. In zwei Wochen hatte sie nur dreimal kommen können; atemlos war sie herbeigeeilt; sie hatte nur wenige Minuten Zeit, denn gerade jetzt zeigte sich die alte Dame sehr anspruchsvoll. Er befragte sie geängstigt, weil er sie so bleich, nervös, die Augen im Fieber brennen sah. Niemals hatte sie so sehr gelitten in diesem frommen Hause, in diesem luft- und lichtlosen Keller, wo sie beinahe vor Langeweile umkam. Ihre Schwindelanfälle waren wiedergekehrt; der Mangel an Bewegung hatte zur Folge, daß ihr Blut stürmisch an die Schläfen pochte. Sie[[1]] gestand ihm, daß sie eines Abends in ihrem Zimmer ohnmächtig geworden; ihr war, als habe eine bleierne Faust ihr die Kehle zugeschnürt. Sie[[1]] fand kein schlechtes Wort gegen ihre Gebieterin, sprach vielmehr mit Rührung von ihr: die arme Frau sei so alt, so gebrechlich und so gut und nenne sie immer ihre Tochter. Es koste ihr jedesmal eine Selbstüberwindung, als begehe sie eine schlechte Handlung, wenn sie die alte Frau verließ, um zu ihrem Liebhaber zu eilen. &&x Es verflossen noch zwei Wochen. Die Lügen, mit denen sie jede freie Stunde bezahlen mußte, wurden ihr unerträglich. Zitternd vor Scham, kehrte sie jetzt jedesmal nach diesem strengen Hause zurück, wo ihre Liebe ihr ein Fleck schien. Sie[[1]] hatte sich ihm hingegeben, sie hätte es laut ausgerufen; ihre Ehrlichkeit sträubte sich dagegen, es wie eine Sünde zu verheimlichen, in niedriger Weise zu lügen wie eine Magd, die entlassen zu werden fürchtet. Endlich warf sich eines Abends im Atelier in dem Augenblicke, wo sie wieder weggehen sollte, Christine schluchzend vor Schmerz und Liebe Claude in die Arme. »Ach, ich kann nicht, ich kann nicht ... Behalte mich; laß mich nicht dorthin zurückkehren.« Er hatte sie ergriffen und küßte sie zum Ersticken. »Ist's wahr, du liebst mich? Oh, teurer Engel! ... Aber ich habe nichts, und du würdest alles verlieren. Darf ich zugeben, daß du dich so beraubst?« Sie[[1]] schluchzte noch stärker, ihre Worte erstarben in ihren Tränen. »Ihr Geld, nicht wahr? Das Geld, das sie mir hinterlassen würde? Du glaubst, ich berechne das? Niemals habe ich daran gedacht, ich schwöre es dir. Sie[[1]] kann alles behalten, wenn ich nur meine[[Besitz]] Freiheit wieder habe! ... Mir liegt an nichts und an niemandem; ich habe keinen Verwandten: darf ich nicht tun, was ich will? Ich verlange nicht, daß du mich heiratest; ich verlange nur bei dir zu leben ...« Mit einem letzten bitterlichen Schluchzen fügte sie hinzu: »Du hast recht, es ist schlecht, die arme Frau zu verlassen! Ich verachte mich; ich möchte, daß ich die Kraft habe ... Aber ich liebe dich zu sehr, ich leide zuviel; ich kann doch nicht daran sterben ...« »Bleibe, bleibe!« schrie er. »Die anderen können sterben; wir leben für uns beide.« Er hatte sie auf seine Knie gesetzt, beide weinten und lachten und schwuren sich unter Küssen, sich niemals, niemals zu trennen.« Es war ein toller Streich. Christine verließ Frau Vanzade plötzlich und schaffte schon am nächsten Tage ihren Koffer weg. Sie[[1]] erinnerten sich sogleich des verlassenen Hauses zu {{Benne¬court}}, der riesigen Rosenstöcke und der großen Stuben. Fort, fort, ohne eine Stunde zu verlieren; am Ende der Welt leben, der Wonne ihrer jungen Liebe hingegeben. Sie[[1]] schlug freudig in die Hände. Noch gekränkt durch seinen Mißerfolg im Salon und erholungsbedürftig, sehnte er sich nach der tiefen Ruhe im Schoß der gütigen Natur. Dort werde er das wahre Freilicht finden, bis zum Halse im Grase arbeiten können. Von dort werde er wahre Meisterwerke mitbringen. In zwei Tagen war alles bereit, das Atelier gekündigt, die spärliche Einrichtung nach dem Bahnhofe geschafft. Ein Glücksfall brachte ihnen ein Vermögen zu: Vater {{Mal¬gras}} zahlte fünfhundert Franken für zwanzig Bilder, die er aus den Trümmern der Übersiedelung herausgefischt. Sie[[1]] würden ein fürstliches Leben führen; Claude hatte seine Rente von tausend Franken, Christine brachte einige Ersparnisse mit, hatte ihre Ausstattung, Kleider zur Genüge. So ergriffen sie denn die Flucht, ohne auch nur die Freunde mit einer Zeile zu benachrichtigen. Mit einem frohen Lachen der Erleichterung verließen sie dieses mißachtete Paris. Der Monat Juni ging zu Ende; in der Woche ihrer Einrichtung regnete es unaufhörlich in Strömen; sie entdeckten, daß der Vater {{Poirette}}, ehe er den Vertrag mit ihnen unterzeichnet, die Hälfte der Küchengeräte fortgeschafft hatte. Doch diese Enttäuschung verstimmte sie nicht; sie patschten im Regen mit Wonne meilenweit bis nach {{Vernon}}, um Teller und Schüsseln einzukaufen, die sie wie im Triumph heimbrachten. Endlich waren sie in ihrem Heim. Sie[[1]] bewohnten oben nur ein Zimmer und überließen das andere den Mäusen; unten wandelten sie das Eßzimmer in ein geräumiges Atelier um, glücklich und kindlich vergnügt darüber, daß sie in der Küche essen konnten auf einem weichholzenen Tische neben dem Herde, wo der Fleischtopf summte. Zu ihrer Bedienung hatten sie ein Mädchen aus dem Dorfe genommen, das am Morgen kam und am Abends wegging; es war {{Melie}}, eine Nichte des Ehepaares {{Faucheur}}, eine Dirne, deren Dummheit sie belustigte. Wahrhaftig, man hätte im ganzen Kreise keine dümmere finden können! Als die Sonne wieder zum Vorschein gekommen, folgten köstliche Tage. Monate verflossen in eintöniger Glückseligkeit. Sie[[1]] wußten niemals das Datum und verwechselten alle Tage der Woche. Des Morgens blieben sie lange im Bett trotz der Sonnenstrahlen, welche durch die Ritzen der Fensterläden drangen und die weißgetünchten Wände der Stube in einen roten Schein tauchten. Nach dem Frühstück folgten endlose Bummel, weite Spaziergänge in der mit Obstbäumen bepflanzten Gegend, auf den grasbestandenen Wegen, Wanderungen längs der {{Seine}} zwischen Wiesen bis nach {{Roche-Guyon}} und noch weiter; wirkliche Reisen auf der andern Seite des Flusses durch die Getreidefelder von {{Bonnières}} und {{Jeufosse}}. Ein Bürger, der die Gegend verlassen mußte, verkaufte ihnen für 30 Franken einen alten Kahn; so hatten sie auch den Fluß; sie faßten für ihn eine wilde Leidenschaft, verbrachten ganze Tage auf dem Wasser, ruderten umher, entdeckten neue Länder, hielten sich unter den Weiden am Ufer oder in den kleinen, schattigen Seitenarmen des Flusses verborgen. Zwischen den Inseln, mit denen der Fluß übersät war, lag eine bewegliche und geheimnisvolle Stadt. Ein Netz von Gäßchen, durch welche sie sanft dahinglitten, von den tiefhängenden Zweigen geliebkost, allein in der Welt mit den Holztauben und Eisvögeln. Er mußte manchmal mit nackten Füßen auf den Sand springen, um den Kahn fortzuschieben. Sie[[1]] handhabte kräftig die Ruder und wollte, stolz auf ihre Kraft, gegen die schwierigsten Wasserläufe steuern. Am Abend aßen sie ihre Kohlsuppe in der Küche und lachten über dieselben Dummheiten der Magd {{Melle}}, über die sie gestern gelacht hatten. Dann legten sie sich um 9 Uhr ins Bett, in das große, alte Bett von Nußholz, das groß genug war, um eine ganze Familie aufzunehmen, wo sie ihre zwölf Stunden schliefen, bei Tagesanbruch sich die Kopfkissen zuwarfen, dann einander umschlungen hielten und wieder einschliefen. Jede Nacht sagte Christine: »Jetzt, mein Liebster, versprich mir, daß du morgen arbeiten wirst«. »Ja, morgen; ich schwöre es dir«. »Diesmal werde ich böse ... Hindere ich dich vielleicht?« »Du? Welcher Gedanke? ... Ich bin doch hierher gekommen, um zu arbeiten! Morgen sollst du sehen.« &&x Am nächsten Morgen fuhren sie wieder mit ihrem Boote ab; sie selbst schaute ihn mit einem verlegenen Lächeln an, wenn sie sah, daß er weder Leinwand noch Farben mitnahm; dann küßte sie ihn lachend, stolz auf ihre Macht, gerührt von diesem fortwährenden Opfer, das er ihr brachte. Wieder gab es zärtliche Vorwürfe: morgen, ja, morgen werde sie ihn vor seiner Leinwand festbinden. Claude machte indessen einige Versuche zu arbeiten. Er begann eine Studie über die Hügel von {{Jeufosse}} mit der {{Seine}} im Vordergrunde. Allein Christine folgte ihm nach der Insel, wo er seinen Dreifuß aufgestellt hatte, streckte sich neben ihm im Grase aus und lag da mit halb geöffneten Lippen, die Augen nach dem blauen Himmel gerichtet. Sie[[1]] war so begehrenswert inmitten all des Grünen in dieser Wüste, deren Stille nur das Geplätscher des Wassers unterbrach, daß er jede Minute die Palette hinlegte, um sich neben ihr auf der sie selig einwiegenden Erde zu lagern. Ein andermal verlockte ihn ein altes Gehöft, umgeben von uralten Apfelbäumen, die groß wie Eichen geworden waren. Zwei Tage nacheinander kam er dahin; am dritten Tage führte sie auf den Markt nach {{Bonnières}}, um Hühner zu kaufen; der nächste Tag war wieder verloren, die Leinwand war trocken geworden, er hatte keine Geduld, die Studie von neuem zu beginnen, und gab sie auf. Während der ganzen warmen Jahreszeit gab es bei ihm nur solche Anläufe, kaum skizzierte Gemälde, die er bei dem mindesten Vorwand im Stiche ließ; er hatte keine Spur von Ausdauer. Seine Leidenschaft für die Arbeit, das einstige Fieber, das ihm schon bei Tagesanbruch auf die Beine brachte und ihn den Kampf mit seiner widerspenstigen Malerei aufnehmen ließ: sie waren in einem Rückschlag von Gleichmut und Trägheit geschwunden. Köstlich wie nach einer schweren Krankheit lebte er dahin und genoß die einzige Freude, in voller Kraft sein Leben zu genießen. Heute existierte Christine allein für ihn; sie hüllte ihn in jenen Flammenhauch, in dem sein Künstlerwille erstarb. Seit dem glühenden, unbesonnenen Kusse, den sie zuerst ihm auf die Lippen gedrückt, war aus dem jungen Mädchen ein Weib geworden, die Liebende, die mit der Jungfrau kämpfte, ihre Lippen blähte und sie in der Breite des Kinns vorstreckte. Sie[[1]] enthüllte sich als das, was sie trotz ihrer langen Ehrbarkeit sein mußte: als ein von Leidenschaft durchglühter Körper, als einer jener sinnlichen Körper, die so verwirrend sind, wenn sie die Züchtigkeit abstreifen, in der sie bisher geschlummert. Mit einem Schlage und ohne einen Meister kannte sie die Liebe; sie brachte das ganze Ungestüm ihrer Unschuld in dieselbe mit; und da sie bisher noch unwissend und er noch wenig erfahren war, machten sie zusammen die Entdeckungen der Wollust und begeisterten sich in dem Entzücken dieses gemeinsamen Beginnens. Er machte sich Vorwürfe wegen seiner früheren Mißachtung des Weibes; man müsse ein rechter Tropf sein, um in kindischer Weise Seligkeiten zu verachten, die man nicht durchlebt hatte. Seine ganze Zärtlichkeit für das Fleisch des Weibes, jene Zärtlichkeit, deren Verlangen er früher in seinen Werken erschöpfte, brannte fortan nur für diesen lebendigen, geschmeidigen, warmen Leib, der ihm angehörte. Er hatte geglaubt, die Lichter zu lieben, die auf seidenweichen Brüsten spielen, die schönen, blassen Ambra-Töne, welche die Rundung der Hüften, die weiche Linie der rein geformten Bäuche vergoldeten. Welcher Wahn eines Träumers! Jetzt erst hielt er mit vollen Armen den Triumph fest, seinen Traum erfüllt zu sehen, der ihm bisher unter seinen Händen eines unvermögenden Malers stets entschlüpft war. Sie[[1]] gab sich ihm ganz, und er nahm sie von ihren Nacken bis zu ihren Füßen; er umschloß sie, um sie zur Seinen zu machen, um sie mit seinem Leibe völlig zu vereinen, und sie verlängerte, nachdem sie die Malerei getötet hatte und ohne Nebenbuhlerin war, die Hochzeitsfeier. Ihre runden Arme, ihre samtweichen Beine waren es, die ihm am Morgen so spät im Bett zurückhielten, in der Ermüdung nach ihrem Liebesglück wie mit Ketten fesselten; wenn sie ruderten im Kahn, ließ er sich kraftlos fortbringen, berauscht durch den bloßen Anblick des Wiegens ihrer Lenden; auf den Inseln im Grase gelagert, wenn Aug' in Auge sich versenkt hatte, blieb er ganze Tage lang in Verzückung, völlig in ihr aufgegangen, geleert in Herz und Blut. Immer und überall besaßen sie sich in dem ungestillten Verlangen, sich von neuem zu besitzen. Eine der Überraschungen Claudes war, sie wegen des mindesten unzarten Wortes, das ihm entschlüpfte, erröten zu sehen. Hatte sie einmal die Röcke wieder befestigt, dann lächelte sie verlegen mit abgewandtem Kopfe zu jeder kühnen Anspielung. Sie[[1]] liebte es nicht, und eines Tages kam es bei solchem Anlasse fast zu einem Zerwürfnis zwischen ihnen. Zuweilen gingen sie in das Eichenwäldchen hinter ihrem Hause, des ersten Kusses sich erinnernd, den sie daselbst bei ihrem ersten Besuche in {{Benne¬court}} ausgetauscht hatten. Von einer Neugierde geplagt, befragte er sie über ihr Leben im Kloster. Er hielt ihren Leib umfangen, kitzelte sie mit seinem Hauche hinter den Ohren und suchte sie zur Beichte zu bewegen. Was wußte sie dort vom Manne? was sprach sie darüber mit ihren Freundinnen? welche Vorstellung machte sie sich von der Sache? »Laß hören, Schätzchen, erzähl' mir ein wenig ... Hattest du eine Ahnung?« Doch sie lachte gezwungen und suchte sich loszumachen. »Sei nicht dumm! ... Laß mich los! ... Was soll dir das?« »Es macht mir Spaß... Also du wußtest?« Sie[[1]] errötete tief und machte eine Gebärde der Verwirrung. »Mein Gott, soviel wie die anderen; gewisse Dinge... Man ist immerhin erstaunt«, schloß sie, das Gesicht an seiner Schulter verbergend. Er brach in ein Gelächter aus, drückte sie wie toll an sich und bedeckte sie mit einer Flut von Küssen. Doch als er sie gewonnen zu haben glaubte und ihre Geständnisse erlangen wollte wie von einem Kameraden, der nichts zu verbergen hat, entschlüpfte sie ihm mit einigen ausweichenden Worten und hüllte sich schließlich in ein stummes, undurchdringliches Schmollen. Niemals gestand sie mehr, selbst ihm nicht, den sie anbetete. Es war dies jener Grund, den selbst die Freimütigsten für sich behalten, jenes Erwachen ihres Geschlechtes, dessen Erinnerung begraben, gleichsam heilig ist. Sie[[1]] war sehr Weib; aber indem sie sich ganz hingab, behielt sie doch den innersten Schatz ihres Wesens für sich. Zum erstenmale fühlte Claude an jenem Tage, daß sie einander fremd geblieben waren. Eine eisige Empfindung, die Kälte eines andern Körpers, hatte ihn ergriffen. Konnte denn nichts von dem einen in den andern übergehen, wenn sie in maßloser Leidenschaft sich umschlungen hielten, immer fester und inniger, selbst über den Besitz hinaus? &&x Die Tage vergingen indessen, und sie litten keineswegs durch die Einsamkeit. Kein Bedürfnis nach einer Zerstreuung oder nach einem abzustattenden oder zu empfangenden Besuch hatte sie noch aus sich selbst herauszutreten genötigt. Die Stunden, die sie nicht neben ihm, an seinem Halse verbrachte, nutzte sie als geräuschvolle Hauswirtin, stürzte das ganze Haus um durch große Säuberungen, die {{Melie}} unter ihrer Aufsicht vornehmen mußte; sie hatte zuweilen einen Heißhunger nach Tätigkeit, der sie dazu trieb, sich selbst mit den drei Schüsseln der Küche abzumühen. Hauptsächlich aber beschäftigte sie der Garten; mit einer Gartenschere bewaffnet, die Hände von den Dornen zerrissen, heimste sie ganze Ernten von den Rosenstöcken ein; sie hatte sich eine Verrenkung zugezogen, weil sie sich darauf versteift hatte, Aprikosen pflücken zu helfen, deren Ernte sie an englische Obsthändler für zweihundert Franken verkauft hatte; sie war ganz stolz darauf und träumte von den Erträgnissen des Gartens leben zu können. Claude hatte weniger Sinn für Garten- und Feldwirtschaft. Er hatte sein Sofa in den zum Atelier eingerichteten großen Saal bringen lassen und streckte sich auf ihm aus, um durch das weit geöffnete Fenster ihr zuzuschauen, wie sie pflanzte und säte. Es war ein tiefer Friede, die Gewißheit, daß niemand kommen, kein Anläuten ihn tagsüber stören werde. Diese Scheu vor der Außenwelt trieb er so weit, daß er es vermied, vor der Herberge der {{Faucheur}} vorbeizugehen in der fortwährenden Furcht, auf eine Schar seiner Pariser Kameraden zu stoßen. Den ganzen Sommer zeigte sich keine Seele. Jeden Abend, wenn sie schlafen gingen, wiederholte er, welch ein großes Glück das sei. Am Grunde dieser Freude blutete eine einzige geheime Wunde. Nach ihrer Flucht aus Paris hatte Sandoz ihre Adresse erfahren und brieflich angefragt, ob er zu Besuch kommen dürfe. Diesen Brief hatte Claude unbeantwortet gelassen; daraus war ein Bruch entstanden, und die alte Freundschaft schien tot. Christine war trostlos darüber, denn sie fühlte wohl, daß er ihretwegen mit Sandoz gebrochen habe. Sie[[1]] sprach unablässig davon; sie wollte nicht, daß er mit seinen Freunden sich entzweie, und forderte, daß er sie zurückrufe. Er versprach wohl, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen, aber tat nichts dergleichen. Es war aus; wozu auf die Vergangenheit zurückkommen? Gegen Ende des Monats Juli war der Geldvorrat zusammengeschmolzen; Claude mußte nach Paris gehen, um dem Vater {{Mal¬gras}} ein halbes Dutzend alter Studien zu verkaufen. Während sie ihm zum Bahnhof das Geleit gab, ließ sie ihn schwören, daß er Sandoz aufsuchen werde. Am Abend erwartete sie ihn wieder bei der Station {{Bonnières}}. »Hast[[Besitz]] du ihn gesehen? habt ihr euch umarmt?« In stummer Verlegenheit ging er neben ihr einher. Endlich antwortete er dumpf: »Nein, ich habe keine Zeit gehabt«. Da sagte sie bekümmert mit schweren Tränen in den Augen: »Du kränkst mich sehr«. Da sie eben unter den Bäumen gingen, küßte er sie auf die Wange und bat sie weinend, seinen Kummer nicht zu mehren. Konnte er das Leben ändern? War es nicht schon genug, daß sie zusammen glücklich waren? Während dieser ersten Monate hatten sie eine einzige Begegnung. Es war oberhalb von {{Benne¬court}} auf einem Spaziergange nach {{Roche-Guyon}}. Sie[[1]] gingen in einem einsamen, mit Bäumen besetzten, überaus lieblichen Hohlwege, als sie bei einer Krümmung des Weges auf eine lustwandelnde Familie stießen, bestehend aus Vater, Mutter und Tochter. Ganz allein sich wähnend, hatten sie sich eben um den Leib genommen als Liebende, die hinter den Hecken sich vergessen; sie hatte sich zu ihm geneigt und ihm die Lippen geboten, und er hatte sie geküßt. Die Überraschung war so lebhaft, daß sie vergaßen, ihre Umarmung zu lösen und langsam ihren Weg fortzusetzen. Die Familie blieb betroffen an der Böschung stehen, der Vater dick und schlagflüssig, die Mutter mager wie ein Messer, die Tochter unansehnlich bis zur Nichtigkeit, kahl wie ein kranker Vogel, alle drei häßlich, mit dem verdorbenen Blute ihrer Rasse. Sie[[1]] waren eine Schmach mitten in dem saftstrotzenden Leben der Erde, im hellen Sonnenschein. Das trübselige Kind, das mit verblüfften Augen die Liebe vorüberziehen sah, ward von Vater und Mutter rasch hinweggeführt; sie waren erbittert, außer sich wegen dieses freiem Kusses und fragten, ob es denn auf dem Lande keine Polizei mehr gebe; während die beiden Liebenden in ihrem strahlenden, siegreichen Glücke langsam ihre Wanderung fortsetzten. Claude befragte indessen sein widerspenstiges Gedächtnis. Wo zum Teufel hatte er diese Köpfe gesehen, diesen spießbürgerlichen Verfall, diese gedrückten Gesichter von Emporkömmlingen, denen man die den armen Leuten abgepreßten Millionen ansah? Sicherlich unter ernsten Umständen seines Lebens. Er erinnerte sich jetzt; er erkannte die {{Margaillans}}, den Unternehmer, den Dubuche im Salon der Zurückgewiesenen herumgeführt hatte, und der vor seinem Gemälde in ein donnerndes, blödes Lachen ausgebrochen war. Als er zweihundert Schritte weiter mit Christine aus dem Hohlwege heraustrat und sie sich einer weitläufigen Besitzung, einem großen, weißen, von schönen Bäumen umgebenen Hause gegenüber sahen, erfuhren sie von einer alten Bäuerin, daß die »{{Richaudière}}«, wie die Besitzung hieß, seit drei Jahren der Familie {{Margaillan}} gehöre. Der Unternehmer hatte anderthalb Millionen Franken dafür gezahlt und Verschönerungen für über eine Million daran vornehmen lassen. »In diesem Winkel sieht man uns nicht wieder«, sagte Claude, während sie nach {{Benne¬court}} zurückgingen. Diese Ungeheuer verderben die Gegend. Um die Mitte des Monats August trat ein wichtiges Ereignis in ihrem Leben ein. Christine war in gesegneten Umständen, und sie hatte mit der Sorglosigkeit einer Liebenden dies erst im dritten Monat wahrgenommen. Anfänglich waren beide höchlich betroffen; sie hatten nicht gedacht, daß es sich jemals ereignen könne. Dann fanden sie sich damit ab, doch ohne Freude; er war verlegen wegen dieses kleinen Wesens, das eine Verwicklung in ihr Leben bringen sollte; sie aber war von einer Angst ergriffen, die sie sich nicht zu erklären wußte, als hätte sie gefürchtet, daß dieses Ereignis das Ende ihrer großen Liebe werden könne. Sie[[1]] weinte lange an seinem Halse und er – von der gleichen namenlosen Traurigkeit ergriffen – suchte vergeblich sie zu trösten. Als sie später sich daran gewöhnt hatten, rührte sie der Gedanke an das arme Kleine, das sie – ohne es zu wollen – an dem tragischen Tage gemacht hatten, an dem sie unter Tränen in dem in trübes Dämmerlicht getauchten Atelier sich ihm hingegeben hatte. Die Daten stimmten: es wird das Kind des Leidens und Erbarmens sein, bei seiner Empfängnis von dem blöden Gelächter der Menge beschimpft. Da sie nicht schlecht waren, erwarteten sie es fortan, sehnte es sogar herbei, beschäftigten sich schon mit ihm und bereiteten für sein Kommen alles vor. &&x Der Winter brachte furchtbare Fröste; Christine ward durch eine böse Erkältung in dem schlecht verschlossenen Hause, das man nicht durchzuheizen vermochte, zurückgehalten. Ihre Schwangerschaft verursachte ihr häufige Übelkeiten; sie blieb vor dem Feuer hocken und mußte ordentlich böse werden, um Claude zu nötigen, daß er ohne sie ausgehe und lange Spaziergänge auf den hartgefrorenen und hallenden Straßen mache. Wenn er auf diesen Spaziergängen nach monatelang währendem Zusammenleben sich allein sah, war er erstaunt, welche Wendung sein Leben ohne seinen Willen genommen hatte. Niemals hatte er ein solches Zusammenleben gewollt, selbst mit ihr nicht; es würde ihn angewidert haben, wenn man es ihm geraten hätte; es war dennoch geschehen und nicht ungeschehen zu machen; denn – abgesehen von dem Kinde – gehörte er zu jenen, die nicht den Mut haben, ein Verhältnis abzubrechen. Offenbar war ihm dieses Los beschieden; er mußte sich an die erste halten, die sich seiner nicht schämen würde. Die hart gefrorene Erde hallte unter seinen Tritten; der eisige Wind erstarrte seine Träumerei, die bei unklaren Gedanken verweilte: daß er Glück hatte, indem ihm doch wenigstens ein ehrbares Mädchen in den Weg gekommen, und wie grausam er gelitten haben würde, wenn er sich mit einem Modell, das schon in allen Ateliers herumgelegen, zusammengetan hätte. Er ward abermals von Zärtlichkeit ergriffen und beeilte sich heimzukehren, um Christine in seine zitternden Arme zu schließen, als ob er in Gefahr gewesen wäre, sie zu verlieren; er kam erst aus der Fassung, als sie sich mit einem Schmerzensschrei von ihm losmachte. »Ach, nicht so stark, du tust mir weh!« Sie[[1]] griff mit beiden Händen an ihren Bauch und er betrachtete diesen Bauch noch immer mit derselben angstvollen Überraschung. Um die Mitte des Monats Februar fand die Entbindung statt. Aus {{Vernon}} war eine Hebamme gekommen, und alles ging gut. Die Mutter war nach drei Wochen wieder auf den Beinen; das Kind, ein kräftig entwickelter Knabe, sog so gierig, daß sie fünfmal in der Nacht es stillen mußte, damit es nicht mit seinem Geschrei den Vater im Schlafe störe. Fortan brachte das kleine Wesen einen ordentlichen Umsturz im Hause hervor; denn sie, eine so tätige Hausfrau, erwies sich als eine sehr ungeschickte Amme. Die Mütterlichkeit wollte sich in ihr nicht entwickeln trotz ihres guten Herzens und ihrer Verzweiflung über den geringsten Schmerz des Kleinen; sie ward bald müde und verdrießlich, rief {{Melie}}, die mit ihrer Stockdummheit vollends alles verdarb; der Vater mußte zur Hilfe herbei eilen, und er war natürlich noch ungeschickter als die zwei Frauen. Ihr ehemaliges Unbehagen, wenn sie nähen sollte, ihre geringe Eignung zu den Arbeiten ihres Geschlechtes zeigte sich wieder in der Pflege, welche das Kind erforderte. Es wurde schlecht genug gewartet, erzog sich ein kleinwenig auf Geratewohl im Garten und in den trostlos unordentlichen Stuben, die voll waren mit Windeln, zerbrochenem Spielzeug, Unrat und den Spuren der Zerstörungswut eines Kerlchens, das seine Zähne durchbringt. Wenn es gar zu arg wurde, wußte Christine nichts anderes, als sich ihrem Liebsten in die Arme zu werfen; an der Brust des geliebten Mannes fand sie ihre Zuflucht; sie war die einzige Quelle des Vergessens und des Glücks. Christine war nichts als Geliebte; sie würde den Sohn zwanzigmal für den Gatten hingegeben haben. Nach der Geburt des Kindes hatte ein neues Aufflammen ihrer Liebe sie ergriffen; mit dem frei gewordenen Leibe und der wieder erblühenden Schönheit kehrte auch das saftstrotzende Ungestüm der Liebenden wieder. Niemals hatte ihr von der Leidenschaft erfülltes Fleisch sich mit einem solchen Zittern des Verlangens dargeboten. Dies war übrigens die Zeit, wo Claude wieder ein wenig zu malen begann. Der Winter ging zu Ende; er wußte nicht, wie er die sonnigen Morgenstunden benützen sollte, seitdem Christine vor Mittag Hansens wegen nicht ausgehen konnte. Sie[[1]] hatte den Kleinen, ohne ihn zur Taufe zu schicken, nach seinem Großvater von mütterlicher Seite so benannt. Um sich die Zeit zu vertreiben, arbeitete der Maler im Garten, machte eine Skizze von der Doppelreihe von Aprikosenbäumen und den riesigen Rosenstöcken und stellte Fruchtstücke zusammen: vier Äpfel, eine Flasche und einen Napf von Steingut auf einer Serviette. Es geschah, um sich zu zerstreuen, dann ward er wärmer; ihn beschlich der Gedanke, eine bekleidete Gestalt im Sonnenlichte zu malen. Von diesem Augenblicke an war seine Frau sein Opfer; sie tat es übrigens gern, war glücklich, ihm ein Vergnügen zu bereiten, ohne noch zu begreifen, welche furchtbare Nebenbuhlerin sie sich schuf. Er malte sie zwanzigmal, weiß gekleidet, rot gekleidet, inmitten des Grünen, stehend oder gehend, halb im Grase hingestreckt, mit einem Gartenhute auf dem Haupte, barhäuptig unter einem Sonnenschirm, dessen kirschfarbene Seide ihr Gesicht in ein rosiges Licht tauchte. Niemals fand er eine vollständige Befriedigung; nach zwei, drei Sitzungen kratzte er das Gemälde wieder weg und begann sogleich von neuem, eigensinnig an demselben Vorwurfe festhaltend. Einige Studien, unvollständig, aber von reizendem Ton und kraftvoller Mache, wurden vor dem Messer gerettet und an den Mauern des Speisezimmers aufgehängt. Nach Christine mußte Hans Modell sitzen. Man entkleidete ihn und legte ihn an sonnenwarmen Tagen ganz nackt auf eine Bettdecke hin; da sollte er sich nicht rühren. Doch er war des Teufels; von der Sonne erheitert und gekitzelt, lachte und zappelte er, streckte die rosigen Beinchen in die Luft, wälzte sich, schlug Purzelbäume, daß der Hintere höher stand als der Kopf. Der Vater lachte zuerst, dann wurde er böse und fluchte über den vertrackten Kerl, der sich nicht eine Minute ruhig verhalten konnte. Durfte man mit der Malerei Spaß treiben? Dann war wieder die Mutter gekränkt und hielt den Kleinen, damit der Maler im Fluge die Zeichnung eines Armes oder eines Beines erhasche. Wochenlang blieb er auf diese Arbeit versessen, dermaßen war er durch die so hübschen Töne dieses Kinderfleisches in Anspruch genommen. Er studierte es nur mehr mit seinen Künstleraugen wie ein Motiv zu einem Meisterwerke, mit den Augen zwinkernd, von dem Gemälde träumend. Er begann die Studien von neuem; er beobachtete das Kind ganze Tage lang, erbittert über den Schlingel, der nicht einmal schlafen wollte in den Stunden, da man ihn hätte malen können. Als eines Tages Hans sich wieder einmal weigerte, die Pose zu halten, und zu flennen begann, sagte Christine sanft: »Liebling, du ermüdest das arme Kind.« Da ereiferte sich Claude und rief, von Gewissensbissen geplagt: »Das ist wahr! ich bin blöd mit meiner Malerei ... Die Kinder sind nicht dazu geeignet!« &&x Das Frühjahr und der Sommer flössen dahin und waren sehr lieblich. Sie[[1]] gingen jetzt weniger aus; man hatte das Boot fast völlig vergessen, und es faulte an seiner Ankerkette; es war eben sehr schwierig, das Kind nach den Inseln mitzunehmen. Aber sie machten häufig Spaziergänge am Flußufer, ohne sich jemals über einen Kilometer weit zu entfernen. Ermüdet von den ewigen Garten-Motiven, machte Claude jetzt Studien am Flußufer; an solchen Tagen suchte sie ihn mit dem Kinde auf, setzte sich ins Gras, um ihm beim Malen zuzuschauen, und wartete da, bis man zu Dreien im fahlen Dämmerschein den Heimweg antrat. Eines Nachmittags war er überrascht zu sehen, daß sie ihr altes Album aus ihrer Kinderzeit mitgebracht hatte. Sie[[1]] scherzte darüber und erklärte, er erinnere sie an allerlei Sachen, wenn sie hinter ihm dasitze. Ihre Stimme zitterte dabei ein wenig. Die Wahrheit war, daß sie das Bedürfnis fühlte, bei seiner Arbeit mitzutun, seitdem diese Arbeit ihn ihr mit jedem Tage ein wenig mehr entführte. Sie[[1]] zeichnete oder wagte zwei oder drei Aquarelle mit der sorgfältigen Hand einer Schülerin. Als sein Lächeln sie entmutigte und sie einsah, daß auf diesem Gebiete die Gemeinsamkeit nicht zu finden sei, legte sie ihr Album wieder weg und nahm Claude das Versprechen ab, daß er später, wenn er Zeit habe, ihr Malunterricht gebe. Sie[[1]] fand übrigens seine letzten Bilder sehr hübsch. Nach diesem Jahre der Ruhe auf dem Lande im Freien malte er mit einer neuen, gleichsam helleren Auffassung und mit einer klangvollen Heiterkeit der Töne. Niemals hatte er diese Kenntnisse der Reflexe gehabt, dieses richtige Empfinden für die Wesen und die Dinge, die in dem reichen Lichte badeten. Sie[[1]] würde, von diesem Farbenreichtum gewonnen, diese Malerei fortan für unbedingt gut erklärt haben, wenn er seine Bilder besser hätte ausarbeiten wollen und wenn nicht zuweilen ein fliederfarbener Erdstreif oder ein blauer Baum sie in maßlose Verblüffung versetzt, alle ihre Begriffe von der Farbengebung in Verwirrung gebracht hätte. Als sie eines Tages wegen einer azurblauen Pappel eine kritische Bemerkung wagte, ließ er sie in der Natur selbst dieses zarte Blau der Blätter konstatieren; es war richtig und wahr: der Baum war blau; aber im Grunde ergab sie sich nicht, verurteilte sie die Wirklichkeit; es konnte in der Natur keine blauen Bäume geben. Sie[[1]] sprach fortan nur in ernstem Tone von den Studien, die er an den Mauern des Ateliers aufhängte. Die Kunst war wieder ein Element ihres Lebens geworden, und diese Tatsache beschäftigte dauernd ihre Gedanken. Wenn sie ihn mit Malkasten, Dreifuß und Sonnenschirm aufbrechen sah, drängte es sie, sich an seinen Hals zu hängen. »Liebst du mich, sprich?« »Närrchen! Warum sollte ich dich nicht lieben?« »Dann küsse mich, wie du liebst, sehr stark, sehr stark!« Wenn sie auf der Straße schieden, empfahl sie ihm noch: »Arbeite! Du weißt, ich habe dich niemals an der Arbeit gehindert ... Geh, geh; ich bin glücklich, wenn du arbeitest.« Als der Herbst dieses zweiten Jahres das Laub gelb färbte und die ersten Fröste brachte, schien eine Unruhe Claudes sich bemächtigt zu haben. Die Jahreszeit war abscheulich; es regnete zwei Wochen hindurch in Strömen, was ihn nötigte, müßig zu Hause zu bleiben; dann kamen jeden Augenblick Nebel, die ihn in seinen Studien störten. Er saß verdüstert vor dem Feuer und sprach niemals von Paris; aber die Stadt tauchte an seinem Horizonte auf, die winterliche Stadt mit ihrem Gaslicht, das um fünf Uhr aufflammte, mit den Zusammenkünften der Freunde, die mit ihrem Wetteifer einander aufmunterten, mit ihrem Leben voll rastlosen Schaffens, das selbst die Dezemberfröste nicht verlangsamten. Im Laufe eines Monats begab er sich dreimal dahin unter dem Vorwande, den Vater {{Mal¬gras}} aufzusuchen, dem er wieder einige Bilder verkauft hatte. Jetzt vermied er es nicht mehr, bei der Herberge der Eheleute vorüberzugehen; er ließ sich sogar vom Vater {{Poirette}} in ein Gespräch ziehen und nahm ein Glas weißen Wein an. Seine Blicke durchforschten den Saal, als habe er – trotz der späten Jahreszeit – Kameraden von ehemals aufgesucht, die am Morgen gekommen seien. Er verweilte da in Erwartung; dann kehrte er wieder heim, trostlos wegen der Einsamkeit, schier erstickend an allem, was in ihm gärte; krank, weil er niemanden hatte, dem er alles zurufen konnte, was ihm den Schädel zu sprengen drohte. Der Winter ging indes vorüber, und Claude hatte den Trost, einige schöne Schnee-Effekte zu malen. Ein drittes Jahr begann, als – gegen Ende des Monats Mai – eine unerwartete Begegnung den Maler in Erregung brachte. Er hatte eines Morgens die Höhe erstiegen, um ein Motiv zu suchen, weil er der {{Seine}}-Ufer schließlich überdrüssig geworden war; und er blieb betroffen stehen, als er bei einer Wegkrümmung Dubuche erblickte, der zwischen zwei Hollunderhecken daherkam mit einem schwarzen Hute auf dem Kopfe und sehr vornehm in seinem Überrock. »Wie, du bist's?« Der Architekt stammelte verdrossen: »Ja, ich will einen Besuch machen ... Ist's dumm auf dem Lande, wie? Aber was willst du? Gewisse Bekanntschaften müssen gepflegt werden ... Du wohnst also in dieser Gegend? Ich wußte es ... Das heißt nein, man hatte mir etwas Ähnliches erzählt; aber ich glaubte, es sei weiter am jenseitigen Ufer.« Claude, der in starke Aufregung geraten war, half ihm aus der Verlegenheit. »Es ist gut, du brauchst dich nicht entschuldigen; der am meisten Schuldige bin ich ... Wie lange haben wir uns nicht gesehen! Ich kann dir nicht sagen, wie es mich im Herzen gepackt hat, als ich deine Nase aus dem Laub hervortauchen sah.« &&x Er nahm ihn beim Arm und begleitete ihn mit vergnügten Kichern. Der andere begann in der ewigen Sorge um seine Laufbahn, die ihn nötigte, immer von sich selbst zu reden, sogleich von seiner Zukunft zu sprechen. Er war in der Schule Hörer erster Klasse geworden, nachdem er mit unsäglicher Mühe die vorgeschriebenen Prüfungen abgelegt. Allein dieser Erfolg hatte ihn in arge Verlegenheiten gebracht. Seine Verwandten jammerten über ihr Elend und sandten ihm keinen {{Sou}} mehr, wollten im Gegenteil von ihm unterstützt werden. Er hatte auf den Preis von Rome verzichtet, weil er sicher war, in dem Wettbewerb geschlagen zu werden, und weil er auf seinen Lebensunterhalt bedacht sein mußte. Er war schon müde; es widerte ihn an, Stellen zu suchen, einen Franken und 25 Centimes die Stunde bei unwissenden Architekten zu verdienen, die ihn wie einen Handlanger behandelten. Welchen Weg sollte er einschlagen? wie sollte er am kürzesten an sein Ziel gelangen? Er wollte die Schule verlassen und eine Stütze an seinem Lehrer finden, an dem mächtigen {{Dequersonnière}}, der ihm wegen seiner Gefügigkeit eines fleißigen Schülers wohlwollte. Allein wieviel Mühsal, wieviel unbekannte Hindernisse waren noch zu überwinden! Er beklagte sich bitter über die Schulen der Regierung, wo man soviele Jahre sich abplagen muß und die allen, die aus ihnen hervorgegangen, nicht einmal eine Stelle sichern. Plötzlich blieb er mitten auf dem Wege stehen. Die Hollunderhecken endeten in einer flachen Ebene, und man erblickte die {{Richaudière}} zwischen ihren großen Bäumen. »Richtig!« rief Claude; »ich wußte nicht, was dich hierher führt ... Du gehst in jene Baracke. Sind das abscheuliche Pagoden!« Dubuche war ärgerlich über diese Worte des Künstlers und verteidigte sich mit süßsaurer Miene. »Was nicht hindert, daß der Vater {{Margaillan}}, so blöd er dir scheint, in seinem Geschäft ein ganzer Mann ist. Man muß ihn auf seinen Werkplätzen sehen inmitten seiner Bauten: da entfaltet er eine höllische Tätigkeit, einen erstaunlichen Sinn für gute Verwaltung, eine wunderbare Witterung für die Anlage von Straßen und für den Ankauf von Materialien. Man erwirbt keine Millionen, wenn man nicht ein tüchtiger Kerl ist. Was will ich übrigens von ihm? Ich wäre doch recht dumm, einen Mann, der mir nützen kann, nicht höflich zu behandeln.« Während er so sprach, versperrte er den schmalen Weg und verhinderte seinen Freund weiter zu gehen, ohne Zweifel aus Furcht kompromittiert zu werden, wenn man sie zusammen sehen würde, und um ihm zu verstehen zugeben, daß sie sich hier trennen müßten. Claude war im Begriff, ihn über die Pariser Kameraden zu befragen, aber er schwieg. Kein Wort ward über Christine gesprochen. Er schickte sich an, ihn zu verlassen, und reichte ihm schon die Hand, als wider seinen Willen seinen zitternden Lippen die Frage entschlüpfte: »Wie geht es Sandoz?« »Nicht übel. Ich sehe ihn nur selten ... Er hat mir im vorigen Monat wieder von dir gesprochen; er ist noch immer trostlos darüber, daß du uns so vor die Tür gesetzt hast.« »Aber ich habe euch gar nicht vor die Tür gesetzt!« rief Claude außer sich; »ich bitte euch, besucht mich! Ich wäre so glücklich!« »Gut, wir werden kommen. Ich werde ihm sagen, daß wir kommen, auf Ehre! ... Lebewohl! ich eile.« Dubuche ging nach der {{Richaudière}}, während Claude ihm nachblickte, wie seine Gestalt zwischen den Feldern immer kleiner wurde mit der schimmernden Seide seines Hutes und dem schwarzen Fleck seines Überrockes. Langsam kehrte er heim, das Herz von einer Traurigkeit beklommen, die er nicht begründen konnte. Er sagte seiner Frau nichts von dieser Begegnung. Acht Tage später war Christine zu {{Faucheur}} gegangen, um ein Pfund Nudeln zu kaufen, und verweilte auf dem Wege im Gespräche mit einer Nachbarin, während sie den kleinen Hans auf dem Arme hatte, als ein Herr, der von der Fähre kam, sich ihr mit der Frage näherte: »Geht man hier zu Herrn Claude {{Lantier}}?« Sie[[1]] war ganz betroffen und antwortete bloß: »Ja, mein Herr. Wenn sie mir folgen wollen. Sie[[1]] gingen etwa hundert Meter nebeneinander her. Der Fremde, der sie zu kennen schien, hatte sie mit einem gutmütigen Lächeln betrachtet; doch weil sie – ihre Verlegenheit unter einer ernsten Miene verbergend – ihre Schritte beschleunigte, schwieg er. Sie[[1]] öffnete die Tür und führte ihn in die Stube. »Claude, du hast Besuch!« sagte sie. Ein lauter Ausruf, und die beiden Männer lagen einander in den Armen. »Ach, mein alter Peter! wie schön ist's, daß du gekommen bist! ... Und Dubuche?« »Im letzten Augenblick hat ein Geschäft ihn zurückgehalten, und er hat mir eine Depesche gesandt, ich möge ohne ihn abreisen.« »Gut, ich war einigermaßen darauf gefaßt ... Aber du bist da, mein Junge, und ich freue mich, daß ich beinahe aus der Haut fahre!« Zu Christine gewandt, die lächelnd diese Szene mit ansah, setzte er hinzu: »Es ist wahr, ich habe es dir nicht erzählt. Ich habe neulich Dubuche getroffen, der nach der Besitzung der Ungeheuer da oben ging ...« Aber er unterbrach sich von neuem, um wie närrisch auszurufen: »Ich verliere entschieden den Kopf! Ihr habt euch noch nie gesprochen, und ich lasse euch so da stehen ... Mein Kind: das ist mein alter Kamerad Pierre {{[Pierre]}} Sandoz, den ich liebe wie einen Bruder ... Und dir, mein lieber Junge, stelle ich hier meine[[Besitz]] Frau vor. Küßt euch sogleich.« Christine lachte gutmütig und reichte ihm bereitwillig die Wange. Sandoz hatte ihr sogleich gefallen mit seiner Gemütlichkeit, seiner festen Freundschaft und der väterlich teilnehmenden Miene, mit der er sie betrachtete. Tränen der Rührung traten ihr in die Augen, als er ihre Hände in den seinen behielt und sagte: »Es ist sehr hübsch von Ihnen, daß Sie[[1]] Claude lieben; ihr müßt euch immer lieben, das ist das Beste, was es gibt.« Dann neigte er sich hernieder, um den Kleinen zu küssen, den sie auf dem Arme hatte. »Also, einer ist schon da?« sagte er. »Mein Gott, das kommt, ohne daß man daran denkt«, antwortete der Maler mit einer Gebärde der Entschuldigung. Claude behielt Sandoz im Ateliersaale, während Christine das Haus umstürzte, um das Frühstück vorzubereiten. In wenigen Worten erzählte er ihm ihre Geschichte, wer sie sei, wie er sie kennen gelernt hatte, welche Umstände ihr Zusammenleben herbeigeführt hatten; er schien erstaunt, als sein Freund wissen wollte, weshalb sie nicht heirateten. Mein Gott, weshalb? weil sie noch nie davon gesprochen hatten, weil Christine es nicht zu verlangen schien und weil sie deshalb gewiß nicht mehr und nicht weniger glücklich seien. Kurz, es sei eine Sache, die nichts weiter zu bedeuten habe. »Gut«, sagte der andere: »für mich hat es nichts weiter zu bedeuten. Aber du hast sie als ehrbares Mädchen gefunden und müßtest sie heiraten.« »Sobald sie will. Es fällt mir gewiß nicht ein, sie mit ihrem Kinde sitzen zu lassen.« Sandoz bewunderte jetzt die Studien, die an den Wänden hingen. »Der Junge hatte seine Zeit gut benützt! Welche Richtigkeit des Tones, welche Wahrheit des Sonnenlichtes!« Claude, der entzückt und mit stolzem Lachen ihm zuhörte, wollte ihn eben nach den Freunden befragen, und was alle trieben, als Christine mit der Meldung kam: »Rasch, rasch, die Eier stehen auf dem Tische.« &&x Man frühstückte in der Küche, es war ein ganz außerordentliches Frühstück: gebratene Gründlinge nach den Eiern, dann das Rindfleisch von gestern mit Salat und Kartoffeln und endlich ein saurer Hering. Es war köstlich: der starke, Appetit erregende Geruch des Herings, den {{Melie}} ein wenig auf der Kohlenglut geröstet hatte, und das Summen des Kaffees, der in einer Ecke des Herdes langsam abtropfte. Als erst der Nachtisch erschien: frisch gepflückte Erdbeeren und ein Stück Käse aus der Milchwirtschaft einer Nachbarin, da stützte man die Ellbogen auf den Tisch, und eine endlose Plauderei ging an. Die Kameraden in Paris? mein Gott, nie täten nichts Neues. Aber sie tummelten sich und drängten sich, und jeder möchte zuerst ans Ziel kommen. Natürlich haben die Abwesenden Unrecht; wenn man nicht vergessen werden will, muß man mit dabei sein. Allein das Talent bleibt immer das Talent; mit Kraft und Willen muß man den Erfolg erringen. Ja, das war der schöne Traum: auf dem Lande leben, daselbst Meisterwerke anhäufen, dann eines Tages Paris verblüffen, indem man seine Schätze auspackt. Als Claude am Abend seinen Freund Sandoz zum Bahnhof begleitete, sagte ihm dieser: »Ich habe dir ein Geständnis zu machen. Ich glaube, daß ich heiraten werde.« Der Maler lachte hell auf. »Ei, du Spaßvogel! Jetzt begreife ich deine Moralpredigt von heute morgen!« Sie[[1]] plauderten noch eine Weile, bis der Zug kam. Sandoz erklärte ihm seine Ansichten über die Ehe, die er für die großen Künstler unserer Tage ganz spießbürgerlich als die Hauptbedingung der ersprießlichen Arbeit des geordneten und soliden Schaffens ansah. Das zerstörende Weib, das den Künstler tötet, ihm das Herz zermalmt und das Gehirn frißt, ist eine romantische Vorstellung, welche die Tatsachen widerlegen. Er bedürfe einer Liebe, die seine Ruhe behüte, eines traulichen Liebesnestes, wo er sich einschließen könne, um sein ganzes Leben dem großen Werke zu widmen, von dem er unablässig träumte. Er fügte hinzu, alles hänge von der Wahl ab; er glaubte, die gefunden zu haben, die er suchte, eine Waise, die anspruchslose Tochter kleiner Geschäftsleute ohne jedes Vermögen, aber schön und klug. Er habe vor sechs Monaten sein Amt niedergelegt und sich auf den Journalismus geworfen, wo er reichlicher seinen Lebensunterhalt finde. Er habe seine Mutter in einem Häuschen in {{Batignolles}} untergebracht; dort wolle er ein Leben zu dreien führen zwischen zwei Frauen, die ihn liebten; und er fühlte sich kräftig genug, seine Familie zu ernähren. »Heirate,« sagte Claude. »Man soll nach seinen Gefühlen handeln ... Und nun lebewohl; dein Zug ist da. Vergiß nicht dein Versprechen, uns zu besuchen.« Sandoz kam sehr oft; er kam zufällig, wenn seine Zeitung es ihm gestattete; er war noch frei, denn es sollte erst im Herbste Hochzeit gemacht werden. Es waren glückliche Zeiten; ganze Nachmittage mit dem Austausche von Bekenntnissen, mit der gemeinsamen Wiederaufnahme der alten Ruhmesträume zugebracht. Als er eines Tages mit Claude auf einer {{Seine}}-Insel im Grase ausgestreckt lag, die Augen in den Himmelshöhen verloren, gestand er ihm seinen hochfliegenden Ehrgeiz, legte eine Beichte ab. »Die Zeitung ist nichts als eine Kampfstätte. Man muß leben und kämpfen, um zu leben ... Die vertrackte Presse ist – trotz der Widrigkeiten des Handwerks – eine große Macht, eine unüberwindliche Waffe in der Hand eines überzeugten Mannes ... Doch wenn ich jetzt auch genötigt bin, mich dieser Waffe zu bedienen, werde ich dabei nicht alt werden, gewiß nicht. Ich habe schon gefunden, was ich suchte: ja, eine Aufgabe, die Arbeit für das ganze Leben erheischen wird; etwas, worin ich mich versenken will, um vielleicht nicht herauszukommen.« Es ward still unter dem in der schwülen Hitze unbeweglichen Laub. Sandoz fuhr nach einer Weile mit verlangsamter Stimme in zusammenhangslosen Sätzen fort: »Den Menschen studieren, wie er ist; nicht mehr ihren vergeistigten Hampelmann, sondern den körperlichen Menschen, der seine Umgebung bestimmt, und der unter dem Zusammenwirken all seiner Organe handelt ... Ist es nicht eine Posse, immer und ausschließlich die Funktion des Gehirns zu studieren unter dem Vorwande, daß das Gehirn das edle Organ sei? Der Gedanke, der Gedanke ... Ach, Donner Gottes! der Gedanke ist das Erzeugnis des ganzen Körpers. Bringt ein Gehirn allein zum Denken; seht zu, was aus dem Adel des Gehirns wird, wenn der Magen krank ist! ... Nein, es ist albern: nicht dort sitzt die Philosophie, nicht dort sitzt die Wissenschaft. Wir sind Positivisten und Evolutionisten und sollten die literarische Gliedergruppe der klassischen Zeiten beibehalten und fortfahren, das verworrene Garn der reinen Vernunft abzuhaspeln? Psychologie heißt Verrat an der Wahrheit. Die Physiologie und Psychologie bedeuten übrigens gar nichts; die eine hat die andere durchdrungen, beide zusammen sind heute eins: der Mechanismus des Menschen, zur Totalsumme seiner Funktionen gelangt ... Das ist die Formel; unsere moderne Revolution hat keine andere Grundlage; es ist der verhängnisvolle Tod der alten Gesellschaft, die Geburt einer neuen Gesellschaft; es ist notwendigerweise das Hervorsprießen einer neuen Kunst auf dem neuen Boden. Ja, man soll die Literatur sehen, die für das nächste Jahrhundert der Wissenschaft und der Demokratie aufkeimen wird!« &&x Sein Aufschrei stieg empor und verlor sich unter dem unermeßlichen Himmel. Kein Hauch zog vorüber; die Weiden entlang war nichts als das stille Gleiten des Wassers zu vernehmen. Er wandte sich plötzlich seinem Gefährten zu und sagte ihm rundweg ins Gesicht: »Ich habe also gefunden, was ich brauchte. Nichts Großes, bloß einen kleinen Winkel; es genügt für ein Menschenleben, selbst wenn es von sehr weitgehenden Plänen getragen ist ... Ich will eine Familie zum Vorwurf nehmen, will ihre Mitglieder einzeln studieren, woher sie kommen, wohin sie gehen, wie die einen auf die anderen einwirken, kurz: eine Menschheit im kleinen, die Art und Weise, wie die Menschheit hervorsprießt und sich bewegt ... Anderseits werde ich meine[[Besitz]] Menschen in eine abgeschlossene Geschichtsperiode setzen; dies wird mir die Umgebung und die Verhältnisse liefern, es wird ein Stück Geschichte sein. Du verstehst mich: eine Reihe von Büchern, fünfzehn, zwanzig Bücher, Ereignisse, die zusammenhängen und dennoch – jedes für sich – ihren eigenen Rahmen haben, eine Folge von Romanen, die mir ein Haus für meine[[Besitz]] alten Tage bauen sollen, wenn ich darunter nicht zusammenbreche. Er sank wieder auf den Rücken und breitete die Arme im Grase aus, um gleichsam in die Erde einzudringen, und lachte und scherzte. »Gütige Erde, nimm mich! Du bist die gemeinsame Mutter, die einzige Quelle des Lebens; du bist die Ewige, Unsterbliche, in der die Seele der Welt kreiset, jener Saft, der sich bis in die Steine ergießt und aus den Bäumen unsere großen, unbeweglichen Brüder macht ... Ja, in dir will ich mich verlieren; du bist es, die ich da unter meinen[[Besitz]] Gliedern fühle, mich umfangend und entflammend; du allein wirst in meinem Werke sein wie die Urkraft, das Mittel und der Zweck, die ungeheure Arche, wo sich alle Dinge durch den Atem aller Wesen beleben!« In spöttischem Tone begonnen, von seiner lyrischen Begeisterung getrieben, endigte dieser Anruf in einem Schrei glühender Überzeugung, zitternd in der tiefen Ergriffenheit eines Dichters. Seine Augen feuchteten sich; um seine Rührung zu verbergen, sagte er mit schroffer Stimme und einer weiten, den Gesichtskreis umfassenden Gebärde: »Ist es nicht dumm: eine Seele für jeden von uns, wenn diese große Seele da ist!« Claude lag im Grase vergraben und hatte sich nicht gerührt: »Ganz recht; vernichte sie alle! ... Aber nimm dich in acht, daß sie dich nicht totmachen.« »O«, sagte Sandoz, indem er sich erhob und die Glieder reckte, »ich habe harte Knochen; sie werden sich die Hände wund schlagen ... Laß uns zurückkehren, ich will den Zug nicht versäumen.« Christine, die seine Tüchtigkeit und Rüstigkeit im Kampfe des Lebens sah, hatte eine lebhafte Freundschaft für Sandoz gefaßt und wagte ihn endlich zu bitten, Hansens Taufpate zu sein. Sie[[1]] hatte allerdings seit langer Zeit keinen Fuß mehr in eine Kirche gesetzt; aber wozu war es gut, den Kleinen außerhalb der Gebräuche zu lassen? Vornehmlich bestimmte sie der Wunsch, ihm eine Stütze zu geben in diesem Paten, der ihr trotz seiner ungestümen Kraftäußerungen ein gemessener, vernünftiger Mann schien. Claude war erstaunt, willigte aber achselzuckend ein. Die Taufe fand statt, die Tochter einer Nachbarin nahm die Stelle der Taufpatin an. Es war ein kleines Fest; man aß einen Hummer, den Sandoz aus Paris mitgebracht hatte. Als man an jenem Tage schied, nahm Christine Sandoz beiseite und sagte ihm mit flehender Stimme: »Kommen Sie[[1]] bald wieder, ja? Er langweilt sich.« Claude versank in der Tat in traurige Stimmungen. Er ließ seine Studien im Stich, ging allein aus, trieb sich unwillkürlich vor der Herberge der {{Faucheur}} herum an der Stelle, wo die Fähre anlegte, als rechne er immer damit, Paris landen zu sehen. Paris; beschäftigte seine Gedanken; er ging jeden Monat dahin und kam von dort trostlos, arbeitsunfähig zurück. Es kam der Herbst, dann der Winter, ein nasser, schmutziger Winter; er verbrachte ihn in einer mürrischen Schlaffheit, in bitterer Laune selbst Sandoz gegenüber, der, seit dem Oktober verheiratet, die Reise nach {{Benne¬court}} nicht so oft machen konnte. Claude schien nur bei jedem solchen Besuche zu erwachen; er blieb noch eine Woche hernach in Aufregung, erging sich unerschöpflich in fieberhaften Worten über die Nachrichten aus Paris. Während er früher sein Verlangen nach der Hauptstadt verheimlicht hatte, betäubte er jetzt Christine mit Paris, redete ihr vom Morgen bis zum Abend davon aus Anlaß von Dingen, die sie nicht kannte, und von Leuten, die sie nie gesehen. Wenn Hans eingeschlafen war und sie noch am warmen Kamin verweilten, begann eine endlose Erklärung. Er ereiferte sich leidenschaftlich, und sie mußte ihre Meinung sagen, sich über die Geschichten aussprechen. War es von {{Gagnière}} nicht blöd, bei der Musik zu verdummen, während er eine so schöne Begabung für die Landschaftsmalerei hatte? Man erzählte, er nehme jetzt Klavierstunden bei einem Fräulein, – in seinem Alter! Was halte sie davon? Eine rechte Torheit! Und Jory? Seitdem Irma {{Bécot}} ein kleines Haus in der Moskauer Straße besaß, suchte der junge Mann sich ihr wieder zu nähern. Sie[[1]] kannte ja die beiden? Zwei Dummköpfe, die ein Paar abgeben. Der Pfiffigste aber sei {{Fage¬rolles}}, dem er die Wahrheit sagen wolle, wenn er ihn treffe. Dieser Abtrünnige hatte um den Preis von Rome sich beworben, – allerdings ohne ihn zu erlangen. Ein Kerl, der die Schule verspotte, der davon sprach, alles niederzumachen! Fürwahr, die Gier nach dem Erfolg, das Bedürfnis, die Kameraden zu überholen und von den Schwachsinnigen beglückwünscht zu werden: sie drängten die Menschen zu vielen schmutzigen Handlungen. Sie[[1]] werde ihn doch nicht verteidigen wollen? sie sei doch nicht spießbürgerlich genug, um ihn zu verteidigen? Wenn sie sich so aussprach wie er, kam er mit lautem, nervösem Gelächter immer wieder auf die nämliche Geschichte, die er außerordentlich komisch fand: auf die Geschichte von {{Mahou¬deau}} und {{Chaine}}, die den kleinen {{Jabouille}}, den Gatten Mathildens, der schrecklichen Kräuterhändlerin, getötet hatten: – jawohl, getötet eines Abends, als dieser kranke Hahnrei einen Ohnmachts-Anfall hatte und diese beiden, von der Frau herbeigerufen, ihn so heftig rieben, daß er unter ihren Händen liegen blieb. Wenn Christine sich nicht mit ihm freute, erhob sich Claude und sagte: »Du lachst über gar nichts ... Gehen wir schlafen, das wird besser sein.« Er betete sie noch immer an und besaß sie mit dem verzweifelten Ungestüm eines Liebhabers, der von der Liebe die einzige Freude, das Vergessen alles andern erwartet. Aber er konnte über den Kuß nicht hinausgehen; sie genügte ihm nicht, eine andere Qual hatte ihn mit unbezwinglicher Gewalt ergriffen. &&x Claude, der, um seine Verachtung gegen den Salon zu bekunden, geschworen hatte, nie wieder auszustellen, begann im Frühjahr sich viel um den Salon zu kümmern. Wenn er Sandoz sah, befragte er ihn, was die Kameraden zur Ausstellung senden würden. Am Tage der Eröffnung ging er hin und kam noch am nämlichen Abend bebend, in sehr gereizter Stimmung zurück. Nur eine einzige, unbedeutende Büste {{Mahou¬deaus}} tauge etwas; eine kleine Landschaft {{Gagnières}}, die in der Masse durchgeschlüpft, zeige einen hübschen, blonden Ton; dann sei nichts mehr da als ein Bild {{Fage¬rolles}}, eine Schauspielerin vor ihrem Spiegel, im Begriff sich zu schminken. Anfänglich hatte er ihn gar nicht erwähnt und sprach nachher von ihm mit Hohn und Entrüstung. Welch ein Schwindler, dieser {{Fage¬rolles}}! Nachdem er den Preis von Rome nicht erhalten hatte, wolle er wieder ausstellen; er breche entschieden mit der Schule, aber man müsse sehen, mit welcher Geschicklichkeit er es tue und welchen Handel er eingehe; es sei ein Bild, das kühn die Wahrheit gebe, ohne einen einzigen originellen Zug zu haben. Es werde aber Erfolg haben, denn die Spießbürger liebten es gar zu sehr, daß man sie kitzle, wenn man sich nur stelle, als stoße man sie. Es sei hohe Zeit, daß in der öden Wüste des Salons unter den Schwindlern und Tröpfen ein wirklicher Maler erscheine. Da gebe es eine breite Lücke auszufüllen. Christine, die ihn allmählich erregt werden sah, bemerkte schließlich zögernd: »Wenn du willst, können wir nach Paris zurückkehren.« »Wer spricht denn davon? Man kann mit dir nicht plaudern, ohne daß du vom Hundertsten ins Tausendste fällst.« Sechs Wochen später erfuhr er eine Nachricht, die ihn acht Tage lang beschäftigte: sein Freund Dubuche heiratete Fräulein Regina {{Margaillan}}, die Tochter des Besitzers der {{Richaudière}}. Es war eine verwickelte Geschichte, deren Einzelheiten ihn in Erstaunen versetzten und ungemein erheiterten. Vor allem war es diesem Tölpel Dubuche gelungen, mit dem zur Ausstellung gesandten Entwurf eines Pavillons, der inmitten eines Parkes stand, eine Medaille zu erringen. Das allein war schon ergötzlich genug, denn man erzählte, der Entwurf habe von seinem Lehrer {{Dequersonnière}} auf die Beine gestellt werden müssen; dieser habe dann als erster Richter ihm ruhig die Medaille zuerkennen lassen. Das Schönste aber war, daß diese erwartete Belohnung seine Heirat entschied. Das sei ein sauberes Geschäft nicht wahr? wenn künftig die Medaillen dazu dienen sollen, die guten, mittellosen Schüler im Schoße der reichen Familie unterzubringen! Der Vater {{Margaillan}} träumte wie alle Emporkömmlinge davon, einen Schwiegersohn zu finden, der ihn in seinen Unternehmungen unterstützen, echte Diplome und elegante Überröcke mitbringen solle. Seit einiger Zeit hatte er seine Augen auf diesen jungen Mann, diesen Zögling der Schule der schönen Künste geworfen, der ausgezeichnete Fortschritte gemacht hatte, sehr fleißig und von seinen Lehrern warm empfohlen war. Die Medaille begeisterte ihn; sogleich bewilligte er ihm die Hand seiner Tochter und nahm ihn zum Gesellschafter in der Überzeugung, daß er die Millionen verzehnfachen werde; denn er wußte, was man wissen mußte, um gut zu bauen. Überdies werde die arme, kränkelnde, stets traurige Regina einen gesunden, kräftigen Gatten bekommen. »Wie sehr muß man das Geld lieben, um diese arme, kleine, geschundene Katze zu heiraten«, sagte Claude wiederholt zu seiner Frau. Als Christine sie mitleidig in Schutz nahm, rief er: »Aber ich schimpfe ja nicht über sie! Wenn die Ehe ihr nicht den Rest gibt – umso besser. Sie[[1]] ist doch sicherlich unschuldig daran, daß ihr Vater, der Maurer, den blöden Ehrgeiz hatte, die Tochter eines Spießbürgers zu heiraten, und daß sie zusammen sie so schlecht gemacht haben, er mit seinem durch Geschlechter von Säufern verdorbenen Blute, sie erschöpft, das Fleisch verzehrt von allen Giften der verkümmernden Rassen. Ein schöner Niedergang inmitten der Hundert-{{Sous}}-Stücke! Erwerbt nur Reichtümer, um eure Fötusse in Weingeist zu legen!« Er ward nachgerade wild; seine Frau mußte ihn in ihren Armen behalten und küssen und lachen, damit er wieder so gemütlich werde wie in den ersten Tagen. Ruhiger geworden, begriff er und billigte die Ehen seiner zwei alten Kameraden. Alle drei hatten sich beweibt! Wie drollig war doch das Leben! Noch einmal ging der Sommer zu Ende, der vierte, den sie in {{Benne¬court}} zubrachten. Sie[[1]] konnten niemals glücklicher sein. Das Leben war friedlich und wohlfeil in diesem Dorfe. Seitdem sie da wohnten, hatte ihnen das Geld nie gemangelt; die tausend Franken Rente und der Erlös für die wenigen Bilder, die er verkaufte, genügten für ihre Bedürfnisse; sie machten sogar einige Ersparnisse und schafften Leinenzeug dafür an. Der kleine Hans, der jetzt zweiundeinhalb Jahre zählte, gedieh kräftig auf dem Lande. Beschmutzt und zerfetzt trieb er sich vom Morgen bis zum Abend in den Feldern herum und war dabei gesund und rosig. Oft wußte seine Mutter nicht, bei welchem Ende sie ihn anfassen solle, um ihn ein wenig zu reinigen; wenn sie ihn nur gut essen und gut schlafen sah, kümmerte sie sich nicht weiter um ihn und widmete ihre Zärtlichkeit und ihre Sorge ihrem andern Kinde, dem großen, dem Künstler, dem teuren Manne, dessen düstere Stimmungen sie mit Bangigkeit erfüllten. Mit jedem Tage verschlimmerte sich die Lage; lebten sie auch ruhig, ohne den geringsten Kummer, so stellte sich doch eine Traurigkeit, ein Mißbehagen ein, das sich in einer fortwährenden Verbitterung äußerte. Es war geschehen um die ersten Freuden des Landlebens. Ihre Barke war verfault, hatte den Boden verloren und war schließlich in der {{Seine}} versunken. Es fiel ihnen übrigens nie ein, sich des Bootes zu bedienen, das Vater {{Faucheur}} ihnen zur Verfügung gestellt hatte. Der Fluß langweilte sie; sie waren zu träge zu rudern; sie wiederholten die begeisterten Worte von ehemals über gewisse köstliche Plätze auf den Inseln, aber sie fühlten sich nicht versucht, sie wieder aufzusuchen. Auch die Spaziergang am Flußufer hatten ihren Reiz verloren; im Sommer wurde man da gebraten, im Winter holte man sich einen Schnupfen; und die ausgedehnte, mit Obstbäumen bepflanzte Hochebene, welche das Dorf beherrschte, lag zu fern, als daß man seine Beine abmühen mochte. Auch ihr Hans ärgerte sie, diese Kaserne, wo man inmitten aller widrigen Gerüche der Küche essen mußte und wo in ihren Zimmer alle Winde freien Durchzug hatten. Um das Mißgeschick vollzumachen, fiel in diesem Jahre die Aprikosen-Ernte schlecht aus, und die schönsten Rosenstöcke waren verdorrt, an Alterschwäche zugrunde gegangen. Welch eine trübselige Abnützung durch die Gewohnheit! wie alt wurde die ewige Natur in dieser Ermüdung und Sättigung durch die nämlichen Ausblicke. Das Schlimmste aber war, daß in ihm der Maler dieser Gegend überdrüssig wurde, kein einziges Motiv mehr fand, das ihn anregen konnte, und wo er mit müden Schritten in den Feldern umherschlich wie in einer ausgenutzten Besitzung, deren Leben er erschöpft hatte, ohne daselbst auch nur das Interesse für einen unbekannten Baum, für eine unvorhergesehene Lichtwirkung zurückzulassen. Nein, es war aus, es war eisig kalt; in diesem Hundelande konnte er nichts Rechtes mehr schaffen! &&x Der Oktober mit seinem Regenhimmel war gekommen. An einem der ersten Regentage wurde Claude böse, weil das Essen nicht rechtzeitig fertig war. Er warf {{Melie}}, die blöde Gans, hinaus, und ohrfeigte Hans, der ihm gerade zwischen die Beine gelaufen war. Da küßte ihn Christine weinend und sagte: »Laß uns fort! laß uns nach Paris zurückkehren!« Er machte sich los und rief mit zorniger Stimme: »Wieder diese Geschichte! ... Niemals; hörst du?« »Tue es um meinetwillen«, bat sie in dringendem Tone. »Ich bitte dich darum; mir wirst du damit ein Vergnügen bereiten.« »Langweilst du dich denn hier?« »Ja, ich würde sterben, wenn wir noch länger hier blieben. Du mußt arbeiten; ich fühle, daß dein Platz dort ist; es wäre ein Verbrechen, dich noch länger zu vergraben.« »Nein, laß mich!« Er zitterte, Paris rief ihn am Horizont, das winterliche Paris, das von neuem aufflammt. Er glaubte die Anstrengungen der Kameraden zu hören und sah sich schon dahin zurückkehren, damit man nicht ohne ihn triumphiere, damit er wieder das Oberhaupt werde, weil kein einziger die Kraft und den Stolz hatte, es zu sein. In diesem Wahn, in dem Bedürfnis, das er fühlte, dorthin zu eilen, weigerte er sich beharrlich, dahin zu gehen; es geschah vermöge eines unwillkürlichen Widerspruches, der aus seinem Innern aufstieg, ohne daß er selbst sich ihn erklären konnte. War es die Furcht, die selbst die Tapfersten erzittern macht? War es der dumpfe Kampf des Glückes gegen das verhängnisvolle Schicksal! »Ich packe die Koffer und führe dich hinweg«, sagte Christine heftig. Fünf Tage später brachen sie nach Paris auf, nachdem sie alles eingepackt und zur Eisenbahn gesandt hatten. Claude war mit dem kleinen Hans schon unterwegs, als Christine sich einbildete, daß sie etwas vergessen habe. Sie[[1]] kehrte allein nach dem Hause zurück; sie fand es vollkommen leer und begann zu weinen. Ein Riß ging ihr durch das Herz; ihr war, als lasse sie etwas von sich selbst da, ohne sagen zu können: was. Wie gern wäre sie geblieben! wie glühend war ihr Verlangen, stets da zu leben, die soeben diesen Aufbruch gefordert hatte, diese Rückkehr nach einer Stadt der Leidenschaft, in der sie eine Nebenbuhlerin ahnte. Indes suchte sie weiter, was ihr fehlte, und pflückte schließlich eine Rose von einem Rosenstock, der vor der Küche stand, eine letzte, im Herbst verdorrte Rose. Dann schloß sie die Tür des verlassenen Gartens. &&x &&ns &&am &&g="Siebentes_Kapitel." &&fa Siebentes Kapitel. &&fe &&ax &&lg=x Wieder auf dem Pariser Pflaster wurde Claude von einem Fieber nach Geräusch und Bewegung ergriffen, von dem Bedürfnis auszugehen, die Stadt zu durchstreifen, die Kameraden aufzusuchen. Gleich am Morgen eilte er fort und überließ Christine allein die Sorge, das Atelier einzurichten, das sie in der {{Douai}}-Straße nahe der {{Clichy}}-Promenade gemietet hatten. So sprach er denn schon am zweiten Tage nach seiner Ankunft bei {{Mahou¬deau}} vor. Es war erst acht Uhr früh an einem grauen kalten November-Morgen. Der Laden in der Mittags-Straße, den der Bildhauer noch immer innehatte, war indes schon offen; {{Mahou¬deau}}, bleich und schläferig, hatte soeben fröstelnd die Fensterläden entfernt. »Ach, du bist es? ... Du hast dir auf dem Lande das Frühaufstehen angewöhnt ... Bist du endlich zurück?« »Ja, seit vorgestern.« »Da wird man sich also jetzt öfter sehen. Es ist frisch heute Morgen.« Doch Claude fror in dem Laden noch mehr als draußen. Er behielt den Kragen seines Überrocks aufgestülpt und die Hände in den Taschen, von einem Schauer ergriffen angesichts der wassertriefenden Mauern, der Lehmhaufen und der ewigen Lachen auf dem Fußboden. Ein Wind des Elends war durch diesen Raum gefahren, hatte die antiken Modelle von den Brettern gefegt, die Böcke und Zuber gebrochen, daß sie mit Stricken zusammengehalten werden mußten. Es war ein Loch voll Unordnung und Verfall, ein Maurerkeller in Trümmern. An der mit Kreide belegten Scheibe war – wie zum Hohn – eine strahlende Sonne mit dem Finger gezeichnet, mit einem Antlitz in der Mitte, dessen halbkreisförmiger Mund zu einem Grinsen verzerrt war. »Wart' einen Augenblick, man wird sogleich Feuer machen«, sagte {{Mahou¬deau}}. »Diese verwünschten Ateliers mit ihren nassen Tüchern kühlen so schnell aus!« Als Claude sich umwandte, bemerkte er {{Chaine}}, der vor dem Ofen kniete und von einem alten Sessel das Strohgeflecht abriß, um die Kohle anzuzünden. Er sagte ihm guten Morgen; doch der andere grunzte nur etwas Unverständliches, ohne den Kopf zu erheben. »Was machst du derzeit?« fragte der Bildhauer. »Nichts Rechtes. Das Jahr ist schlecht, schlechter als das vorige, das auch schon nicht viel taugte. Über die Heiligenbilder ist eine kritische Zeit gekommen, sie sind stark im Kurse gesunken. Ich mußte mich einschränken. Sieh, inzwischen muß ich das machen.« Er nahm von einer Büste die Tücher weg, und man erblickte ein langes, durch den Backenbart noch länger gemachtes Gesicht, ungeheuerlich in seiner Anmaßung und Dummheit. »Es ist ein Advokat, der nebenan wohnt ... Ist der Pavian häßlich, wie? Dabei ärgert er mich fortwährend mit seinem Verlangen, ihm einen schönen Mund zu machen! ... Man muß doch leben, nicht wahr?« Er hatte zwar einen Gedanken für die Ausstellung: eine stehende Figur, eine Badende, die einen Fuß prüfend ins kühle Wasser steckt, mit jenem Frösteln, welches das Fleisch des Weibes so reizend macht; und er zeigte Claude eine schon umrissene Modellskizze. Der Maler betrachtete sie still, überrascht und unzufrieden wegen der Zugeständnisse, die er daselbst bemerkte: eine Entwicklung des Schönen unter der fortdauernden Übertreibung der Formen, ein natürliches Verlangen zu gefallen, aber ohne gänzlichen Bruch mit der Voreingenommenheit für das Kolossale. Der Bildhauer aber war in Verzweiflung: die stehende Figur verursachte ihm viele Schwierigkeiten. Er mußte Eisengestelle haben, die viel Geld kosteten, dann einen Bock, den er nicht besaß, außerdem noch allerlei Gerät. Unter solchen Umständen werde er sich wahrscheinlich entschließen müssen, eine am Rande des Wassers liegende Figur zu schaffen. »Was hältst du davon? Wie findest du sie?« »Nicht übel«, sagte der Maler schließlich. »Etwas romantisch trotz ihrer Schenkel einer Metzgerin; allein das wird man erst nach der Durchführung beurteilen können ... Kopf hoch! sonst verdirbt dir alles unter der Hand.« Der Ofen summte schon, und {{Chaine}} erhob sich stumm. Er irrte eine Weile in dem Laden herum und trat dann in die finstere Hinterstube ein, wo das Bett stand, das er mit {{Mahou¬deau}} teilte; dann erschien er wieder mit dem Hut auf dem Kopfe noch schweigsamer, in ein eigensinniges, niederdrückendes Schweigen gehüllt. Ohne Eile ergriff er mit seinen steifen Bauernfingern ein Stück Kohle und schrieb an die Wand: »Ich hole Tabak; lege Steinkohlen nach.« Damit ging er. Verblüfft sah Claude dies Tun mit an. Dann wandte er sich an den andern. »Was heißt das?« »Wir reden nicht miteinander, wir schreiben uns nur«, sagte der Bildhauer ruhig. »Seit wann?« »Seit drei Monaten.« »Und ihr schlaft beisammen?« »Ja.« Claude brach in ein helles Lachen aus. Alle Wetter, das mußten harte Köpfe sein! Und weswegen das Zerwürfnis? Doch auf diese Frage erboste sich {{Mahou¬deau}} über diesen Tölpel {{Chaine}}. Eines Abends habe er ihn mit Mathilden, der Kräuterhändlerin von der Nachbarschaft überrascht; beide waren im Hemde und aßen einen Topf eingemachter Früchte. Daß er Mathilden im Unterröckchen antraf, machte ihm nichts, aber der Topf eingemachter Früchte war zuviel. Er werde niemals verzeihen, daß jener sich Süßigkeiten gönnte, während er – {{Mahou¬deau}} – trockenes Brot aß. »Zum Teufel! man teile die Süßigkeiten, wie man das Weib teilt!« &&x Der Groll dauerte nunmehr seit drei Monaten ohne ein Nachlassen, ohne eine Erklärung. Ihr Zusammenleben war geregelt; ihr unumgänglich notwendiger Verkehr beschränkte sich auf kurze Sätze, die mit Kohle an die Wand geschrieben wurden. Im übrigen fuhren sie fort, eine Frau und ein Bett zu haben, nachdem sie sich stillschweigend über die Stunden geeinigt hatten. Der eine ging fort, wenn der andere an die Reihe kam. Mein Gott, man brauchte im Leben nicht soviel reden; man konnte sich trotzdem verständigen. Während er Kohlen nachlegte, sagte er alles, was er auf dem Herzen hatte. »Du kannst es mir glauben, wenn du willst: Wenn man hungert, ist es ganz angenehm, mit dem andern nicht zu reden. Ja, man verliert im Schweigen; es ist wie eine Verschleimung, welche die Magenschmerzen lindert.. Dieser {{Chaine}}! Du hast keine Vorstellung von seiner Verbauerung. Als er seinen letzten {{Sou}} verzehrt hatte, ohne mit der Malerei den ersehnten Reichtum zu erwerben, warf er sich auf einen Kleinhandel, der ihm ermöglichen sollte, seine Studien zu beendigen. Ein schlauer Junge, wie du an seinem Plan sehen wirst: Er ließ sich Olivenöl aus seinem Heimatdorfe {{Saint-Firmin}} senden, machte sich dann auf den Weg durch die Stadt und verkaufte das Öl in den reichen provencalischen Familien, die in Paris eine Stellung haben. Unglücklicherweise hat es nicht lange gedauert; er ist zu bäuerisch und hat sich überall vor die Türe setzen lassen. Da ihm ein Krug Öl geblieben ist, das niemand will, leben wir davon. Ja, an den Tagen, wo wir Brot haben, tauchen wir es in das Öl.« Er zeigte auf das Fäßchen, das in einem Winkel des Ladens stand. Das Öl war durchgesickert, die Mauer und der Fußboden zeigten breite Fettflecke. Claude hörte auf zu lachen. Wie mußte das Elend den Menschen entmutigen! Wie will man jenen zürnen, die unter dem Joch des Elends seufzen? Er schritt in dem Atelier auf und ab, war nicht mehr böse über die durch Zugeständnisse erniedrigten Modellskizzen und duldete sogar die abscheuliche Büste. Bei seiner Wanderung stieß er auf eine Kopie, die {{Chaine}} im Louvre gemacht hatte, auf einen {{Mantegna}}, der mit einer außerordentlich trockenen Genauigkeit wiedergegeben war. »Der dumme Kerl!« murmelte Claude; »es ist fast wie das Original; er hat nie etwas Besseres gemacht. Vielleicht besteht sein Unrecht nur darin, um vier Jahrhunderte zu spät geboren zu sein.« Als die Hitze im Laden sehr stark wurde, zog er den Rock aus und setzte hinzu: »Es dauert lang, bis er seinen Tabak holt.« »Ich kenne seinen Tabak«, sagte {{Mahou¬deau}}, der sich wieder an seine Büste gemacht hatte und jetzt den Backenbart bearbeitete. »Sein Tabak ist da jenseits der Mauer. Wenn er mich beschäftigt sieht, schleicht er zu Mathilden, weil er mich zu betrügen glaubt. Geh, Tölpel!« »Die Liebschaft mit ihr dauert noch immer?« »Ja, es ist eine Gewohnheit. Sie[[1]] oder eine andere. Übrigens will sie nicht weichen. Es bleibt für mich noch mehr als genug übrig!« Er sprach übrigens von Mathilden ohne Zorn und sagte bloß, sie müsse krank sein. Seit dem Tode des kleinen {{Jabouille}} war sie wieder in Frömmigkeit verfallen, was sie nicht hinderte, durch ihre Aufführung im ganzen Stadtviertel Ärgernis zu erregen. Trotzdem ihr einige fromme Damen geblieben waren, die fortfuhren, bei ihr gewisse geheimnisvolle intime Gegenstände zu kaufen, um ihrer Schamhaftigkeit die erste Verlegenheit zu ersparen, sie anderswo zu verlangen, ging es mit der Kräuterhandlung abwärts, und der Bankrott schien nahe bevorzustehen. Als eines Abends die Gasgesellschaft ihr die Uhr gesperrt hatte, weil sie mit der Zahlung im Rückstande war, hatte sie bei den Nachbarn Olivenöl geliehen, das übrigens in den Lampen nicht brennen wollte. Sie[[1]] bezahlte niemanden, vermied selbst die Ausgabe für einen Arbeiter und vertraute {{Chaine}} die Ausbesserung der Spritzen und Klystiere an, welche die frommen Damen ihr sorgfältig in Zeitungspapier eingewickelt zurückbrachten. Bei dem Weinhändler gegenüber behauptete man sogar, daß sie in den Klöstern schon gebrauchte Spritzenröhrchen von neuem verkaufte. Kurz: es war ein Zusammenbruch; der geheimnisvolle Laden mit seinem huschenden Schatten von Sutanen, ihrem Geflüster, so heimlich wie im Beichtstuhl, ihrem kalten Weihrauchduft, alles, was es da an kleinen Verrichtungen und Besorgungen gab, von denen man nicht laut sprechen konnte, – es geriet in Vernachlässigung und Verfall. Die Not war so groß, daß die trockenen Kräuter an der Decke eine Beute der Spinnen wurden und die Blutegel tot und grün an der Oberfläche der Gläser schwammen. »Da ist er schon«, sagte der Bildhauer; »sie wird gleich hinterdrein kommen.« &&x {{Chaine}} kam in der Tat zurück. Er holte in auffälliger Weise eine Tüte Tabak hervor, stopfte seine Pfeife und begann, vor dem Ofen zu rauchen. Es war wieder so still geworden, als wenn kein Mensch da sei. Sogleich erschien Mathilde als Nachbarin, die im Vorübergehen einen guten Morgen sagen will. Claude fand sie noch abgemagerter, das Gesicht mit roten, unter der Haut sitzenden Flecken gesprenkelt, mit ihren lodernden Augen und ihrem, durch den Verlust von weiteren zwei Zähnen noch breiter gewordenen Munde. Die aromatischen Gerüche, die sie stets in den ungekämmten Haaren trug, schienen jetzt ranzig zu werden; es war nicht mehr der süßliche Geruch der Kamillen, noch auch der frische Duft des Anis; sie erfüllte den Raum mit jener scharfen Pfefferminze, die ihr Hauch zu sein schien, aber herb geworden und gleichsam verdorben durch das zermarterte Fleisch, das ihn ausatmete. »Schon bei der Arbeit!« rief sie. »Guten Morgen, mein Püppchen.« Sie[[1]] küßte {{Mahou¬deau}}, unbekümmert um Claude. Dann schüttelte sie diesem die Hand mit jener Schamlosigkeit, jener ihr eigentümlichen Art, den Bauch vorzustrecken, die sie gleichsam allen Männern sich anbieten ließ. »Daß ich euch nur sage«, – fuhr sie fort; »ich habe eine Büchse Eibischpastillen gefunden, die wollen wir zum Frühstück essen. Wir teilen sie auf; das wird gut tun, nicht wahr?« »Ich danke«, sagte der Bildhauer, »das verpappt mir den Mund. Ich rauche lieber meine[[Besitz]] Pfeife.« Als er Claude seinen Überrock nehmen sah, rief er: »Wie, du gehst schon?« »Ja, ich will mir die Beine wieder gelenkig machen und wieder ein wenig Pariser Luft atmen.« Doch verweilte er noch einige Minuten, um {{Chaine}} und Mathilden zuzusehen, die sich mit Eibischpastillen stopften und immer nacheinander ein Stück davon nahmen. Trotzdem er schon unterrichtet war, sah er dennoch mit Erstaunen {{Mahou¬deau}} ein Stück Kohle nehmen und die Worte an die Wand schreiben: »Gib mir den Tabak, den du in deine Tasche gesteckt hast.« Wortlos zog {{Chaine}} die Tüte hervor und reichte sie dem Bildhauer, der seine Pfeife stopfte. »Nun denn, auf baldiges Wiedersehen!« »Ja; wenn nicht früher, jedenfalls nächsten Donnerstag bei Sandoz.« Auf der Straße stieß Claude einen Ruf der Überraschung aus bei dem Anblick eines Herrn, der vor der Kräuterhandlung stehend, zwischen den verstaubten Bandagen des Aushängekastens hindurch das Innere des Ladens musterte. »Schau, Jory! Was machst du da?« »Nichts; ich ging gerade vorüber und schaute hinein ...« Doch er hielt sein Lachen nicht zurück; dann dämpfte er die Stimme, als ob man ihn hätte hören können, und fragte: »Sie[[1]] ist bei den Kameraden, nicht wahr? ... Gut, laß uns rasch fortgehen. Es bleibt für einen andern Tag.« Er führte den Maler hinweg und erzählte ihm abscheuliche Geschichten. Jetzt kam die ganze Schar zu Mathilden: einer hatte es dem andern gesagt, und sie kamen der Reihe nach, manchmal mehrere zugleich, wenn sie es so drolliger fanden, es geschahen greuliche Geschichten, die er ihm ins Ohr flüsterte, mitten in der Straße stehen bleibend, unbekümmert um die Stöße der Vorübergehenden. Was? Rom war wieder erstanden! Konnte er sich das Bild vorstellen da hinter dem Wall von Bandagen und Spritzen unter den Heilkräutern, die von der Ladendecke herab zerstäubten! Eine feine Bude, ein Lustort für Pfaffen, mit den Gerüchen einer verdächtigen Winkel-Parfümeuse {{[Parfü¬meuse]}}, die in einer kapellenartigen Stille ihr Gewerbe betreibt. »Aber«, sagte Claude lachend, »du hast doch das Weib für abscheulich erklärt?« Jory machte eine Gebärde der Sorglosigkeit. »Ach, was wir mit ihr machen wollen, dazu ist sie gut ... Ich kam heute Morgen vom Westbahnhofe zurück, wohin ich einen Freund begleitete; und weil ich durch diese Gasse kam, wollte ich die Gelegenheit benützen. Du wirst doch einsehen, daß man sich nicht gerade deshalb herbemüht.« Er gab diese Erklärungen mit einer Miene der Verlegenheit; dann entriß ihm, dem Gewohnheitslügner, der Freimut seines Lasters folgendes Geständnis: »Wenn du es wissen willst: ich finde sie ganz außerordentlich! Sie[[1]] ist nicht schön, das gebe ich zu; aber sie ist eine Hexe; kurz ein Weib, das man vor den Leuten nicht mit der Zange anfassen möchte, und für das man dennoch die schlimmsten Torheiten zu begehen imstande ist.« Jetzt erst fiel ihm auf; daß er Claude in Paris sah; als dieser ihn aufgeklärt hatte und er erfuhr, daß der Maler sich wieder in Paris niedergelassen, rief er plötzlich: »Hör' mal, ich nehm' dich mit; du kommst mit mir zu Irma frühstücken.« Der Maler lehnte betroffen ab; er schützte vor, keinen schwarzen Rock zu haben. »Was schadet das? Im Gegenteil, es wird umso drolliger sein. Irma wird entzückt sein. Ich glaube, sie hat ein Auge auf dich geworfen; sie spricht immer von dir. Sei nicht dumm! Ich sage dir, sie erwartet mich heut, und wir werden wie Prinzen empfangen.« Er ließ seinen Arm nicht mehr los, und sie setzten plaudernd ihren Weg in der Richtung zur Magdalenen-Kirche fort. Gewöhnlich schwieg er über seine Liebschaften, wie die Trunkenbolde über den Wein Schweigen beobachten. Diesen Morgen jedoch sprudelte er über, scherzte über sich selbst, gestand seine Geschichten. Seit langer Zeit schon hatte er mit der Tingeltangel-Sängerin gebrochen, die er aus seinem Städtchen mitgebracht; jene, die ihm mit ihren Fingernägeln so oft das Gesicht zerkratzt hatte. Jetzt gingen bei ihm jahraus jahrein die Weiber wie wild aus und ein; und es waren die seltsamsten, unglaublichsten Weiber: die Köchin eines Bürgerhauses, wo er speiste; die rechtmäßige Gattin eines Stadtserganten, dessen Dienststunden er abwarten mußte; die junge Angestellte eines Zahnarztes, die sechzig Franken monatliche Bezahlung dafür erhielt, daß sie vor jedem Klienten sich einschläfern und wieder erwecken ließ, was dazu diente, das Vertrauen zu dem Zahnarzte zu befestigen; und noch andere; die fahrenden Mädchen aus den Speisehäusern, feine Damen, die abenteuerlustig waren, die kleinen Wäscherinnen, die ihm seine Leibwäsche brachten, die Haushälterinnen, die ihm sein Bett machten; alle, die sich dazu hergaben: die ganze Straße mit ihren zufälligen Begegnungen; alles, was sich anbot und was man stahl, und zwar auf gut Glück: die schönen, die häßlichen, die jungen, die alten, ohne Wahl, bloß um seine starken Mannesgelüste zu befriedigen, wobei er die Qualität für die Quantität opferte. Jede Nacht, wenn er allein heimkehrte, trieb ihn das Entsetzen vor seinem kalten Bett auf die Jagd, und er trieb sich auf den Fußsteigen herum bis in die späten Nachtstunden, wo einsame Wanderer abgeschlachtet werden, und ging nicht eher schlafen, als bis er eine aufgetrieben hatte; dabei war er in dem Grade kurzsichtig, daß ihm die seltsamsten Mißgriffe passierten; so geschah es, daß er eines Morgens eine Sechzigjährige neben sich liegen sah, deren weiße Haare er in der Eile für blonde angesehen hatte. &&x Im übrigen war er vom Leben entzückt; seine Geschäfte gingen gut. Sein geiziger Vater hatte ihm die Unterstützungen abermals entzogen und ihn wegen seiner Ärgernis erregenden Lebensweise verflucht. Aber er machte sich nichts daraus; er erwarb jetzt sieben- bis achttausend Franken jährlich als Journalist und hatte sich als Berichterstatter und Kunstkritiker eine Stellung errungen. Die geräuschvollen Tage des ›Tambour‹, die Artikel zu einem Goldstück waren längst vorbei; er führte jetzt ein geregeltes Leben und war Mitarbeiter zweier sehr gelesener Blätter; obgleich er im Grunde der spöttelnde Genußmensch geblieben war, dem der Erfolg alles galt, nahm er doch eine gewisse spießbürgerliche Wichtigtuerei an und tat Aussprüche, die unumstößlichen Urteilen gleichgeachtet wurden. Von seinem angeborenen Geiz getrieben, legte er bereits allmonatlich Geld in allerlei häßlichen, ihm allein bekannten Spekulationen an; denn niemals hatten seine Laster ihm weniger gekostet; wenn er mit dem Weibe sehr zufrieden gewesen und sich am Morgen in sehr freigebiger Laune befand, zahlte er eine Tasse Schokolade. In der Moskauer Straße fragte Claude: »Du unterhältst die kleine {{Bécot}}?« »Ich?« rief Jory entrüstet. »Aber, mein Freund, sie hat eine Wohnung für zwanzigtausend Franken und spricht davon, ein Palais bauen zu lassen, das eine halbe Million kosten soll ... Nein, nein, ich frühstücke bei ihr und speise zuweilen zu Mittag; das ist doch genug.« »Du schläfst wohl auch da?« Der andere lachte und wich der Antwort aus. »Narr, das gehört immer mit dazu ... Doch wir sind da; rasch hinein!« Aber Claude wehrte sich noch immer. Sein Weib erwarte ihn zum Frühstück, er könne nicht bleiben. Jory mußte anläuten und ihn in den Flur drängen, wobei er wiederholte, das sei keine Entschuldigung, man werde den Kammerdiener nach seiner Wohnung senden, um seine Frau zu benachrichtigen. Eine Tür ward geöffnet, sie befanden sich Irma {{Bécot}} gegenüber, die, als sie den Maler ansichtig wurde, ausrief: »Wie, sie sind's, Wilder?« Er fühlte sich sogleich behaglich, denn sie empfing ihn wie einen alten Kameraden, und er empfand in der Tat, daß sie seinen alten Überrock nicht zu bemerken schien. Er war erstaunt, denn er erkannte sie kaum wieder. In vier Jahren war sie eine andere geworden; der Kopf war mit der Kunst einer Schauspielerin zugerichtet, die Stirn durch krause Löckchen verkleinert, das Gesicht – dank einer Willensanstrengung – in die Länge gezogen; das früher fahlblonde Haar war jetzt von einer flammenden Röte, so daß das kleine Gassenmädchen von ehemals sich in eine Kurtisane von Tizian verwandelt zu haben schien. In den Stunden, wo sie sich gehen ließ, sagte sie manchmal, das sei ihr Kopf für die Gimpel. Das Haus war eng und, wenn auch mit Luxus eingerichtet, dennoch unvollständig. Den Maler überraschten einige gute Bilder, die an den Wänden hingen: ein {{Cour¬bet}} und vor allem eine Skizze von {{Dela¬croix}}. Das Mädchen war also nicht dumm, trotzdem es eine abscheuliche Katze von bemaltem Ton auf einer Konsole im Salon liegen hatte. Als Jory sagte, man müsse den Kammerdiener in die Wohnung seines Freundes senden, rief sie überrascht: »Wie? Sie[[1]] sind verheiratet?« »Ja«, erwiderte Claude einfach. Sie[[1]] blickte Jory an; dieser lächelte; sie begriff und fuhr fort: »Ihr habt euch zusammengetan ... Und man erzählte mir, daß Sie[[1]] vor den Frauen davonliefen! ... Ich bin ordentlich verletzt, weil ich Ihnen Furcht eingeflößt habe – erinnern Sie[[1]] sich? Finden Sie[[1]] mich denn häßlich, daß Sie[[1]] noch immer vor mir zurückweichen?« Mit beiden Händen hatte sie die seinen ergriffen und streckte das Gesicht vor, lächelnd und im Grunde wirklich verletzt, ihm aus unmittelbarer Nähe in die Augen schauend, mit dem lebhaften Wunsche zu gefallen. Er fuhr zusammen unter dem Hauche dieses Mädchens, der ihm heiß um den Bart strich. Doch sie ließ seine Hände wieder los und sagte: »Nun, wir werden darüber noch reden.« Mit der Überbringung der benachrichtigenden Zeilen Claudes wurde der Kutscher beauftragt, denn der Kammerdiener hatte die Tür des Speisezimmers geöffnet, um anzukünden, daß das Essen angerichtet sei. Das sehr feine Frühstück nahm im Beisein des mit kalter Höflichkeit aufwartenden Bedienten einen vornehmen Verlauf; man sprach von den großen Arbeiten, die Paris von unterst zu oberst kehrten, dann von den Preisen der Baugründe nach Art von Spießbürgern, die Gelder anzulegen haben. Doch als beim Nachtisch die drei vor Kaffee und Likören allein waren, wurden sie lebhafter und vergaßen sich, als seien sie wieder im Café {{Baudequin}}. »Kinder«, sagte Irma, »es gibt nichts Schöneres, als unter einander lustig sein und sich um die Welt nicht kümmern!« Sie[[1]] rollte Zigaretten; sie hatte das {{Chartreuse}}-Fläschchen an sich genommen und leerte es; dabei ward sie sehr rot, und ihre Haare flatterten; sie war wieder in den Ton der verfluchten Kerle von der Straße verfallen. Jory war im Zuge, sich zu entschuldigen, weil er ihr ein Buch nicht gesandt, das sie gewünscht hatte. »Ich wollte das Buch gestern Abend gegen zehn Uhr kaufen, da traf ich {{Fage¬rolles}} ...« »Du lügst«, sagte sie, ihn mit scharfer Stimme unterbrechend. Um seinen Beteuerungen kurz ein Ende zu machen, setzte sie hinzu: »{{Fage¬rolles}} war hier; du siehst also, daß du lügst.« Dann wandte sie sich zu Claude. »Es ist ekelhaft: Sie[[1]] haben keinen Begriff von dieser Verlogenheit! ... Er lügt wie ein Weib um des bloßen Vergnügens willen an kleinen Schmutzigkeiten, die nichts weiter auf sich haben. Seine ganze Geschichte läuft darauf hinaus, daß er nicht drei Franken ausgeben wollte, mir dieses Buch zu kaufen. Jedesmal wenn er mir einen Blumenstrauß senden sollte, fuhr ein Wagen darüber, oder es gab keine Blumen mehr in Paris. Das ist einer, den man um seiner willen selbst lieben muß.« Jory fühlte sich durch diese Reden nicht getroffen; er schaukelte sich auf seinem Sessel und sog an seiner Zigarre. Schließlich bemerkte er grinsend: »Ja, wenn du mit {{Fage¬rolles}} wieder angeknüpft hast ..« »Ich habe keineswegs wieder angeknüpft!« rief sie wütend. »Und dann: geht es dich etwas an? ... Ich kümmere mich wenig um deinen {{Fage¬rolles}}. Er weiß sehr wohl, daß ich keinen Groll kenne. Wir beide kennen uns gut; wir sind zwischen denselben Pflastersteinen hervorgewachsen. Wenn ich wollte, brauchte ich nur den kleinen Finger zu rühren, und er läge da vor mir auf der Erde und leckte mir den Staub von den Füßen. Dein {{Fage¬rolles}} hat mich nicht vergessen!« Sie[[1]] wurde immer lebhafter, und Jory fand es ratsam, den Rückzug anzutreten. »Mein {{Fage¬rolles}}«, murmelte er; »mein {{Fage¬rolles}} ...« »Ja, dein {{Fage¬rolles}}! Glaubst du, ich sehe euch nicht? ihn, wie er immer seine Hand in deinem Rücken hat, weil er Artikel von dir hofft; und dich als ›guten Jungen‹, den Nutzen berechnend, den es dir bringen kann, wenn du einem beim Publikum beliebten Künstler unterstützest?« Verdrossen über diese Reden in Gegenwart Claudes, stammelte Jory verlegen. Er verteidigte sich nicht und zog es vor, die Sache ins Spaßhafte zu ziehen. War sie nicht ergötzlich, wenn sie sich so erhitzte, mit ihren lasterhaften Augen und ihrem zum Schimpfen verzerrten Munde? »Aber, Liebste« – schloß er – »dabei geht dein Tizian-Kopf zugrunde!« Sie[[1]] war entwaffnet und lachte. &&x Wohlbehaglich leerte Claude die Kognak-Gläschen, ohne zu zählen, wie viele es waren. Seit den zwei Stunden, die sie beisammen waren, stieg in der Gesellschaft ein Taumel auf, ein Likör-Rausch, umwogt von Tabakrauch. Man sprach jetzt von anderen Dingen; es war von den hohen Preisen die Rede, welche die Malerei zu erzielen begann. Irma sprach nicht mehr; mit einem erloschenen Zigaretten-Stummel im Munde betrachtete sie unverwandten Blicks den Maler. Plötzlich fragte sie, ihn duzend wie im Traume: »Woher hast du deine Frau genommen?« Das schien ihn nicht zu überraschen; er saß zerstreut, gedankenlos da. »Sie[[1]] kam eben aus der Provinz und war bei einer Dame; und ehrbar, ganz bestimmt.« »Und hübsch?« »Ja, gewiß!« Irma versank einen Augenblick wieder in ihr Brüten; dann sagte sie mit einem Lächeln: »Alle Wetter, das war ein Glücksfall! Es gab keine mehr; man hat eigens für dich eine gemacht.« Doch jetzt sprang sie vom Tische auf und rief: »Was? bald drei Uhr! Kinderchen ich muß euch vor die Tür setzen. Ich habe ein Stelldichein mit einem Architekten; ich will einen Baugrund in der Nähe des Park {{Monceau}} besichtigen; ihr wißt in dem neuen Stadtviertel, das jetzt ausgebaut wird. Ich glaube, es ist da ein gutes Geschäft zu machen.« Man war in den Salon zurückgekehrt; sie blieb vor einem Spiegel stehen und war verdrossen, als sie sich so rot sah. »Es ist wegen des Hauses, nicht wahr?« fragte Jory. »Du hast also das nötige Geld aufgetrieben?« Sie[[1]] kämmte ihr Haar auf die Stirn herab, schien mit der Hand das Blut aus ihren Wangen zu verdrängen, verlängerte das Oval ihres Gesichtes und stellte so ihren Kopf einer goldblonden Kurtisane wieder her, der den eigenartigen Reiz eines Kunstwerks hatte; Jory antwortete sie bloß: »Da ist mein Tizian-Kopf wieder!« Lachend drängte sie die beiden auf den Flur. Dort ergriff sie nochmals die Hände Claudes und schaute ihm wortlos mit ihrem lüsternen Blick in die Augen. Auf der Straße fühlte er ein Mißbehagen. Die frische Luft ernüchterte ihn, und es reute ihn jetzt, dieser Dirne von Christine gesprochen zu haben. Er nahm sich fest vor, nie wieder einen Fuß in dieses Haus zu setzen. »Ein gemütlicher Kerl, nicht wahr?« rief Jory, indem er eine Zigarette anbrannte, die er vor dem Aufbruch noch aus der Schachtel genommen hatte. Die Bekanntschaft verpflichtet zu nichts: man frühstückt bei ihr, man speist bei ihr, man schläft bei ihr, dann Lebewohl und gute Nacht; jeder geht seinen Geschäften nach.« Eine gewisse Scham hinderte Claude, sogleich heimzukehren, und als sein Gefährte, von dem Frühstück zu einem Spaziergang angeregt, davon sprach, man solle {{Bongrand}} aufsuchen, war er von diesem Vorschlage entzückt und beide lenkten ihre Schritte nach der {{Clichy}}-Promenade. {{Bongrand}} hatte hier ein geräumiges Atelier, wo er dem Geschmack des Tages nicht huldigte und jenen Aufwand an Teppichen und Schmuckgegenständen verschmähte, den die jüngeren Maler zu entfalten begannen. Es war das alte, kahle und graue Atelier, bloß mit einigen Studien des Meisters geschmückt, die ohne Rahmen an den Wänden hingen dicht beisammen wie die frommen Spenden in einer Kapelle. Der ganze Luxus bestand in einem Stehspiegel im Stile des Kaiserreichs, einem großen normannischen Schirm und zwei Lehnsesseln mit vom Gebrauch abgenütztem Utrechter Samt überzogen. In einer Ecke stand ein breites Sofa, bedeckt mit einem Bärenfell, das schon alle Haare verloren hatte. Aus seiner Jugend, die noch in die Zeit des Romantik fiel, hatte der Künstler die Gewohnheit einer besonderen Arbeitstracht beibehalten. So empfing er seine Besucher bekleidet mit einer weiten Hose, einem Talar, den eine Schnur um seinen Leib festhielt, und einem Priesterkäppchen auf dem Kopfe. Er selbst hatte die Tür geöffnet, ohne Palette und Pinsel aus der Hand zu legen. »Da sind Sie[[1]] ja! das ist ein guter Gedanke! ... Ich dachte an Sie[[1]], mein Lieber. Jawohl; jemand hatte mir Ihre Rückkehr angezeigt, und ich hatte die Absicht, Sie[[1]] demnächst zu besuchen.« In einer Aufwallung lebhaften Wohlwollens hatte er seine freie Hand zuerst Claude hingestreckt. Dann drückte er die Jorys und fuhr fort: »Sie[[1]], junger Pontifex, empfangen Sie[[1]] meinen[[Besitz]] Dank für das freundliche Wort, das Sie[[1]] mir in ihrem jüngsten Artikel gewidmet haben ... Treten Sie[[1]] ein, meine[[Besitz]] Herren, Sie[[1]] stören mich nicht; ich nütze den Tag bis zur letzten Minute aus, denn an diesen verwünschten Novembertagen hat man keine Zeit, etwas Rechtes zu arbeiten.« Er hatte sich wieder an die Arbeit gemacht und stand vor seiner Staffelei, auf der eine kleine Leinwand befestigt war, zwei Frauen – Mutter und Tochter – darstellend, die in einer sonnenhellen Fensternische sitzen und nähen. Die jungen Leute blieben hinter dem Maler stehen und schauten zu. »Das ist reizend!« murmelte Claude endlich. {{Bongrand}} zuckte die Achseln, ohne sich umzuwenden. »Eine Kleinigkeit! Man muß sich doch irgendwie beschäftigen, nicht wahr? Ich habe es in einem befreundeten Hause nach der Natur gemalt und putze jetzt ein wenig nach.« »Aber es ist vollkommen, ein Juwel an Wahrheit und Licht!« rief Claude begeistert. »Diese Einfachheit! Sehen Sie[[1]], die Einfachheit gefällt mir besonders!« Der Maler wich einen Schritt zurück, betrachtete sein Werk mit einem Augenzwinkern und sagte dann mit einer Miene der Überraschung: »Sie[[1]] finden? Das gefällt Ihnen wirklich? So hören Sie[[1]]: eben als Sie[[1]] kamen, war ich im Begriffe, das Bild ganz abscheulich zu finden. Bei meiner Ehre! ich gab mich schwarzen Gedanken hin und war überzeugt, nicht für zwei Heller Talent mehr zu haben.« Seine Hände zitterten; sein ganzer großer Körper war von dem schmerzlichen Beben des Schaffens ergriffen. Er legte die Palette weg und trat fuchtelnd zu ihnen; dieser Künstler, der unter Erfolgen alt geworden, dessen Platz in der französischen Schule gesichert war, rief ihnen zu: »Ihr seid erstaunt; ja, es gibt Tage, an denen ich mich frage, ob ich noch eine Nase zu zeichnen verstehe ... Jawohl; bei jedem meiner Bilder ergreift mich eine lebhafte Aufregung wie einen Anfänger; das Herz pocht mir, die Angst trocknet mir den Mund aus, kurz: es ist eine abscheuliche Beklemmung. Ihr jungen Leute glaubt diese Angst zu kennen und habt doch keine Ahnung davon; wenn ein Werk euch mißlingt, strengt ihr euch an, ein besseres zu schaffen, und seid quitt; niemand wird euch einen Vorwurf machen. Wir Alten hingegen, die wir unsern Maßstab geliefert haben und genötigt sind, uns selbst gleich zu bleiben, wenn nicht fortzuschreiten: wir dürfen nicht schwächer werden, wenn wir nicht in die allgemeine Grube geworfen werden wollen ... Geh, berühmter Mann, großer Künstler, verzehre dein Gehirn, verbrenne dein Blut, um höher, immer höher zu steigen; und wenn du auf dem Gipfel Fuß gefaßt hast, schätze dich glücklich und trachte, den Boden unter den Füßen nicht zu verlieren. Wenn du fühlst, daß es abwärts mit dir geht, dann reibe dich vollends auf im Todeskampf deines Talentes, das mit der Zeit nicht mehr Schritt hält, in der Vergessenheit, der deine unsterblichen Werke verfallen sind, verzweifelt über deine ohnmächtigen Anstrengungen, Neues zu schaffen!« &&x Seine Stimme war allmählich zu einem Donnergrollen angewachsen, und in seinem breiten, roten Gesichte drückte sich Angst und Bangen aus. Von seiner Heftigkeit unwillkürlich getrieben, lief er im Atelier auf und ab und fuhr fort: »Ich habe es euch zwanzigmal gesagt, daß man immer ein Anfänger bleibt, daß die Freude nicht darin besteht, oben angelangt zu sein, sondern in dem Aufstieg, in der Freude des Kletterns. Aber ihr versteht es nicht, ihr könnt es nicht verstehen, man muß es hinter sich haben ... Bedenkt nur: in eurem Alter erhofft man alles, erträumt man alles. Es ist die Zeit der schrankenlosen Wahnvorstellungen; man hat so gute Beine, daß die schwierigsten Wege kurz erscheinen; man ist von einem solchen Durst nach Ruhm verzehrt, daß die ersten kleinen Erfolge den Mund mit einem köstlichen Geschmack füllen. Wie schön, wenn man seinen Ehrgeiz wird befriedigen können! man ist fast schon so weit, man schindet sich mit Wonne. Dann ist es geschehen: der Gipfel ist erreicht, es handelt sich darum, sich dort zu behaupten. Da beginnt der Jammer; man hat den Rausch erschöpft, man findet ihn kurz und im Grunde bitter, des Kampfes nicht wert, den er gekostet. Nichts Unbekanntes ist mehr zu erkennen, kein Gefühl mehr zu empfinden. Der Stolz hat seinen Anteil am Ruhme gehabt; man weiß, daß man seine großen Werke geliefert hat, und ist erstaunt, daß sie keine größere Freude bereitet haben. Fortan schränkt sich der Gesichtskreis ein, keine neue Hoffnung winkt euch, es bleibt euch nichts übrig als zu sterben. Und dennoch klammert man sich an; man will nicht abgetan sein, man will vom Schaffen nicht lassen, wie die Greise vom Lieben, und hätte man auch nur die Mühe und Schande davon ... Man müßte den Mut und den Stolz besitzen, sich vor seinem letzten Meisterwerke aufzuknüpfen!« Er war gewachsen, erschütterte fast die hohe Decke des Ateliers, von einer so gewaltigen Bewegung durchrüttelt, daß Tränen in seinen Augen erschienen. Dann sank er wieder auf einen Sessel vor seinem Bilde und fragte mit der unruhigen Miene eines Schülers, der ermutigt werden muß: »Ihr findet es wirklich hübsch? ... Ich wage nicht daran zu glauben. Es muß ein Unglück sein, daß ich zuviel und doch nicht genug kritischen Sinn habe. Sobald ich an eine Studie gehe, versteige ich mich zur Begeisterung; wenn sie keinen Erfolg hat, martere ich mich. Es wäre besser, überhaupt keinen kritischen Sinn zu haben wie das Vieh {{Cham¬bou¬vard}}, oder ganz klar zu sehen und das Malen sein zu lassen ... Gefällt euch das Bildchen wirklich? Sagt es offen.« Claude und Jory standen unbeweglich, erstaunt und verwirrt angesichts dieser furchtbaren Geburtswehen. In welchem Augenblicke der Krise waren sie denn gekommen, daß dieser Meister vor Schmerzen heulte, indem er sie wie Kameraden zu Rate zog? Das Schlimmste war, daß sie ein Zögern nicht hatten verbergen können unter den großen, glühenden Augen, mit denen er sie anflehte, mit Augen, in denen die geheime Furcht vor seinem Niedergange zu lesen war. Sie[[1]] kannten und teilten die allgemein verbreitete Meinung, daß der Maler seit seiner »Ländlichen Hochzeit« nichts geschaffen habe, was diesem berühmten Bilde gleichwertig sei. Nachdem er mit einigen Bildern sich auf der Höhe erhalten, glitt er zu einer mehr gekünstelten und trockenen Mache herab. Es schwand der Glanz, jedes neue Werk schien eine Stufe tiefer zu stehen. Aber das waren Dinge, die man nicht sagen konnte; und Claude – nachdem er sich gefaßt hatte – rief aus: »Sie[[1]] haben nie etwas so Mächtiges gemalt!« {{Bongrand}} schaute ihm noch einmal fest in die Augen. Dann wandte er sich noch einmal zu seinem Werke, versenkte sich in seine Betrachtung und bewegte seine beiden Herkulesarme, als habe er sich anstrengen müssen, daß seine Knochen knackten, um dieses kleine, leichte Bildchen emporzuheben. Er bemerkte, mit sich selbst sprechend: »Herrgott, wie schwer! Doch will ich lieber die Haut dabei lassen als vom Platze weichen!« Er nahm die Palette wieder, beruhigte sich bei dem ersten Pinselstrich, rundete seine Schultern eines kräftigen Mannes mit seinem breiten Nacken, wo etwas von der zähen Vierschrötigkeit des Bauern in der Kreuzung mit der spießbürgerlichen Feinheit, aus der er hervorgegangen, zurückgeblieben war. Ein Schweigen war eingetreten. Jory, dessen Augen noch immer auf dem Bilde hafteten, fragte: »Ist es verkauft?« Der Maler beeilte sich nicht mit der Antwort als Künstler, der arbeitet, wenn es ihm beliebt, und sich um den Erwerb nicht kümmert. »Nein ... Es lähmt mich, wenn ich einen Händler hinter mir habe.« Ohne in der Arbeit innezuhalten, fuhr er in heiterspöttischem Tone fort: »Die Malerei wird nachgerade zum Geschäft! ... Ich als einer von den Alten habe Ähnliches nie gesehen ... Auch Sie[[1]], der liebenswürdige Journalist, haben in dem Artikel, in dem Sie[[1]] mich nannten, den Jungen Blumen gestreut: es waren zwei, drei darunter, die geradezu Genie hatten.« Jory lachte. »Mein Gott, wenn man eine Zeitung hat, bedient man sich ihrer. Übrigens liebt das Publikum es, wenn man ihm große Männer entdeckt.« »Gewiß die Torheit des Publikums ist grenzenlos, und es ist mir ganz recht, daß Sie[[1]] diese ausbeuten ... Aber ich erinnere mich an die Anfänge zu unserer Zeit. Alle Wetter! wir waren nicht verhätschelt; wir hatten zehn Jahre Arbeit und Kämpfe vor uns, ehe wir in der Malerei ein Wörtchen mitreden durften ... Und heute? Der erst-beste grüne Junge, der ein Männchen hinmalen kann, läßt alle Trompeten der Öffentlichkeit erschallen. Und welche Öffentlichkeit! Ein Lärm, der Frankreich von einem Ende bis zum andern durchhallt, über Nacht auftauchende Berühmtheiten, die inmitten der gaffenden Menge einen höllischen Lärm machen. Von den Kunstwerken ganz zu schweigen, den armseligen Kunstwerken, die mit Artillerie-Salven angekündigt, mit einer wahnsinnigen Ungeduld erwartet werden, Paris acht Tage lang in eine Tollwut des Entzückens versetzen, um dann in ewige Vergessenheit zu versinken!« »Sie[[1]] machen da der aufklärenden Presse den Prozeß«, erklärte Jory, der sich auf das Sofa ausgestreckt und sich eine neue Zigarre angebrannt hatte. »Sie[[1]] hat ihre guten und schlechten Seiten; aber man muß mit dem Strome schwimmen.« {{Bongrand}} schüttelte den Kopf und rief mit einer geräuschvollen Heiterkeit: »Es genügt, die mindeste Kleckserei aus der Hand zu geben, um ein junger Meister zu werden. Hören Sie[[1]]: Ihre jungen Meister machen mir höllischen Spaß!« Doch als habe eine Gedanken-Verbindung sich in ihm vollzogen, ward er plötzlich still und wandte sich an Claude mit der Frage: »Haben Sie[[1]] {{Fage¬rolles}} Bild gesehen?« »Ja«, antworte der junge Mann einfach. Beide schauten einander eine Weile an, und ein unbezwingliches Lächeln kräuselte ihre Lippen. Endlich sagte {{Bongrand}}: »Das ist einer, der sie plündert!« Jory blickte verlegen zu Boden und fragte sich, ob er {{Fage¬rolles}} in Schutz nehmen solle. Ohne Zweifel schien es ihm nützlich, es zu tun, denn er lobte dieses Bild, – eine Schauspielerin in ihrer Ankleideloge – dessen Wiedergabe im Kupferstich so viele Leute an die Schaufenster der Kunsthändler lockte. War der Vorwurf nicht modern? war es nicht hübsch gemalt im hellen Ton der neuen Schule? Man hätte vielleicht mehr Kraft verlangen können, allein man muß jedem seine Natur lassen. Und dann: Reiz und Vornehmheit liegen nicht auf der Straße. &&x {{Bongrand}}, der gewöhnlich über die jungen Maler sich nur in väterlich wohlwollenden Lobsprüchen äußerte, saß zitternd über seine Leinwand gebeugt und machte eine sichtbare Anstrengung, um nicht loszubrechen. Aber es brach gegen seinen Willen aus ihm hervor. »Lassen sie uns in Frieden mit ihrem {{Fage¬rolles}}!« rief er. »Halten Sie[[1]] uns denn für übernatürlich dumm? Sehen Sie[[1]] den großen Maler hier? Ja, diesen jungen Mann, der vor Ihnen steht? Der ganze Kniff besteht darin, ihm seine Eigenart zu stehlen und sie der dünnen Tunke der Schule der schönen Künste anzubequemen. So ist es: man nimmt einen modernen Stoff, man malt hell, aber man behält die läppisch genaue Zeichnung, die angenehme Darstellung; kurz: die Formel, die dort zum Vergnügen der Spießbürger gelehrt wird. Das ganze wird mit Behendigkeit übergossen, mit jener abscheulichen Behendigkeit der Finger, die ebensogut Kokosnüsse schnitzen könnten, mit jener fließenden, wohlgefälligen Leichtigkeit, die den Erfolg ausmacht und die mit der Galeere bestraft werden müßte, verstehen Sie[[1]]!« Er schwang mit beiden geschlossenen Fäusten Pinsel und Palette. »Sie[[1]] sind streng«, sagte Claude verlegen. »{{Fage¬rolles}} hat wirklich seine Vorzüge.« »Man hat mir erzählt«, brummte Jory, »daß er soeben einen sehr vorteilhaften Vertrag mit {{Naudet}} abgeschlossen hat.« Dieser in das Gespräch geworfene Name brachte {{Bongrand}} noch einmal zum Sprechen. Er wiegte die Schultern und meinte: »{{Naudet}} ... {{Naudet}}!« Er belustigte sie sehr mit {{Naudet}}, den er gut kannte. Es war ein Kaufmann, der seit einigen Jahren einen wahren Umsturz im Bilderhandel hervorbrachte. Es war nicht mehr die alte Methode, der schmierige Rock und der feine Geschmack des Vaters {{Mal¬gras}}, der den Bildern der Anfänger nachspürt, sie für zehn Franken kauft, um sie für fünfzehn weiterzugeben; es war nicht mehr der Kleinhandel des Kenners, der vor dem Bilde, nach dem es ihn gelüstet, eine Grimasse schneidet, um es in seinem Werte herabzusetzen, der im Grunde die Malerei anbetet und sein armseliges Leben damit fristet, in vorsichtigen Geschäften rasch sein kleines Kapital zu erneuern. Nein, der famose {{Naudet}} hatte das Auftreten eines feinen Herrn: Phantasie-Jackett, ein Brillant in der Halsbinde, parfümiert, lackiert, geschniegelt und geziert; überdies eine vornehme Lebensführung: ständige Mietdroschke, ständiger Sitz in der Oper, besonderer Tisch bei {{Bignon}}, Erscheinen an allen Orten, wo man als feiner Mann sich zeigen muß. Im übrigen ein Spekulant, ein Börsenmann, der sich über die gute Malerei gründlich lustig machte. Er hatte eine unvergleichliche Witterung für den Erfolg; er erriet den Künstler, den man in die Höhe bringen mußte; nicht den, der das umstrittene Genie eines großen Malers verhieß, sondern den, dessen verlogenes, von trügerischen Kühnheiten geschwelltes Talent auf dem spießbürgerlichen Markte zur Geltung kommen mußte. So geschah es, daß er einen Umsturz auf dem Markte hervorbrachte, indem er den ehemaligen Liebhaber vom Geschmack beiseite schob und nur mit dem reichen Liebhaber unterhandelte, der nichts von der Kunst versteht und ein Bild kauft wie einen Börsenwert aus Eitelkeit oder in der Hoffnung, daß es im Werte steigen werde. {{Bongrand}}, ein alter Spaßvogel, an dem ein Schauspieler verloren gegangen, begann die Szene zu spielen. {{Naudet}} kommt zu {{Fage¬rolles}}. »Sie[[1]] haben Genie, mein Lieber. Ihr Bild von neulich ist verkauft. Wie teuer denn? Für fünfhundert Franken. Aber Sie[[1]] sind toll! es war zwölfhundert wert. Was kostet dieses da?« »Mein Gott, ich weiß nicht, sagen wir zwölfhundert!« »Verstehen Sie[[1]] mich denn nicht, mein Lieber? Es ist zweitausend wert; ich nehme es für zweitausend. Von heute ab arbeiten Sie[[1]] für mich, für {{Naudet}}. Leben Sie[[1]] wohl, mein Lieber, und verschleudern Sie[[1]] Ihr Talent nicht; Ihr Glück ist gemacht, ich nehme es auf mich.« Damit geht er fort; er nimmt das Bild in seinem Wagen und führt es bei seinen Liebhabern herum, unter denen er die Nachricht verbreitet hat, daß er soeben einen ganz außerordentlichen Maler entdeckt hat. Schließlich beißt einer an und fragt nach dem Preise. »Fünftausend.« »Wie? fünftausend? Das Bild eines Unbekannten! Wollen Sie[[1]] mich zum Besten halten?« »Hören Sie[[1]], ich will Ihnen ein Geschäft vorschlagen: ich verkaufe Ihnen das Bild für fünftausend Franken und verpflichte mich schriftlich, es nach einem Jahre, wenn es Ihnen nicht mehr gefallen sollte, für sechstausend zurückzunehmen.« Das verlockt den Liebhaber; was riskiert er denn? Es ist im Grunde eine gute Anlage, und er kauft. Ohne Zeit zu verlieren, bringt {{Naudet}} in dieser Weise neun oder zehn Bilder jährlich an den Mann. Die Eitelkeit mengt sich mit der Hoffnung auf Gewinn, die Preise steigen, es bildet sich ein förmlicher Kurs, so daß, wenn er wieder bei seinem Amateur erscheint, dieser, anstatt das Bild zurückzugeben, ein anderes mit achttausend bezahlt. Die Preise gehen immer höher, die Malerei ist nur mehr ein Gebiet für fragwürdige Geschäfte, ein Goldbergwerk auf den Höhen von Montmartre, von Bankiers in die Höhe gebracht; man reißt sich um die Bilder, daß die Banknoten nur so in der Luft herumfliegen. Claude war entrüstet; Jory fand den Mann sehr schlau. Da ward an die Tür geklopft. {{Bongrand}} öffnete und stieß einen Ruf der Überraschung aus. »Sieh da, {{Naudet}}! ... Soeben sprachen wir von Ihnen.« Sehr vornehm gekleidet trotz des abscheulichen Wetters ohne das mindeste Stäubchen, trat {{Naudet}} grüßend ein mit der gemessenen Höflichkeit eines Mannes von der Welt, der in eine Kirche tritt. »Sehr erfreut, sehr geschmeichelt, teurer Meister ... Ich bin überzeugt, Sie[[1]] haben nur Gutes gesagt.« »Keineswegs, {{Naudet}}, keineswegs!« sagte {{Bongrand}} im ruhigem Tone. »Wir sagten, daß Ihre Art, die Malerei auszubeuten, dazu angetan sei, uns ein schönes Geschlecht von spottsüchtigen Malern und unredlichen Geschäftsleuten zu schaffen.« {{Naudet}} blieb ruhig und lächelte. »Das Wort ist hart, aber reizend! Nur zu, teurer Meister, von Ihnen verletzt mich nichts.« Vor dem kleinen Bilde – den zwei nähenden Frauen – in Verzückung geratend, rief er aus: »Ei, mein Gott! dieses Wunderwerk kannte ich ja gar nicht! Dieses Licht, diese solide und breite Arbeit! ... Man muß bis Rembrandt zurückgehen, um Ähnliches zu finden ... Hören Sie[[1]], teurer Meister, ich bin nur gekommen, um Ihnen meine[[Besitz]] Achtung zu bezeugen; aber ich sehe jetzt, daß mein guter Stern mich geleitet hat. Machen wir endlich ein Geschäft miteinander; überlassen Sie[[1]] mir dieses Juwel ... Ich zahle was Sie[[1]] verlangen, ich bedecke es mit Gold.« Man sah {{Bongrand}} bei jedem Satze gereizt mit den Schultern zucken. Er unterbrach den anderen rauh. »Zu spät; es ist verkauft.« »Verkauft? Mein Gott! Und können Sie[[1]] den Verkauf nicht mehr rückgängig machen? Sagen Sie[[1]] mir wenigstens: an wen? Ich werde alles aufbieten, jeden Preis zahlen ... Welch ein furchtbarer Schlag! Verkauft! Sie[[1]] sind dessen sicher? Wenn ich Ihnen den doppelten Preis böte?« »Es ist verkauft, {{Naudet}}; und nun genug, ja?« Doch der Händler fuhr fort zu wehklagen. Er blieb noch einige Minuten, begeisterte sich vor anderen Studien, machte die Runde im Atelier mit den scharfen Blicken eines Wettenden, der seine Gewinn-Aussichten berechnet. Als er endlich begriffen, daß er zu ungünstiger Stunde gekommen sei und nichts mitnehmen werde, ging er von dannen, mit dankbarer Miene grüßend und noch auf dem Flur sich in Ausrufen der Bewunderung ergehend. &&x Jory, der überrascht zugehört hatte, gestattete sich eine Frage, sobald der andere draußen war. »Mich dünkt, Sie[[1]] sagten uns, es sei nicht verkauft?« {{Bongrand}} antwortete nicht sogleich. Er kehrte zu seiner Leinwand zurück; dann rief er mit dröhnender Stimme, die sein verborgenes Leid, seinen uneingestandenen inneren Kampf verriet: »Er langweilt mich, er wird nie etwas von mir bekommen! ... Mag er von {{Fage¬rolles}} kaufen.« Eine Viertelstunde später nahmen auch Claude und Jory Abschied und ließen ihn bei der Arbeit zurück, die er im Lichte des zur Neige gehenden Tages eifrig fortsetzte. Als draußen der erstere sich von seinem Gefährten getrennt hatte, ging er nicht sogleich heim, trotzdem er schon lange von Hause fort war. In seinem Bedürfnis, noch weiter zu wandern, sich diesem Paris zu überlassen, wo die Begegnungen eines einzigen Tages ihm den Schädel füllten, irrte er noch weiter herum bis zur sinkenden Nacht im eisigen Schmutz der Straßen bei dem Lichte der Gaslaternen, die eine nach der andern angezündet wurden und im Nebel rauchenden Sternen glichen. Claude erwartete ungeduldig den Donnerstag, um bei Sandoz zu essen; dieser empfing noch immer einmal wöchentlich seine Freunde. Der Tisch war gedeckt; wer kommen wollte, kam. Obgleich er geheiratet, seine Lebensweise geändert, sich mitten in den literarischen Kampf gestürzt hatte: behielt er seinen Empfangstag bei, den Donnerstag, der noch aus jener Zeit datierte, da im Kollegium dies sein Ausgangstag war und er seine ersten Tabakspfeifen rauchte. Es sei ein Kamerad mehr da, pflegte er zu sagen, indem er auf seine Frau anspielte. Er hatte sich Claude gegenüber offen ausgesprochen. »Die Geschichte verdrießt mich sehr ...« »Was denn?« »Du bist nicht verheiratet ... Ich für mein Teil würde deine Frau sehr gern empfangen. Aber die albernen Spießbürger lauern mir auf und würden abscheuliche Dinge erzählen ...« »Gewiß, Christine selbst würde nicht kommen ... Wir begreifen es sehr wohl; ich komme allein; zähle darauf.« Um sechs Uhr begab sich Claude zu Sandoz in der {{Nollet}}-Straße tief in {{Batignolles}}. Nur mit vieler Mühe entdeckte er das Häuschen, das sein Freund bewohnte. Zuerst betrat er ein großes Haus, das in der Straßenzeile erbaut war; hier wandte er sich an den Pförtner, der ihn durch drei Höfe wies; dann kam er durch einen engen Gang zwischen zwei anderen Gebäuden, stieg eine Treppe von wenigen Stufen herab und stieß an das Gitter eines schmalen Gartens. Das war es; das Häuschen befand sich am Ende einer Allee. Aber es war so finster, er war auf der Treppe so sehr in Gefahr gewesen, die Beine zu brechen, daß er sich nicht weiter wagte, umsomehr als ein riesiger Hund ein wütendes Gebell ausstieß. Endlich hörte er die Stimme Sandoz', der den Hund beschwichtigend näher kam. »Bist du's?« Wir wohnen so recht auf dem Lande, nicht wahr? Man muß eine Laterne anbringen, damit unsere Gäste sich nicht den Kopf einrennen. Herein! herein! ... Verwünschter Bertrand, bist du stille? Tölpel! siehst du nicht, daß es ein Freund ist?« Der Hund begleitete sie schweifwedelnd und mit fröhlichem Gebell nach dem Hause. Eine junge Magd war mit einer Laterne erschienen, die sie an dem Gitter festmachte, um die schreckliche Treppe zu beleuchten. Der Garten bestand aus einem kleinen Rasenplatz in der Mitte; darauf stand ein ungeheurer Pflaumenbaum, in dessen Schatten das Gras nicht recht gedeihen konnte. Vor dem niedrigen Häuschen mit nur drei Fenstern in der Front stand eine mit wildem Wein umsponnene Laube, darinnen schimmerte eine ganz neue Bank, die man als Zierde noch während der winterlichen Regen in Erwartung des sonnigen Frühlings aufgestellt hatte. »Nur herein«, wiederholte Sandoz. Er führte ihn in den rechts vom Flur gelegenen Salon, der ihm als Arbeitszimmer diente. Speisezimmer und Küche lagen links vom Flur. Seine Mutter, die das Zimmer nicht mehr verließ, nahm im ersten Stockwerk das größere Zimmer ein, während das Ehepaar sich mit dem kleineren Zimmer und dem zwischen den beiden Gemächern gelegenen Ankleideraum begnügte. Das war alles: eine Kartonschachtel, Zimmer so groß wie Schubfächer, durch Wände getrennt so dünn wie ein Blatt Papier. Ein kleines Häuschen, von Arbeit und Hoffnung erfüllt, ungeheuer groß durch die Freuden der Jugend, verschönt durch einen Anfang von Wohlstand und Luxus. »Hier haben wir Platz, wie?« rief Sandoz; »viel bequemer als in der Höllenstraße. Du siehst, ich habe ein Zimmer für mich allein; ich habe einen eichenen Tisch gekauft, um darauf zu arbeiten; meine[[Besitz]] Frau hat mir die Palme hier in diesem Topfe von {{Rouener}} Steingut geschenkt. Ist fein, wie?« Eben trat seine Frau ein. Groß, mit einem ruhigen, freundlichen Gesicht und schönen braunen Haaren trug sie über ihrem sehr einfachen Kleide von schwarzer Popeline eine breite, weiße Schürze; obgleich sie eine Magd in ihren Dienst genommen hatten, befaßte sie sich doch mit der Küche, war stolz auf gewisse Gerichte und richtete ihr Haus mit gut bürgerlicher Sauberkeit und Feinschmeckerei ein. Claude und sie waren sogleich wie alte Bekannte. »Nenne ihn Claude, Liebste!« sagte Sandoz. »Und du, nenne sie Henriette. Nicht »gnädige Frau« – und nicht »mein Herr« – oder Ihr habt jedesmal eine Strafe von fünf {{Sous}} zu zahlen.« Sie[[1]] lachten; dann eilte Henriette in ihre Küche, um ein südländisches Gericht, die &&c=8 Bouillabaisse &&c=0 zu bereiten, womit sie die Freunde aus Plassans überraschen wollte. Das Rezept zu dieser Speise hatte sie von ihrem Gatten und wußte sie – wie er versicherte – mit erstaunlichem Geschick zu bereiten. » Deine Frau ist reizend«, sagte Claude; »und sie verzärtelt dich.« &&x Vor seinem Arbeitstische sitzend, die Ellbogen zwischen den am Morgen geschriebenen Blättern seines neuesten Werkes, begann Sandoz von dem ersten Roman seiner Serie zu sprechen, den er im Oktober veröffentlicht hatte. Man hatte es ihm schön zugerichtet, sein armes Buch. Es war ein Erwürgen, ein Gemetzel; die ganze Kritik war heulend hinter ihm her; man schüttete eine Breitseite von Beschimpfungen über ihn aus, als habe er Reisende am Waldessaume abgeschlachtet. Er lachte darüber, es eiferte ihn noch an; denn er hatte feste Schultern, die ruhige Kraft eines Arbeiters, der weiß, wohin er geht. Nur eines setzte ihn in Verwunderung: das tiefe Unverständnis dieser Kerle, deren Artikel – auf einer Schreibpultecke zusammengeschweißt – ihn mit Schmutz bedeckten, ohne von der geringsten seiner Absichten eine Ahnung zu haben. Alles wurde in den Schimpfkübel geworfen: seine neue Studie über den physiologischen Menschen, die allmächtige Rolle, die er der Umgebung des Menschen beimaß, die gewaltige, ewig schöpferische Natur, kurz: das Leben, das ganze, allgemeine Leben, das von einem Ende des Tierischen bis zum andern geht, ohne Hoch und Nieder, ohne Schönheit und Häßlichkeit; dann die Kühnheiten der Sprache, die Überzeugung, daß man alles sagen müsse, daß es abscheuliche Worte gebe, die geradeso notwendig sind wie das glühende Eisen, daß eine Sprache aus diesen Kraftbädern nur bereichert hervorgeht; und vor allem der sexuelle Teil, der fortdauernde Anfang und Abschluß der Welt, aus der Schmach hervorgezogen, hinter der man ihn verbirgt, in sein helles Licht gestellt. Daß man ihm zürnte, wollte er sich gern gefallen lassen; aber er hätte wenigstens gewünscht, daß man ihm die Ehre antue, ihn zu verstehen, und man ihm wegen seiner Kühnheiten zürne, nicht wegen der blöden Unflätigkeiten, die man ihm beilegte. »Schau!« fuhr er fort, »ich glaube, daß es noch mehr Tölpel als Bösewichte gibt ... Es ist die Form, die sie so wütend wider mich macht, der geschriebene Satz, das Bild, das Lebendige des Stils. Ja, das ganze Spießbürgertum platzt vor Haß gegen die Literatur.« Er schwieg in tiefer Traurigkeit. »Bah«, sagte Claude nach einer Weile, »du bist glücklich, denn du arbeitest und schaffst.« »Oh ja, ich arbeite, ich fördere meine[[Besitz]] Bücher bis zur letzten Seite. Aber wenn du wüßtest! wenn ich dir erzählte, in welcher Trostlosigkeit, unter welchen Qualen ich arbeite! Die Tölpel zeihen mich jetzt gar des Stolzes, mich, den die Unvollkommenheit meines Werkes bis in den Schlaf verfolgt; mich, der ich niemals die am vorhergehenden Tage geschriebenen Seiten überlese aus Furcht, daß ich sie abscheulich finde, unwert der Fortsetzung. Ich arbeite; gewiß, ich arbeite. Ich arbeite, gleichwie ich lebe, weil ich dazu geboren bin; aber ich bin deshalb nicht froher; ich kann mich nie zufriedenstellen, und am Schlusse droht immer der große Sturz.« Eine laute Stimme unterbrach ihn, und Jory erschien, des Lebens sich freuend und erzählend, daß er soeben einen alten Artikel umgearbeitet habe, um seinen Abend frei zu haben. {{Gagnière}} und {{Mahou¬deau}}, die sich vor dem Haustor getroffen, folgten alsbald plaudernd nach. Der erstere hatte sich seit einigen Monaten in eine neue Farben-Erklärung versenkt und erklärte dem andern den Vorgang. »Ich setze meinen[[Besitz]] Ton hin«, fuhr er fort. »Das Rot der Fahne verblaßt und vergilbt, weil es sich von dem Blau des Himmels abhebt, dessen ergänzende Farbe – Orange – sich mit dem Rot zusammentut.« Claude, den die Sache interessierte, befragte ihn darüber, als die Magd ein Telegramm brachte. »Dubuche entschuldigt sich«, sagte Sandoz; »er will uns gegen elf Uhr überraschen.« In diesem Augenblicke öffnete Henriette die Tür angelweit und kündigte das Essen an. Sie[[1]] hatte nicht mehr ihre Küchenschürze vor und drückte fröhlich als Frau des Hauses die ihr entgegengestreckten Hände. Zu Tische! es sei halb acht Uhr, die Bouillabaisse könne nicht warten. Als Jory bemerkte, {{Fage¬rolles}} habe ihm versichert, daß er komme, wollte man nichts hören; {{Fage¬rolles}} wurde lächerlich in seiner Rolle eines jungen Meisters, der mit Arbeiten überhäuft ist. Das Speisezimmer war so klein, daß man, um das Piano unterzubringen, eine Art Alkoven in eine dunkle Kammer durchbrechen mußte, die bisher für das Geschirr gedient hatte. An großen Empfangstagen fanden immerhin zehn Personen Platz rings um den runden Tisch im Lichte der weißen Porzellanlampe; dann mußte man aber den Speiseschrank verstellen, so daß die Magd nicht einen Teller vom Bort holen konnte. Übrigens bediente die Hausfrau selbst bei Tische, der Hausherr saß ihr gegenüber hart an dem blockierten Büfett, um ihr von da alles, was sie brauchte, hinüberzureichen. Henriette hatte Claude zu ihrer Rechten, {{Mahou¬deau}} zu ihrer Linken sitzen, während Jory und {{Gagnière}} zu beiden Seiten Sandoz' saßen. »Franziska!« rief die Hausfrau; »geben Sie[[1]] mir die gerösteten Brotschnitten, sie stehen auf dem Ofen.« Als die Magd die gerösteten Brotschnitten gebracht hatte, tat sie je zwei davon auf jeden Teller und begann dann die Suppe der Bouillabaisse darüber zu schütten. Da ging die Tür auf. »{{Fage¬rolles}}, endlich!« rief sie. »Setzen Sie[[1]] sich hierher, zu Claude.« Er entschuldigte sich sehr höflich und führte eine geschäftliche Zusammenkunft an. Er trug sich jetzt sehr elegant; in seinen Kleidern von englischem Schnitt hatte er das Aussehen eines Klubmenschen mit einem Stich in das Künstlerisch-Zwanglose. Als er Platz genommen hatte, schüttelte er seinem Nachbarn sogleich die Hand und bekundete eine lebhafte Freude. »Mein lieber Claude! Schon seit langem wollte ich dich besuchen. Jawohl; zwanzigmal schon hatte ich es vor, zu dir zu gehen; aber ... du weißt ja ... das Leben ...« Claude, der sich angesichts dieser Beteuerungen sehr unbehaglich fühlte, bemühte sich mit ähnlicher Herzlichkeit zu antworten. Doch Henriette, die fortfuhr, ihre Gäste zu bedienen, rettete ihn, indem sie ungeduldig ausrief: »{{Fage¬rolles}}, reden Sie[[1]]; wollen Sie[[1]] zwei geröstete Brotschnitten?« »Gewiß, Gnädige, zwei Brotschnitten. Ich esse die Bouillabaisse für mein Leben gern; und Sie[[1]] bereiten sie wunderbar, Gnädige!« Alle waren in der Tat entzückt von diesem Gericht, hauptsächlich aber Jory und {{Mahou¬deau}}, die erklärten, daß sie es in Marsaille {{[Marsaille]}} niemals besser gegessen hätten, so daß die junge Frau, entzückt, noch rosigrot von der Hitze des Feuerherdes, mit dem großen Löffel in der Hand vollauf zu tun hatte, die Teller zu füllen, die ihr immer wieder hingehalten wurden. Sie[[1]] verließ sogar den Sessel und lief in die Küche, um den Rest der Suppe zu holen, denn die Magd verlor den Kopf. »Aber iß doch!« rief Sandoz ihr zu. »Wir warten, bis du gegessen hast.« Doch sie gab nicht nach, sondern blieb bei ihren Hausfrauenpflichten. »Laß nur«, antwortete sie. »Gib lieber das Brot her; dort hinter dir auf dem Büfett. Jory zieht die weiche Krume vor.« Jetzt erhob sich auch Sandoz und half mit die Gäste bedienen, während man über Jory scherzte und die Pasteten, die er liebte. &&x Durchdrungen von dieser anheimelnden Heiterkeit, wie aus einem Schlafe erwacht, betrachtete Claude sie alle und fragte sich, ob er sie gestern verlassen habe, oder ob wirklich vier Jahre verflossen seien, seitdem er eines Donnerstags zuletzt hier gegessen. Dennoch waren sie andere geworden; er fühlte, daß sie sich verändert hatten, {{Mahou¬deau}} hatte die Not verbittert, Jory war in sein Genußleben versunken, {{Gagnière}} mit seinen Gedanken in weiter Ferne; und besonders schien es ihm, als verbreite der neben ihm sitzende {{Fage¬rolles}} – trotz seiner übertriebenen Herzlichkeit – Kälte um sich. Ohne Zweifel waren ihre Gesichter, durch das Leben abgenützt, etwas älter geworden. Aber nicht das war es; es schien eine Kluft zwischen ihnen sich aufgetan zu haben; er sah sie einander entfremdet, obgleich sie Seite an Seite eng zusammen rings um diesen Tisch saßen. Auch war die Umgebung neu: heute brachte eine Frau ihren Reiz in die Gesellschaft, mäßigte, beruhigte sie durch ihre Anwesenheit. Warum hatte er denn angesichts des verhängnisvollen Laufes der Dinge, die vergehen und wiedererstehen, dieses Gefühl des Neubeginns? warum hätte er bestimmt versichert, er habe die vorige Woche an diesem Platze gesessen? Er glaubte endlich zu begreifen: Sandoz hatte sich nicht verändert, sondern an den Gewohnheiten des Herzens wie an den Gewohnheiten der Arbeit festgehalten, strahlend vor Freude, daß er sie an der Tafel seines jungen Hauswesens empfangen konnte, wie er ehemals erfreut gewesen, sein mageres Junggesellen-Essen mit ihnen zu teilen. Ein Traum von ewiger Freundschaft machte ihn veränderlich; in diesem Traume folgte Donnerstag auf Donnerstag, bis in die entferntesten Tage des Greisenalters. Alle ewig beisammen! alle zur nämlichen Stunde aufgebrochen und im nämlichen Siege ans Ziel gelangt!« Sandoz schien den Gedanken zu erraten, der Claude stumm machte; er sagte ihm über den Tisch hinüber mit seinem gutmütigen Lächeln der Jugend: »Da bist du wieder, lieber Alter! Alle Wetter! Du hast uns sehr gefehlt! ... Aber wie du siehst, hat sich nichts geändert, wir sind alle die nämlichen; nicht wahr, ihr Freunde?« Sie[[1]] nickten zustimmend mit den Köpfen. Ohne Zweifel, ohne Zweifel! »Nur die Küche ist besser als in der Höllenstraße«, setzte er froh hinzu, »Ich hatte euch dort schauderhafte Sachen vorgesetzt!« Nach der Bouillabaisse kam ein gebeizter Hasenrücken; ein Geflügelbraten mit Salat machte den Schluß des Essens. Aber man blieb noch lange sitzen; man verweilte beim Nachtisch, obgleich die Unterhaltung nicht so stürmisch war wie ehemals. Jeder sprach von sich selbst und schwieg schließlich, als er sah, daß ihm niemand zuhörte. Erst beim Käse und als man einen etwas säuerlichen Burgunder gekostet, von dem das junge Ehepaar auf Kosten der Urheberrechte nach dem ersten Roman des Gatten ein Fäßchen hatte kommen lassen, wurden die Stimmen lauter und lebhafter. »Also du hast mit {{Naudet}} einen Vertrag geschlossen?« fragte {{Mahou¬deau}}, dessen knochiges Hungerleider-Gesicht noch hohler geworden. »Ist es wahr, daß er dir für das erste Jahr fünfzigtausend Franken zugesichert hat?« {{Fage¬rolles}} antwortete leichthin: »Ja, fünfzigtausend ... Aber es ist noch nichts abgeschlossen, ich überlege die Sache noch; es ist doch unbequem, sich so zu binden. Ich will mich nicht festrennen.« »Ei, ei, du bist aber schwierig«, murmelte der Bildhauer. »Für täglich zwanzig Franken unterschreibe ich alles, was man will.« Alle hörten jetzt {{Fage¬rolles}} zu, der den durch seine wachsenden Erfolge eitel gemachten Mann spielte. Er hatte noch immer sein hübsches, keckes Dirnengesicht; aber eine gewisse Anordnung der Haare und der Zuschnitt des Bartes verliehen ihm einen gewissen Ernst. Obgleich er noch zuweilen zu Sandoz kam, trennte er sich doch von der Schar, trieb sich auf den Promenaden, in den Kaffeehäusern, in den Zeitungsredaktionen herum, an allen öffentlichen Orten, wo er nützliche Bekanntschaften machen konnte. Dies war ein Vorgehen, ein Wille, seinen Triumph gesondert zu suchen, der schlaue Gedanke, daß er, um Erfolg zu haben, nichts mehr mit diesen Revolutionären gemein haben dürfe: keinen Händler, keine Beziehungen, keine Gewohnheiten. Man sagte sogar, daß er die Frauen einiger Salons dem Aufbau seines Glückes dienstbar mache; nicht als brutaler Sinnenmensch wie Jory, sondern als Lasterhafter, der seine Leidenschaften beherrscht und sich darauf beschränkt, einigen alternden Baroninnen schön zu tun. Jory kündigte eben einen Artikel an zu dem einzigen Zwecke, sich eine Bedeutung beizulegen; denn er gefiel sich in der Behauptung, {{Fage¬rolles}} gemacht zu haben, wie er ehemals Claude gemacht. »Hast[[Besitz]] du {{Verniers}} Studie über dich gelesen? Das ist wieder einer, der mich abschreibt!« »Er bekommt Artikel!« seufzte {{Mahou¬deau}}. {{Fage¬rolles}} machte eine Handbewegung, die Gleichgültigkeit ausdrücken sollte, aber er lächelte mit der geheimen Verachtung gegen die ungeschickten armen Teufel, die hartnäckig in ihrer albernen Abgeschlossenheit verharren, während es so leicht ist, die Menge zu erobern. Ihm genügte es, mit ihnen abzubrechen, nachdem er sie ausgeplündert. All der Haß, den man gegen sie hegte, kam ihm zugute; seine gemilderten Bilder überhäufte man mit Lobsprüchen, während die hartnäckig ungestümen Werke der anderen in den Schmutz gezerrt wurden. »Hast[[Besitz]] du den Artikel {{Verniers}} gelesen?« wiederholte Jory zu {{Gagnière}}. »Ist's nicht wahr, daß er dasselbe sagt, was ich gesagt habe?« Seit einer Weile versenkte sich {{Gagnière}} in die Betrachtung seines Glases, das auf dem weißen Tafeltuche stand und vom Wein rot gefärbt wurde. Jetzt fuhr er auf. »Was? den Artikel {{Verniers}}?« »Ja; kurz, alle Artikel, die über {{Fage¬rolles}} erscheinen.« Verblüfft wandte er sich zu diesem. »Man schreibt Artikel über dich. Ich weiß nichts davon, ich habe sie nicht gesehen ... Man schreibt Artikel über dich! Warum denn?« Ein tolles Gelächter brach los; nur {{Fage¬rolles}} grinste verdrossen, weil er an einen boshaften Scherz glaubte. Allein {{Gagnière}} befand sich vollständig in gutem Glauben: er war erstaunt, daß ein Maler Erfolg haben konnte, der selbst das Gesetz der Werte nicht beobachtete. Einen Erfolg für diesen Schwindler? Niemals! Was soll dann aus dem Gewissen werden? &&x In dieser geräuschvoll heiteren Stimmung ging die Mahlzeit zu Ende. Man aß nicht mehr, nur die Frau des Hauses wollte noch einmal die Teller füllen. »Liebling, gib doch acht«, wiederholte sie ihrem Manne, den die lebhafte Unterhaltung sehr angeregt hatte. »Der Zwieback steht auf dem Büfett, du darfst nur die Hand darnach ausstrecken.« Doch sie wehrten ab, und man erhob sich. Da man den Abend beim Tee[[2]] zubringen sollte, verweilten die Herren, an die Wände gelehnt, im Geplauder, während die Magd den Tisch abräumte. Das Ehepaar half ihr dabei; Henriette tat die Salzfässer in ein Schubfach, Sandoz half das Tafeltuch zusammenfalten. »Die Herren können rauchen«, sagte die Hausfrau; »Sie[[1]] wissen, daß es mich nicht im mindesten belästigt.« {{Fage¬rolles}} hatte Claude in eine Fensternische gezogen und bot ihm eine Zigarre an, die dieser ablehnte. »Richtig, du rauchst nicht? Höre: ich will mir demnächst ansehen, was du mitgebracht hast. Sicherlich sehr interessante Sachen. Du weißt, was ich von deinem Talent halte. Du bist der Tüchtigste ...« Er zeigte sich sehr unterwürfig, war im Grunde aufrichtig, äußerte sich mit der Bewunderung von ehemals, für immer gezeichnet mit dem Stempel des Genies eines andern, den er anerkannte trotz seiner berechnenden Schlauheit. Doch seine Demut ward noch drückender durch eine bei ihm allerdings seltene Verlegenheit, durch die Verwirrung, in die ihn das Schweigen versetzte, das der Meister seiner Jugend über sein Gemälde beobachtete. So entschloß er sich denn und fragte mit zitternden Lippen: »Hast[[Besitz]] du meine[[Besitz]] Schauspielerin im Salon gesehen? Liebst du diese Art? Sprich offen!« Claude zögerte einen Augenblick, dann sagte er als guter Kamerad: »Ja, es sind sehr hübsche Sachen daran.« {{Fage¬rolles}} blutete schon innerlich, weil er diese dumme Frage gestellt hatte; jetzt verlor er vollends seine Fassung, entschuldigte sich, trachtete seine Anleihen als harmlos hinzustellen und seinen Pakt mit der alten Schule zu verteidigen. Als er endlich mit vieler Mühe und verzweifelt wegen seiner Ungeschicklichkeit sich herumgewunden hatte, ward er einen Augenblick wieder der Spaßmacher von ehemals, unterhielt sie alle, brachte selbst Claude zum Lachen, daß ihm die Tränen über die Wangen liefen. Dann reichte er Henriette die Hand zum Abschiede. »Wie? Sie[[1]] verlassen uns so schnell?« »Leider ja, teure Frau. Mein Vater hat heute Abend einen Amtsvorsteher zu Gaste, den er bearbeitet, um eine Auszeichnung zu erhalten ... Da ich einer seiner Rechtstitel bin, habe ich ihm versprechen müssen, nach Hause zu kommen.« Als er fort war, verschwand Henriette, nachdem sie mit Sandoz einige leise Worte gewechselt hatte; man hörte das leise Geräusch ihrer Schritte im oberen Stockwerk. Seitdem Sandoz geheiratet, pflegte sie die alte kranke Mutter und entfernte sich im Laufe des Abends wiederholt, wie ehemals es der Sohn getan hatte. Übrigens hatte keiner der Gäste bemerkt, daß sie hinausgegangen. {{Mahou¬deau}} und {{Gagnière}} plauderten von {{Fage¬rolles}} und bekundeten eine dumpfe Erbitterung, ohne ihn jedoch geradehin anzugreifen. Es waren nur spöttische Blicke von einem zum andern, Achselzucken, die ganze stumme Verachtung junger Leute, die einen Kameraden nicht totmachen wollen. Sie[[1]] wandten sich jetzt zu Claude; sie lagen vor ihm im Staube und erdrückten ihn schier mit den Hoffnungen, die sie in ihn setzten. Es war Zeit, daß er zurückkehrte; er allein mit den Gaben eines großen Meisters, seiner kräftigen Faust konnte der Meister, der anerkannte Führer sein. Seit dem Salon der Zurückgewiesenen hatte die Schule des Freilichts an Ausbreitung gewonnen, ihr wachsender Einfluß war wahrzunehmen. Leider zersplitterten sich die Anstrengungen, die neuen Anhänger begnügten sich mit Skizzen, mit oberflächlich hingeworfenen Eindrücken. Man harrte noch des erforderlichen Geistes, der die Formel in Meisterwerken verkörpern werde. Welch ein wichtiger Platz war da auszufüllen! Die große Menge erobern, ein neues Jahrhundert erschließen, eine neue Kunst schaffen! Claude hörte sie bleich mit gesenkten Blicken an. Ja, das war allerdings sein uneingestandener Traum, der Ehrgeiz, den er sich selbst nicht zu beichten wagte. Allein in die Freude über diese Schmeichelei mengte sich eine seltsame Angst, eine Furcht vor dieser Zukunft, wenn er hörte, wie sie ihn zu dieser Rolle eines Diktators erhoben, als ob er schon triumphiert habe. »Laßt gut sein!« rief er endlich, »es gibt andere, die ebensoviel wert sind; ich habe mich selbst noch nicht gefunden.« Jory war gereizt und rauchte still seine Zigarre. Doch als er die beiden anderen bei der Sache beharren sah, rief er plötzlich: »Kinder, alles redet ihr nur deshalb, weil euch der Erfolg {{Fage¬rolles}}' ärgert.« Sie[[1]] protestierten laut und heftig. {{Fage¬rolles}}! der junge Meister! ein guter Spaß! »Du läßt uns laufen, das wissen wir,« sagte {{Mahou¬deau}}. »Wir brauchen nicht fürchten, daß du über uns zwei Zeilen schreibst.« »Mein Gott! was ich über euch schreibe, wird mir gestrichen!« antwortete Jory verdrossen. »Man verabscheut euch überall. Wenn ich mein eigenes Blatt hätte!« Jetzt erschien Henriette wieder; als Sandoz' Augen die ihren suchten, antwortete sie ihm mit einem Blick, mit jenem zarten, verstohlenen Lächeln, das er selbst auch ehemals immer zeigte, wenn er aus dem Zimmer seiner Mutter kam. Dann rief sie alle herbei, sie setzten sich wieder rings um den Tisch, während die Hausfrau den Tee[[1]] bereitete und die Tassen füllte. Allein die Stimmung verschlechterte sich, ein Gefühl der Ermüdung hatte die Gesellschaft ergriffen. Vergebens ließ man Bertrand, den großen Hund, ins Zimmer, der für Zuckerstückchen sich erniedrigte und sich dann vor dem Ofen ausstreckte und schnarchte wie ein Mensch. Seit dem Gespräch über {{Fage¬rolles}} ward es von Zeit zu Zeit still in dem Gemach, und in dem Rauch der Pfeifen schien eine gewisse Langweile und Gereiztheit sich zu verdichten. {{Gagnière}} verließ sogar den Tisch, um sich an das Piano zu setzen, wo er einige Takte Wagnerscher Musik verstümmelte mit den steifen Fingern eines Musikliebhabers, der mit dreißig Jahren seine ersten Tonleitern versucht. Gegen elf Uhr kam endlich Dubuche, und dies genügte, die Stimmung auf den Gefrierpunkt sinken zu lassen. Er war von einem Ball geflüchtet, um seinen alten Genossen gegenüber das zu erfüllen, was er für eine letzte Pflicht ansah; sein Frack, seine weiße Halsbinde, sein dickes, bleiches Gesicht drückten zugleich seine Verdrossenheit über sein Kommen aus, die Bedeutung, die er diesem Opfer beilegte, die Angst, die er hatte, sein neues Glück aufs Spiel zu setzen. Er vermied, von seiner Frau zu sprechen, um sie nicht zu Sandoz führen zu müssen. Als er Claude die Hand gedrückt hatte, – mit einer Ruhe, als habe er ihn gestern zuletzt gesehen – lehnte er die ihm angebotene Tasse Tee[[1]] ab und sprach langsam mit aufgeblasenen Backen von den Mühseligkeiten seiner Einrichtung in einem neuen Hause, das noch nicht recht trocken sei; von der Arbeit, die ihn erdrücke, seitdem er sich mit den Bauten seines Schwiegervaters beschäftige, einer ganzen neuen Straße, die in der Nähe des {{Monceau}}-Parkes aufgeführt werde. &&x Claude fühlte ganz klar, daß ein Riß sich vollzog. Hatte das Leben wirklich schon die Abende von ehemals hinweggefegt, die so ungestüm und doch so brüderlich waren, als noch nichts sie trennte, kein einziger von ihnen seinen Anteil am Ruhm für sich allein behalten wollte? Heute begann der Kampf, jeder Hungrige biß zu. Ein kaum sichtbarer Riß war da, der die alten Freundschaften trennte und eines Tages in tausend Scherben sprengen mußte. Sandoz aber in seinem Ewigkeitsbedürfnisse merkte nichts; er sah sie wie in der Höllenstraße Arm in Arm zu ihrem Eroberungszug aufbrechen. Warum sollte man ändern, was gut war? Lag nicht das Glück in einer Freude, die man unter allen gewählt hat und dann ewig genießt? Als – eine Stunde später – die Kameraden sich entschlossen zu gehen, weil der trostlose Eigennutz Dubuches, der endlos von seinen Geschäften sprach, sie einzuschläfern drohte, und als man den hypnotisierten {{Gagnière}} vom Piano weggezerrt hatte, bestand Sandoz darauf, mit seiner Frau trotz der kalten Nacht die Kameraden bis zum Gitter am Ende des Gartens zu begleiten. Er teilte Händedrücke aus und rief: »Auf nächsten Donnerstag, Claude! ... Auf nächsten Donnerstag ihr alle! ... Kommt alle, ja?« »Auf nächsten Donnerstag!« wiederholte Henriette, welche die Lampe genommen hatte und sie jetzt in die Höhe hielt, um die Treppe zu beleuchten. Inmitten des Gelächters aller antworteten {{Gagnière}} und {{Mahou¬deau}} scherzend: »Lebe wohl, junger Meister! ... Gute Nacht, junger Meister! ...« Draußen in der {{Nollet}}-Straße rief Dubuche sogleich eine Droschke, die ihn hinwegführte. Die anderen vier gingen zusammen bis zur äußeren Promenade, ohne ein Wort zu wechseln, gleichsam verwundert darüber, daß sie so lange beisammen waren. Als auf der Promenade eine Dirne vorüberkam, rannte Jory ihr nach, indem er vorgab, er habe bei seiner Zeitung Korrekturen zu lesen. Als {{Gagnière}} vor dem noch beleuchteten Café {{Baudequin}} Claude zurückhielt, weigerte sich {{Mahou¬deau}} einzutreten und ging unter trübseligen Gedanken allein heim nach der Mittags-Straße. Claude saß jetzt – ohne daß er es gewollt – an dem alten Stammtische dem schweigsamen {{Gagnière}} gegenüber. Das Kaffeehaus hatte sich nicht geändert; man versammelte sich daselbst noch immer am Sonntag; seitdem Sandoz in diesem Stadtviertel wohnte, beeilte man sich sogar, dahin zu kommen; allein die Schar verschwand in einer Flut neuer Gäste, man ging allmählich in der steigenden Alltäglichkeit der Jünger des Freilichts unter. Zu dieser späten Nachtstunde leerte sich übrigens das Kaffeehaus; drei junge Maler, die Claude nicht kannte, kamen herbei, um ihm die Hand zu drücken, ehe sie heimgingen; jetzt war außer ihnen niemand mehr da als ein Rentier[[2]] aus der Nachbarschaft, der vor seinem Schälchen schlummerte. {{Gagnière}} fühlte sich sehr behaglich wie zuhause, unbekümmert um den einzigen Kellner, der in dem leeren Saal die müden Glieder reckte. Mit träumerischen Augen schaute er Claude an, ohne ihn zu sehen. Beiläufig fragte dieser: »Was hast du denn heute abend {{Mahou¬deau}} erklärt? Ja, das Rot der Fahne vergilbt im Blau des Himmels. Du erforschest die Regeln der ergänzenden Farben, wie?« Doch {{Gagnière}} antwortete ihm nicht. Er griff nach seinem Bierglase, stellte es wieder hin, ohne getrunken zu haben und murmelte schließlich mit einem Lächeln der Verzückung: »Haydn, das ist die Anmut des Rhetorikers, die zarte, zitternde Musik der gepuderten, alten Urgroßmutter ... Mozart ist der geniale Vorläufer, der erste, der dem Orchester eine behendere Stimme verliehen hat ... Und diese beiden existieren hauptsächlich deshalb, weil sie Beethoven geschaffen haben ... Beethoven, die Macht, die Kraft in dem stillen Schmerze, Michel Angelo an der Gruft der Medici! Ein heroischer Logiker, ein Gehirnkneter, denn die Großen von heute sind alle von der Choral-Symphonie ausgegangen!« Des Wartens müde begann der Kellner mit träger Hand die Gashähne abzudrehen. Schleppenden Ganges schritt er durch den trübseligen, öden, durch Speichellachen und Zigarrenstümpfe verunreinigten Saal, wo die schmutzigen Tische mit den Resten der verschiedenen Getränke ein ekliges Gemisch von Gerüchen verbreiteten. Auf der Promenade draußen war es still; nur das Rülpsen eines spät heimkehrenden Trunkenboldes war zu hören. {{Gagnières}} Gedanken schweiften noch immer in den Fernen, und er spann seine wirren Träume fort. »Weber schreitet durch eine romantische Landschaft und führt den Totenreigen zwischen trauernden Weiden und krummästigen Eichen. Schubert folgt ihm im bleichen Mondenschein die silberschimmernden Seen entlang ... Und da ist Rossini, die verkörperte Vornehmheit, so lebensfroh, so natürlich; unbekümmert um den Ausdruck macht er sich über die Welt lustig. Er ist nicht mein Mann, nein; aber doch so erstaunlich durch den Reichtum seiner Erfindung, durch die riesigen Wirkungen, die er mit der Anhäufung der Stimmen und der immer kräftigeren Wiederholung desselben Themas erzielt. Diese drei haben Meyerbeer {{[Meyerbeer]}} hervorgebracht, einen Schlaukopf, der aus allem Nutzen gezogen, nach Weber die Symphonie in die Oper verpflanzt, der unbewußten Formel Rossinis den dramatischen Ausdruck verliehen hat. Ein mächtiger Atem! der feudale Pomp, der militärische Mystizismus, das Leben der phantastischen Legenden, ein Schrei der Leidenschaft, der durch die Geschichte geht! Und Einfälle! Die Verkörperung der Instrumente, das dramatische Rezitativ symphonisch begleitet vom Orchester, die bestimmende Melodie, auf der das ganze Werk sich aufbaut. Ein großer Mann! ein sehr großer Mann!« »Mein Herr, ich schließe«, meldete der Kellner. Da {{Gagnière}} nicht einmal den Kopf umwandte, weckte er den kleinen Rentier[[2]], der noch immer vor seinem Schälchen schlief. »Mein Herr, ich schließe.« Der verspätete Gast erhob sich fröstelnd, tastete in dem dunkeln Winkel, wo er sich befand, nach seinem Stocke herum und ging fort – nachdem der Kellner jenen unter dem Sessel aufgelesen hatte. »Berlioz {{[Berlioz]}} hat die Literatur in seine Sache einbezogen. Er ist der musikalische Illustrator von Shakespeare, Virgil {{[Virgil]}} und Goethe! Aber welch ein Maler! der {{Dela¬croix}} der Musik, in blitzenden Farbengegensätzen lodern seine Klänge auf. Dabei der romantische Riß am Schädel, eine Frömmigkeit, die ihn fortreißt, Verzückungen, die über alle Gipfel gehen. Schlecht in der Mache der Oper, wunderbar im einzelnen Stück, vom Orchester, das er martert, oft zuviel fordernd, die Verkörperung der Instrumente zum Äußersten treibend, so daß für ihn jedes Instrument eine Person darstellt. Ach, was er von den Klarinetten gesagt, hat mich stets zusammenschauern lassen: »Die Klarinetten sind die geliebten Frauen!« Und Chopin! dieser Dandy in seinem Byronismus, der nebelhaft schwebende Dichter der Nervenkranken! ... Und Mendelssohn, dieser unfehlbare Künstler der feinen Arbeit, dieser Shakespeare in ballmäßigen Schnallenschuhen und Kniestrümpfen, dessen Romanzen ohne Worte wahre Schmuckstücke sind für die verständigen Damen! ... Und dann, und dann muß man niederknien vor ...« &&x Es brannte nur mehr eine Gasflamme über seinem Haupte, und der Kellner hinter seinem Rücken wartete in der finstern und eisigen Leere des Saales. {{Gagnières}} Stimme hatte ein andächtiges Zittern angenommen; er näherte sich dem Gegenstande seiner frommen Verehrung, dem fernen Allerheiligsten. »Ach, Schumann! die Verzweiflung, der Genuß in der Verzweiflung! Ja, das Ende von allem, der letzte Gesang von trauriger Reinheit, über den Ruinen der Welt schwebend! ... Ach, Wagner! der Gott, in dem sich Jahrhunderte von Musik verkörpern! Sein Werk ist die ungeheure Arche, alle Künste in einer einzigen; und welches Vernichten des Herkömmlichen, der albernen Formeln! welche revolutionäre Befreiung in der Unendlichkeit! ... Die Einleitung zum &&c=8 Tannhäuser, &&c=0 welch ein erhabenes Hallelujah des neuen Jahrhunderts: vor allem der Pilgerchor, das fromme, ruhige, tiefe Motiv mit den langsamen Zuckungen; dann die Stimmen der Sirenen, die den Chor allmählich übertönen, die Lüste der Venus, voll sinnberückender Wonnen und süßer, einschläfernder Erschlaffung, immer lauter, immer wilder und gebieterischer; und alsbald das fromme Thema, das stufenweise wiederkehrt, wie ein Hauch aus der Ferne, sich aller Gesänge bemächtigt und in eine einzige, höchste Harmonie verschmilzt, um sie auf den Fittichen einer siegreichen Hymne emporzutragen!« »Mein Herr, ich schließe«, wiederholte der Kellner. Claude, der ihm nicht mehr zuhörte und gleichfalls in seine Gedanken versunken war, trank sein Bier aus und sagte sehr laut: »Bester, man schließt!« Da fuhr {{Gagnière}} erschauernd auf. Sein verklärtes Gesicht zog sich schmerzlich zusammen, und er fröstelte, als falle er aus einem Gestirn hernieder. Gierig trank er sein Bier; auf dem Fußwege draußen drückte er dem Gefährten still die Hand und verschwand im Dunkel der Nacht. Es war fast zwei Uhr, als Claude heimkam. Seit einer Woche durchstreifte er so Paris, jeden Abend die fieberhaften Aufregungen des Tages mitbringend, aber noch niemals war er so spät und mit so glühendem Kopfe nach Hause gekommen. Von der Müdigkeit überwältigt schlief Christine unter der erloschenen Lampe, die Stirn auf den Tischrand gestützt. &&x &&ns &&am &&g="Achtes_Kapitel." &&fa Achtes Kapitel. &&fe &&ax &&lg=x Endlich war Christine zum letztenmal mit dem Staubwedel über die Möbel gefahren, und die Einrichtung war beendet. Neben dem Atelier in der {{Douai}}-Straße, das klein und unbequem war, hatten sie nur noch ein schmales Zimmer und eine Küche, kaum größer als ein Kleiderschrank. Man mußte im Atelier essen; das Ehepaar lebte da fortwährend mit dem Kinde vor den Füßen. Christine hatte ihre liebe Not, mit ihren wenigen Möbelstücken auszukommen, denn sie wollte die Ausgabe vermeiden. Indes mußte sie bei einer guten Gelegenheit doch ein altes Bett ankaufen und gestattete sich sogar den Luxus von weißen Vorhängen zu sieben {{Sous}} den Meter. Fortan fand sie das Nest reizend; sie erhielt es in einer spießbürgerlichen Sauberkeit, war entschlossen, alles allein zu machen und keine Magd zu nehmen, um ihr Leben, das schwierig zu werden verhieß, nicht zu sehr belasten. Claude durchlebte die ersten Monate in einer wachsenden Erregung. Die Wanderungen durch die geräuschvollen Straßen, die Besuche bei den Kameraden, noch erregt durch ihre Gespräche, alle die heißen Gedanken, die er so von außen mitbrachte: sie bewirkten, daß er sich in lauten, leidenschaftlichen Ausbrüchen erging, die ihn bis in den Schlaf verfolgten. Paris hatte ihn wieder gewaltig gepackt bis in das innerste Mark, und in der glühenden Hitze dieses Ofens erstand für ihn eine zweite Jugend, eine Begeisterung und ein Ehrgeiz, alles zu sehen, alles zu machen, alles zu erobern. Niemals hatte er eine solche Arbeitswut, noch eine solche Hoffnung gefühlt; es war, als brauche er nur die Hand ausstrecken, um die Meisterwerke zu schaffen, die ihn in die vorderste Reihe stellen würden. Wenn er Paris durchzog, entdeckte er überall Gemälde; die ganze Stadt mit ihren Straßen, ihren Plätzen, Brücken und lebendigen Horizonten entrollte sich vor ihm in riesigen Gemälden, die er – von dem Rausche ungeheurer Werke ergriffen – noch immer zu klein fand. Er kam vor Aufregung zitternd heim, im Schädel wirbelten Entwürfe; und des Abends warf er bei Lampenlicht Skizzen auf Papierstreifen und wußte sich nicht zu entscheiden, wo er die Reihe großer Bilder, von denen er träumte, beginnen sollte. Ein ernstliches Hindernis war für ihn die räumliche Beschränktheit seines Ateliers. Hätte er doch nur den alten Dachboden vom Bourbonufer oder den geräumigen Speisesaal von {{Benne¬court}} gehabt! Aber was sollte er in diesem langen und schmalen Raum anfangen, der mehr einem Korridor glich, und den der Eigentümer, nachdem er ihn mit einem Glasdach hatte versehen lassen, an Maler für vierhundert Franken zu vermieten unverschämt genug war. Das Schlimmste war, daß dieses nach Norden gekehrte und zwischen zwei hohen Mauern eingeklemmte Glasdach nur ein grünliches Kellerlicht durchließ. Er mußte also die Verwirklichung seiner ehrgeizigen Pläne auf eine spätere Zeit verschieben und entschloß sich, vorerst einige mittelgroße Bilder in Angriff zu nehmen, indem er sich sagte, daß der Umfang der Werke nicht das Genie ausmacht. Der Augenblick schien ihm sehr günstig für den Erfolg eines tüchtigen Künstlers, der endlich einen Ton der Ursprünglichkeit und der Offenheit mitbringt, während die alten Schulen zusammenbrechen. Die Formeln von gestern waren schon erschüttert; {{Dela¬croix}} war tot, ohne Jünger zu hinterlassen, {{Cour¬bet}} hatte kaum einige ungeschickte Nachahmer hinter sich, ihre Hauptwerke konnten nichts werden als vom Alter geschwärzte Museum-Stücke, einfache Zeugnisse der Kunst eines Zeitabschnittes, und es schien leicht, die neue Formel vorauszusehen, die aus den ihren sich entwickeln werde, dieses Hervorbrechen der vollen Sonne, dieser klare Morgen, der unter dem beginnenden Einflüsse der Freilicht-Schule in den neuen Gemälden anbrach. Es war nicht hinwegzuleugnen: jene ›blonden‹ Werke, über die man im Salon der Zurückgewiesenen so viel gelacht hatte, wirkten im geheimen auf gar viele Maler und erhellten allmählich alle Paletten. Niemand gab es noch zu, aber der Anstoß war gegeben, eine Umwälzung trat zutage, die mit jeder Ausstellung sich mehr und mehr bemerkbar machte. Welcher Schlag, wenn inmitten dieser unbewußten Kopien der Unvermögenden, dieser furchtsamen und schlauen Versuche der Geschickten ein Meister hervortreten würde, der mit der Kühnheit der Kraft ohne jede Schonung die Formel verwirklichte, wie man sie hinstellen mußte, fest und ganz, damit sie die Wahrheit dieser Jahrhundertneige sei. In dieser ersten Stunde der Leidenschaft und der Hoffnung glaubte Claude – sonst durch den Zweifel so sehr gequält – an sein Genie. Er hatte nicht mehr jene Anfälle, deren Beklemmung ihn tagelang auf dem Straßenpflaster herumtrieb auf der Suche nach seinem verlorenen Mute. Ein Fieber hielt ihn aufrecht; er arbeitete mit dem blinden Eigensinn eines Künstlers, der sich ins Fleisch schneidet, um daraus die Frucht hervorzuholen, die ihn quält. Die lange Ruhe auf dem Landleben hatte ihm eine seltsame Frische der Auffassung, eine helle Freude in der Ausführung verliehen; ihm war, als werde er in seiner Kunst wiedergeboren in einer Leichtigkeit und einem Gleichgewicht, die er niemals gehabt; dazu kam eine Gewißheit des Fortschritts, eine tiefe Befriedigung vor einzelnen gelungenen Stücken, die er nach den früheren unfruchtbaren Anstrengungen endlich schuf. Wie er in {{Benne¬court}} gesagt, hielt er endlich sein Freilicht fest, diese Malerei von einer geradezu singenden Heiterkeit der Töne, welche die Kameraden in Erstaunen versetzte, als sie ihn zurückkehren sahen. Alle bewunderten und waren überzeugt, daß er nur zu erscheinen brauche, um seinen Platz einzunehmen, einen sehr hohen Platz, mit Werken von einer durchaus persönlichen Kennzeichnung, in denen die Natur zum ersten Male in wirklichem Lichte badete, im Spiel der Reflexe und der fortwährenden Auflösung der Farben. &&x Drei Jahre lang kämpfte Claude unermüdlich, durch Mißerfolge angeeifert, nichts von seinen Gedanken aufgebend, mit der Kraft des Glaubens geradeaus fortschreitend. Im ersten Jahre brachte er während der Dezember-Schneefälle täglich vier Stunden auf den Hohen von Montmartre an der Ecke eines leeren Grundes zu; dort malte er einen Hintergrund des Elends, niedrige Hütten, überragt von Fabrikschloten; in den Vordergrund, mitten in den Schnee hinein, hatte er zwei zerlumpte Straßenkinder – ein Mädchen und einen Knaben – gestellt, die sich an gestohlenen Äpfeln gütlich taten. Sein Eigensinn, nach der Natur zu malen, erschwerte ihm furchtbar die Arbeit, bereitete ihm schier unübersteigliche Hindernisse. Dennoch beendete er diese Leinwand draußen und gestattete sich in seinem Atelier nur eine Nachsäuberung. In dem toten Lichte unter dem Glasdache überraschte ihn selbst das Bild durch seine Wildheit: es war wie eine offene Tür nach der Straße, der Schnee blendete ordentlich, und die beiden Figuren in ihrem schmutzigen Grau hoben sich mitleiderregend davon ab. Er fühlte sogleich, daß ein solches Bild nicht angenommen werde; aber er machte keinen Versuch, es zu mildern, und sandte es dennoch in die Ausstellung. Nachdem er geschworen hatte, nie wieder auszustellen, stellte er jetzt den Grundsatz auf, man müsse immerhin irgend etwas den Richtern vorlegen, nur um ihnen zu zeigen, daß sie im Unrecht seien; er erkannte übrigens die Nützlichkeit des Salons an als des einzigen Kampffeldes, wo ein Künstler mit einem Schlage sich selbst entdecken könne. Die Richter lehnten sein Bild ab. Das zweite Jahr suchte er ein Gegenstück. Er wählte einen Winkel aus den Anlagen von {{Batignolles}} im Mai: große Kastanienbäume, die ihren Schatten warfen, mehrere Rasenplätze, sechs Stock hohe Häuser im Hintergrunde, während im Vordergrunde auf einer grellgrün gestrichenen Bank Mägde und Bürger aus dem Stadtviertel saßen und drei kleinen Mädchen zuschauten, die im Sande Kuchenbacken spielten. Nachdem er die Erlaubnis erhalten, da zu arbeiten, bedurfte es für ihn nicht geringen Mutes, um inmitten der spottlustigen Menge sein Werk zu einem gedeihlichen Ende zu führen. Endlich hatte er sich dennoch entschlossen, um fünf Uhr morgens an Ort und Stelle zu erscheinen, um die Hintergründe zu malen; von den Figuren entwarf er nur Skizzen, um sie im Atelier auszuführen. Diesmal fand er sein Bild weniger abstoßend, die Arbeit hatte etwas von der Gedämpftheit des Lichtes, das durch das Glasdach hereinfiel. Er glaubte, das Bild werde angenommen; alle Freunde riefen, es sei ein Meisterwerk, und verbreiteten das Gerücht, es werde in der Ausstellung einen wahren Umsturz hervorrufen. Die Verblüffung und Entrüstung war denn auch allgemein, als sich die Nachricht verbreitete, daß die Richter auch dieses Bild abgelehnt hatten. Das Vorurteil war nicht mehr hinwegzuleugnen: es handelte sich um die systematische Erwürgung eines originellen Künstlers. Was Claude betrifft, so kehrte sich – nachdem die erste Aufregung vorüber – sein Zorn gegen sein Gemälde, das er als verlogen, unehrlich, abscheulich bezeichnete. Es sei eine wohlverdiente Lehre, die er sich merken werde; warum war er auch wieder in dieses Keller licht des Ateliers verfallen? sollte er zu der schmutzigen, spießbürgerlichen Küche zurückkehren, wo die geschniegelten Figürchen gemacht wurden. Als ihm sein Bild zurückgesandt wurde, nahm er ein Messer und zerschnitt es. Im dritten Jahre warf er sich mit aller Wut auf ein Werk, das einen Aufruhr hervorrufen sollte. Er wollte die volle Sonne haben, diese Pariser Sonne, die an manchen Tagen das Pflaster im blendenden Widerschein der Häuserreihen weißglühend macht; nirgends ist's heißer; selbst die Leute, die aus sonnverbrannten Ländern dahin kommen, wischen sich den Schweiß von der Stirne; es ist wie ein afrikanischer Boden unter dem drückenden Feuerregen aus einem lodernden Himmel. Der Gegenstand, den er behandelte, war ein Winkel des Karussel-Platzes um ein Uhr mittags, wenn die Sonne ihre Strahlen senkrecht herabsendet. Eine Droschke humpelte dahin; der Kutscher schlief auf dem Bocke, der Gaul war in Schweiß gebadet, ließ den Kopf hängen, verschwamm in der zitternden Hitze; die wenigen Fußgänger schienen betrunken, während eine junge Frau allein rosig und frisch unter ihrem Sonnenschirm mit den leichten Schritten einer Königin dahinwandelte, als lebe sie in dem Flammen-Element. Was hauptsächlich dieses Bild auffallend machte, war die neue Studie über das Licht, diese Auflösung, sehr genau beobachtet, im Widerspruche mit allen Gewohnheiten des Auges, Rot, Gelb, Blau dort betonend, wo niemand gewohnt war, solches zu sehen. Die {{Tuilerien}} im Hintergrunde verschwammen in einer Goldwolke; die Pflastersteine schienen zu bluten, die Passanten waren nur noch Andeutungen, dunkle Punkte, von der allzu lebhaften Helle verzehrt. Die Kameraden stießen wohl auch vor diesem Bilde Rufe der Bewunderung aus, aber es mengte sich eine Verlegenheit darein, sie waren alle von der nämlichen Unruhe ergriffen: eine solche Malerei mußte zum Martyrium führen. Er fühlte aus ihren Lobsprüchen sehr wohl den Riß heraus, der sich vollzog, und als die Richter ihm abermals den Salon verschlossen, rief er in einem Augenblicke des Hellsehens schmerzlich aus: »Es ist ausgemacht, ich werde daran zugrunde gehen!« Obgleich sein Mut und seine Ausdauer zu wachsen schienen, verfiel er doch allmählich wieder in seine früheren Zweifel, ermüdet durch den Kampf, den er mit der Natur führte. Jedes abgelehnte Bild schien ihm schlecht, vor allem unvollständig, der versuchten Anstrengung nicht entsprechend. Dieses Unvermögen erbitterte ihn noch mehr als die Abweisungen der Richter. Gewiß, er konnte ihnen nicht verzeihen; seine Werke waren selbst in ihrem anfänglichen Zustande hundertmal mehr wert als die angenommenen Mittelmäßigkeiten; aber welches Leid, sich niemals ganz geben zu können in dem Meisterwerk, das sein Genie nicht zu erzeugen vermochte! Es gab immer prächtige Stücke unter seinen Bildern; er war mit diesem, mit jenem und mit jenem andern zufrieden. Warum dann die plötzlichen Lücken? warum einzelne unwürdige Teile, die während der Arbeit unbemerkt geblieben waren und dann auf dem Gemälde einen unauslöschlichen, tötlichen Fleck bildeten? Er fühlte sich unfähig der Verbesserung; in einem gegebenen Augenblick richtete eine Mauer sich auf, ein unübersteigbares Hindernis, über das hinauszugehen ihm versagt war. Wenn er das Stück zwanzigmal von neuem begann, verschlechterte er zwanzigmal das Übel, und alles verwirrte sich schließlich in einer heillosen Kleckserei. Er entnervte sich, sah nichts mehr, führte nichts mehr aus, gelangte schließlich zu einer wirklichen Lähmung seines Willens. War es denn möglich, daß in einem Fortschreiten seiner früheren Gebrechen, das ihn nachgerade beunruhigte, seine Augen, seine Hände ihm nicht mehr gehörten? Die Anfälle wurden häufiger, er durchlebte wieder furchtbare Wochen und verzehrte sich in seinem Schwanken zwischen Ungewißheit und Hoffnung; in diesen bösen Stunden, die er in erbitterter Hartnäckigkeit bei dem widerspenstigen Werke verbrachte, hielt ihn einzig der tröstende Traum von dem künftigen Werke aufrecht, von jenem Werke, in dem er endlich Befriedigung finden werde, bei dem seine Hände wieder ihre Freiheit des Schaffens erlangen würden. Vermöge einer andauernden Wundererscheinung eilte sein Schaffensdrang seinen Fingern voraus; er arbeitete niemals an einem Bilde, ohne das nächste Bild zu entwerfen. Nur eine Eile war ihm geblieben: sich der im Zuge befindlichen Arbeit zu entledigen, an der er verkümmerte; gewiß werde dieses Bild wieder nichts taugen; er habe sich wieder zu verhängnisvollen Zugeständnissen fortreißen lassen, zu trügerischen Kniffen, zu allem, was ein Künstler von seinem Gewissen preisgeben müsse; aber was er nachher machen werde, das sah er herrlich, unanfechtbar, unzerstörbar. Ewiges Blendwerk, das den Mut der Verdammten der Kunst anfeuert, Lüge aus Zärtlichkeit und Mitleid gewebt, ohne welche das Schaffen unmöglich wäre für jene, die sterben, weil sie nicht Leben hervorzubringen vermögen. Nebst diesem unaufhörlich sich erneuernden Kampfe mit sich selbst häuften sich auch die materiellen Schwierigkeiten. War es nicht schon genug, daß es ihm nicht gelang hervorzubringen, was er im Kopfe hatte? Er mußte außerdem noch gegen die Sachen ankämpfen! Obgleich er es nicht gestehen wollte, ward das Malen nach der Natur, im Freien unmöglich, sobald die Leinwand gewisse Maße überschritt. Wie sollte er sich in den Straßen mitten in der Menge zur Arbeit niederlassen? Wie sollte er für jede Person die genügende Stundenzahl für die Stellung erlangen? Dies gestatteten offenbar nur gewisse Vorwürfe, Landschaften, beschränkte Winkel der Stadt, wo die Figuren nur nachträglich ausgeführte Schattenbilder waren. Dazu kamen die tausend Widerwärtigkeiten des Wetters, der Wind, der die Staffelei entführte, der Regen, der die Arbeit unterbrach. An solchen Tagen kam er außer sich nach Hause, erhob die Faust drohend zum Himmel, beschuldigte die Natur, daß sie sich wehre, um nicht festgenommen und überwunden zu werden. Er beklagte sich bitter, nicht reich zu sein; denn er träumte davon, bewegliche Ateliers zu haben, einen Wagen in Paris, ein Boot auf der {{Seine}}, wo er wie ein Zigeuner der Kunst würde gelebt haben. Allein nichts unterstützte ihn; alles hatte sich gegen seine Arbeit verschworen. &&x Christine litt mit Claude. Sie[[1]] hatte seine Hoffnungen mutig geteilt, hatte das Atelier mit der Tätigkeit einer Hausfrau erheitert; jetzt aber setzte sie sich entmutigt nieder, wenn sie ihn so verzagt sah. Bei jedem zurückgewiesenen Bilde bekundete sie einen lebhafteren Schmerz, sie fühlte sich in ihrer Eigenliebe als Frau verletzt, denn sie hatte den Stolz des Erfolges, wie ihn alle Frauen haben. Die Verbitterung des Malers ergriff auch sie; seine Leidenschaften waren die ihren, sein Geschmack war der ihre; sie verteidigte seine Malerei, die gleichsam ein ergänzender Teil ihrer selbst war, die große Angelegenheit ihres Lebens, fortan die einzige wichtige Sache, von der sie ihr Glück erhoffte. Sie[[1]] begriff sehr wohl, daß diese Malerei ihr mit jedem Tage mehr ihren Geliebten nehme; und noch kämpfte sie nicht dagegen; sie gab nach, teilte seinen Zorn und seine Anstrengungen, um eins mit ihm zu sein. Allein aus dieser beginnenden Entsagung stieg eine Traurigkeit auf, ein Entsetzen vor dem, was am Ende ihrer harre. Ein Schauer des Zurückweichens ließ manchmal ihr Blut bis ins Innerste erstarren. Sie[[1]] fühlte sich alt werden, während ein unermeßliches Erbarmen sie verstörte, ein Verlangen, ohne Grund zu weinen, das sie Stunden lang befriedigte, wenn sie in dem trübseligen Atelier allein war. Um jene Zeit öffnete sich ihr Herz noch weiter, und aus der Geliebten ging die Mutter hervor. Diese Mütterlichkeit für ihr großes Künstlerkind war zusammengesetzt aus dem unklaren und unendlichen Mitleid, das sie zärtlich stimmte, aus der unlogischen Schwäche, in die sie ihn so häufig verfallen sah, aus der fortwährenden Vergebung, die sie ihm gewähren mußte. Allmählich machte er sie unglücklich; sie hatte von ihm nur mehr jene Gewohnheits-Liebkosungen, die man wie ein Almosen den Frauen gibt, von denen man sich loslöst. Wie sollte sie ihn noch lieben, wenn er ihren Armen entschlüpfte, sich gelangweilt zeigte in den glühenden Umschlingungen, mit denen sie ihn noch immer zu ersticken drohte? Wie sollte sie ihn lieben, wenn sie ihn nicht mit jener andern, jede Minute sich erneuernden Zärtlichkeit liebte, in Anbetung vor ihm liegend, sich unaufhörlich aufopfernd? In ihrem Innern grollte die unersättliche Liebe; sie blieb das leidenschaftliche Fleisch, die Sinnliche mit den starken Lippen und dem trotzigen Vorsprung der Kinnladen. Nach dem geheimen Kummer der Nächte verharrte sie dann in stiller Trauer darüber, bis zum Abend nur eine Mutter zu sein, eine letzte und schwache Freude in der Güte zu finden, in dem Glück, das sie inmitten ihres jetzt vernichteten Lebens ihm zu bereiten trachtete. Der kleine Hans allein hatte durch diese Verschiebung ihrer Zärtlichkeit zu leiden. Sie[[1]] vernachlässigte ihn mehr; ihr Herz blieb stumm für ihn, in ihr lebte nur die Mutterliebe zu dem angebeteten, begehrten Mann; er ward ihr Kind; das andere, das arme Wesen, blieb ein bloßes Zeugnis ihrer großen Leidenschaft von ehemals. In dem Maße, als sie ihn wachsen und ihrer Pflege weniger bedürftig werden sah, hatte sie angefangen, ihn aufzuopfern, im Grunde ohne Härte, bloß weil sie so fühlte. Bei Tische gab sie ihm nur die minder guten Stücke; der beste Platz am Ofen war nicht für seinen kleinen Sessel; wenn eine Angst wegen eines Unfalls sie ergriff, galt der erste Schrei, die erste schützende Gebärde niemals dem schwachen Kinde. Unaufhörlich drängte sie es zurück: »Hans, schweige, du ermüdest deinen Vater! Hans bleib ruhig; du siehst, dein Vater arbeitet!« Das Kind gewöhnte sich schlecht an Paris. Es hatte früher auf dem Lande im Freien sich herumgetummelt und erstickte jetzt schier in dem engen Räume, wo es sich still und ruhig verhalten mußte. Seine schöne rote Farbe verblaßte, er entwickelte sich schwächlich, war ernst wie ein kleiner Mann, und schaute die Dinge mit weitgeöffneten Augen an. Er war jetzt fünf Jahre alt, sein Kopf war unmäßig groß geworden, so daß sein Vater angesichts dieser seltsamen Erscheinung zu sagen pflegte: »Der Junge hat den Schädel eines großen Mannes!« Doch es schien als nehme der Verstand in dem Maße ab, wie der Kopf größer wurde. Von sehr sanftem, scheuem Wesen brütete das Kind stundenlang dahin, war zerstreut, fand auf die Fragen keine Antwort; und schüttelte er diese Unbeweglichkeit zuweilen ab, so kamen Anwandlungen toller Ausgelassenheit über ihn, in denen er hüpfte und jauchzte, wie ein munteres junges Tier, das von seinem Instinkte fortgerissen wird. Dann regnete es Ermahnungen: »Verhalte dich ruhig!« Die Mutter konnte solches plötzliche Ungestüm nicht begreifen, war bestürzt, wenn sie den Vater gereizt vor seiner Staffelei sah, ward auch ihrerseits unmutig und beeilte sich, das Kind in seinen Winkel zu setzen. Sogleich beruhigt, furchtsam erschauernd wie jemand, der plötzlich geweckt wird, schlummerte er wieder ein mit offenen Augen so trägen Lebens, daß sein Spielzeug, die Pfropfen, Bilder, Farbentüten ihm aus den Händen fielen. Sie[[1]] hatte schon versucht, ihn lesen zu lehren, aber er hatte sich heftig weinend dagegen gewehrt, und man beschloß, noch ein oder zwei Jahre zu warten, ehe man ihn zur Schule schickte, wo ihn die Lehrer schon zum Lernen anhalten würden. Christine begann endlich vor dem drohenden Elend zu erschrecken. Mit diesem heranwachsenden Kinde war das Leben in Paris teurer; und trotzdem sie überall sparte, wurden die letzten Monats tage schrecklich. Die Familie hatte außer der Rente von tausend Franken kein gesichertes Einkommen; wie wollte man – nach Abschlag von vierhundert Franken für die Miete – mit monatlich fünfzig Franken das Auslangen finden? Anfänglich halfen sie sich durch den Verkauf einiger Bilder aus der Verlegenheit; Claude hatte nämlich den ehemaligen Kunstliebhaber {{Gagnières}} wiedergefunden, einen jener mißachteten Spießbürger, die trotz ihrer törichten Gewohnheiten begeisterte Künstlerseelen besitzen. Dieser Mäcen {{[Mäcen]}}, ein ehemaliger Amtsvorstand namens {{Hue}}, war unglücklicherweise nicht reich genug, um immer zu kaufen; er konnte nur jammern über die Verblendung des Publikums, das wieder einmal das Genie Hungers sterben ließ; denn er war überzeugt, vom ersten Augenblick an gewonnen und hatte die hervorstechendsten der Werke Claudes ausgewählt, sie neben seine {{Dela¬croix}} gehängt und ihnen eine gleiche Zukunft prophezeit. Das Schlimmste war, daß der Vater {{Mal¬gras}}, nachdem er ein Vermögen gesammelt, sich zurückgezogen; es war übrigens ein sehr bescheidener Wohlstand, eine Rente von zehntausend Franken, die er als vorsichtiger Mann in einem Häuschen zu {{Bois-Colombes}} verzehrte. Man mußte ihn denn auch von dem famosen {{Naudet}} reden hören mit einer Verachtung gegen die Millionen, die dieser Börsenmakler in Verkehr setzte, und die ihm eines Tages auf die Nase fallen würden, wie {{Mal¬gras}} versicherte. Bei einer Begegnung mit ihm konnte ihm Claude nur eine letzte Leinwand verkaufen, die er für sich behalten wollte; es war eine herrliche Bauchstudie, noch aus dem Atelier {{Boutin}} stammend, eine Studie, bei deren Anblick die alte Leidenschaft in dem ehemaligen Bilderhändler erwacht war. So drohte denn das Elend; die Auswege schlossen sich, anstatt sich zu öffnen; allmählich bildete sich eine beunruhigende Sage um diese vom Salon immer wieder zurückgewiesenen Gemälde, abgesehen davon, daß eine so unvollständige und aufrührerische Kunst, an der das erschreckte Auge nichts von dem Zulässigen und Herkömmlichen entdecken konnte, an sich genügte, das Geld scheu zu machen. Als eines Abends der Maler eine Farbenrechnung nicht zu begleichen vermochte, rief er aus, er wolle lieber von dem Kapital seiner Rente leben, als sich zur Erzeugung von Marktbildern erniedrigen. Allein Christine hatte sich diesem äußersten Auskunftsmittel heftig widersetzt: lieber wollte sie von den Ausgaben noch mehr abzwacken; kurz: alles eher als diese Torheit, die sie später ohne Brot auf die Straße werfen würde. &&x In dem Jahre, als Claudes drittes Gemälde zurückgewiesen wurde, gestaltete sich der Sommer so wunderbar schön, daß der Maler neue Kraft daraus zu schöpfen schien. Helle, wolkenlose Tage beleuchteten die riesige Tätigkeit von Paris. Claude hatte seine Wanderungen durch die Stadt wiederaufgenommen mit dem festen Willen, einen »Wurf« zu suchen, wie er sich ausdrückte; etwas Riesiges, Entscheidendes, er wußte nicht genau was. Bis zum September fand er nichts; er begeisterte sich eine Woche hindurch für einen Gegenstand und erklärte dann, es sei noch nicht das, was er suche. Er lebte in einem fortwährenden Zittern, stets auf der Lauer, stets vor dem Augenblicke, die Verwirklichung seines Traumes zu erhaschen, die immer wieder vor ihm floh. Sein unversöhnlicher Realismus barg im Grunde den Aberglauben eines nervösen Weibes: alles werde davon abhängen, ob er seinen Horizont glücklich oder unglücklich wähle. Eines Nachmittags – an einem der letzten schönen Sommertage – hatte Claude Christine mitgenommen. Sie[[1]] ließen den kleinen Hans in der Obhut der Pförtnerin, einer guten, alten Frau, wie sie es immer taten, wenn sie zusammen ausgingen. Es war ein plötzliches Verlangen nach einem Spaziergang, ein Bedürfnis, mit ihr alle die Orte wiederzusehen, die ihnen einst teuer gewesen; hinter diesem Verlangen barg sich die unbestimmte Hoffnung, daß sie ihm vielleicht Glück bringen werde. Sie[[1]] gingen so bis zur Louis-Philipp-Brücke hinab, verweilten eine Viertelstunde am Ulmenufer, lehnten schweigend an der Brüstung und betrachteten das gegenüber, jenseits der {{Seine}} gelegene alte Hotel Martoy, wo sie sich geliebt hatten. Dann schlugen sie – immer schweigend – ihren früheren Weg wieder ein, den sie oft gemacht; sie wanderten unter den Platanen die Ufer entlang und sahen bei jedem Schritte die Vergangenheit auftauchen. Alles entrollte sich vor ihnen: die Brücken, deren Bogen sich von dem Samt der Wasserfläche abhoben; die in Schatten getauchte Altstadt, von den gelblich schimmernden Türmen der Liebfrauenkirche überragt; die ungeheure, krumme Linie des rechten Ufers, in Sonnenlicht getaucht, durch die fernen Umrisse des Flora-Pavillons abgeschlossen; und die breiten Alleen, die Denkmäler an den beiden Ufern und das Leben auf dem Flusse, die Waschhäuser, die Bäder, die Kähne. Wie einst folgte ihnen auch jetzt das niedergehende Gestirn, über die Dächer der fernen Häuser hinrollend, hinter der Kuppel des Instituts teilweise verschwindend: ein blendender Sonnenuntergang, wie sie keinen schöneren gehabt, ein langsames Niedersteigen inmitten kleiner Wolken, die sich in ein purpurnes Geflecht verwandelten, dessen Maschen Goldfluten ausströmen ließen. Allein aus dieser wiederauftauchenden Vergangenheit ging nur eine unüberwindliche Traurigkeit hervor, das Gefühl des ewigen Vergehens, die Unmöglichkeit einer Rückkehr und eines Wiederbeginnes des Lebens. Die alten Steine blieben kalt; das Wasser, das unter diesen Brückenbogen hin weggeflossen, schien ein Stück ihrer selbst hinweggeschwemmt zu haben, den Reiz des ersten Verlangens, die Freude des Hoffens. Jetzt, da sie einander angehörten, genossen sie nicht mehr das bescheidene Glück, den warmen Druck ihrer Arme zu fühlen, während sie langsam dahinwandelten, wie eingehüllt in das unermeßliche Leben von Paris. An der Brücke der heiligen Väter war Claude verzweifelt stehengeblieben; er hatte den Arm Christinens losgelassen und sich nach der Spitze der Altstadt umgewandt. Sie[[1]] fühlte die Loslösung, die sich da vollzog, und ward sehr traurig; und als sie sah, daß er sich in der Betrachtung vergaß, wollte sie sich seiner wieder bemächtigen. »Liebling, laß uns heimkehren, es ist Zeit ... Hans erwartet uns, du weißt es.« Doch er ging bis in die Mitte der Brücke. Sie[[1]] mußte ihm dahin folgen. Abermals stand er unbeweglich da, die Augen immer auf die Insel dort unten gerichtet, die ewig vor Anker zu liegen schien, auf diese Wiege und dieses Herz von Paris, wo seit Jahrhunderten alles Blut seiner Adern pulsierte, fortwährend umdrängt von den Vororten, welche die Ebene bedecken. Eine Flamme war ihm in die Wangen gestiegen, seine Augen belebten sich. »Schau! schau!« rief er endlich mit einer weiten, umfassenden Bewegung. Zunächst im Vordergrunde unter sich hatten sie den Nikolaus-Hafen, die niedrigen Kabinen der Dampfschifffahrts-Büros, das breite, gepflasterte Ufer, bedeckt mit Sandhaufen, Fässern und Säcken, eingesäumt mit einer Reihe noch vollbeladener Kähne, wo ein ganzes Heer von Ausladern sich tummelte und ein eiserner Krahn, alles beherrschend, seinen Riesenarm ausstreckte, während auf der anderen Seite des Wassers ein kaltes Bad, von dem Lärm der letzten Badenden widerhallend, die grauen Zelttücher, die ihm als Dach dienten, lustig im Winde flattern ließ. In der Mitte floß die offene {{Seine}} heran, grünlich, mit kleinen hüpfenden Wellen, auf denen weiße, blaue und rote Lichter tanzten. Die Brücke der Künste bildete ein zweites Feld; sie stand sehr hoch auf ihrem eisernen Gebälk, so leicht wie schwarze Spitzen, belebt durch das unaufhörliche Hin und Wieder der Passanten, einen Ameisenzug auf der schmalen Linie des Steges. Darunter setzte die {{Seine}} ihren Lauf fort; man sah die alten Bogen der Neuen Brücke gebräunt vom Rost der Steine; links gestattete der Fluß einen Ausblick bis zur Ludwigs-Insel, es war gleichsam ein fliehender Spiegel in blendender Verkürzung; der andere Arm bog kurz ab, die Schleuse bei der Münze schien mit ihrem Schaumbalken die Aussicht zu versperren. Die Neue Brücke entlang zogen große, gelbe Omnibusse und buntfarbig gestrichene Möbelwagen mit der mechanischen Regelmäßigkeit von Kinderspiel werken. Der ganze Hintergrund war hier von den Perspektiven der beiden Ufer eingerahmt: am rechten Ufer die Häuser der Ufer, halb verborgen hinter einer Gruppe großer Bäume, die am Horizont eine Ecke des Rathauses und den viereckigen Turm der {{Gervasius}}-Kirche sehen ließen, schier verschwimmend in dem Häuserwirrsal der Vorstadt; am linken Ufer ein Flügel des Instituts, die flache Vorderseite der Münze, Bäume in langer Zeile. Doch den Mittelpunkt in diesem ungeheuren Bilde, was aus dem Flusse aufstieg, sich erhob und den Himmel einnahm, bildete die Altstadt, dieses Vorderteil des alten Schiffes, ewig vergoldet durch die untergehende Sonne. Unten auf dem Damm grünten die Pappeln in dichter Masse und verbargen die Statue. Weiter oben brachte die Sonne die beiden Ufer in einen Gegensatz zueinander, indem sie die grauen Häuser des Ulmenufers im Schatten verschwinden ließ, während sie ein loderndes Licht über die roten Häuser des Goldschmiedufers ausgoß, ganze Reihen von unregelmäßig gebauten Häusern, die so deutlich sichtbar waren, daß das Auge ihre geringsten Einzelheiten, die Läden, die Aushängeschilder, ja selbst die Fenstervorhänge unterscheiden konnte. Noch höher zwischen dem Zahnwerk der Schlote hinter dem schiefen Schachbrett der kleinen Hausdächer zeigten die Pfefferbüchsen des Industrie-Palastes und die Dächer der Präfektur ihre Schieferfelder, durchbrochen von einer ungeheuren Ankündigung, deren Riesenbuchstaben auf einer Mauer von ganz Paris gesehen wurden, gleichsam als Ausschlag des modernen Fiebers an der Stirn der Stadt. Noch höher, über den Zwillingstürmen der Liebfrauen-Kirche, strebten zwei Pfeile von der Farbe alten Goldes in die Höhe, hinten der Pfeil der Kathedrale, links der Pfeil der heiligen Kapelle in so feiner Eleganz, daß sie in der Abendluft zu zittern scheinen, die stolzen Masten des vielhundertjährigen Schiffes, die in der klaren Luft zum Himmel streben. »Kommst du, Liebling?« wiederholte Christine sanft. &&x Claude hörte sie noch immer nicht; dieses Herz von Paris hatte ihn ganz gefangengenommen. Der schöne Abend erweiterte den Gesichtskreis. Es gab helle Lichter und tiefe Schatten, etwas Freundliches in der Genauigkeit der Einzelheiten, eine Durchsichtigkeit der freudig zitternden Luft. Und das Leben auf dem Flusse, das tätige Schaffen an den Ufern, diese Menschheit, deren Flut aus den Straßen hervorbrach und über die Brücken sich ergoß: es kam von allen Rändern dieser ungeheuren Kufe und dampfte in einer sichtbaren Woge, in einem Leben, das im Sonnenlichte zitterte. Ein leichter Wind wehte, ein Flug kleiner, rosiger Wolken zog sehr hoch unter dem erblassenden Blau dahin, während man ein ungeheures und langsames Zucken vernahm; die Seele von Paris, die hoch rings um seine Wiege verbreitete. Da ergriff Christine Claudes Arm; es beunruhigte sie, als sie ihn so in Betrachtung versunken sah; sie ward von einer Art andächtiger Furcht erfaßt und zog ihn fort, als habe sie ihn in großer Gefahr gewußt. »Laß uns heimkehren, du machst dich krank. Ich will heimkehren.« Bei ihrer Berührung fuhr er zusammen wie ein Mensch, der plötzlich geweckt wird. Dann wandte er den Kopf um und murmelte mit einem letzten Blick: »Ach, mein Gott, wie schön!« Er ließ sich hinwegführen. Aber den ganzen Abend, bei Tische, nachher am Ofen und bis zum Schlafengehen blieb er wie betäubt, dermaßen zerstreut, daß er nicht vier Sätze sprach, und daß seine Frau, da sie keine Antwort von ihm erlangen konnte, schließlich ebenfalls schwieg. Sie[[1]] betrachtete ihn ängstlich: war eine ernste Krankheit über ihn gekommen, irgendein böser Luftzug, den er sich mitten auf jener Brücke geholt? Seine Augen irrten ruhelos umher; sein Antlitz ward durch eine innere Anstrengung rot gefärbt; es war wie eine dumpfe Keimarbeit, ein Wesen, das in ihm erstand, jene Überspannung und jenes Übelbefinden, welches die Frauen kennen. Anfangs schien die Sache schmerzlich, verworren, durch tausend Bande gehindert; dann löste sich alles, er hörte auf, sich im Bette herumzuwälzen, und verfiel in den tiefen Schlaf, der großen, mühseligen Anstrengungen zu folgen pflegt. Am folgenden Tage verließ er nach dem Frühmahl das Haus. Christine verbrachte einen leidvollen Tag; denn obgleich sie sich ein wenig beruhigt fühlte, als sie ihn am Morgen seine Lieblingsweisen aus dem Süden pfeifen hörte, hatte sie doch eine andere Sorge, die sie vor ihm geheim hielt aus Furcht, ihn noch mehr niederzudrücken. Es war der erste Tage, an dem sie Mangel an allem hatten: eine ganze Woche trennte sie noch von dem Tage, an dem sie ihre kleine Rente in Empfang nehmen sollten; und sie hatte am Morgen ihren letzten {{Sou}} ausgegeben, es blieb ihr nichts für den Abend, nicht einmal soviel, um ein Brot auf den Tisch legen zu können. An welche Tür konnte sie klopfen? Wie sollte sie ihn noch länger anlügen, wenn er hungrig heimkehrte. Sie[[1]] entschloß sich, das schwarze Seidenkleid zu verpfänden, das Frau Vanzade ihr einst zum Geschenk gemacht hatte. Aber es kostete ihr einen schweren Kampf; sie zitterte vor Furcht und Scham bei dem Gedanken an das Leihhaus, dieses öffentliche Haus der Armen, das sie noch niemals betreten hatte. Eine solche Angst vor der Zukunft peinigte sie jetzt, daß sie von den zehn Franken, die man ihr lieh, nur soviel nahm, um eine Sauerampfer-Suppe und ein Kartoffel-Ragout zu bereiten. Als sie aus dem Leihhause trat, hatte sie eine Begegnung, und dies gab ihr den Rest. Claude kam gerade an jenem Abend sehr spät heim; er war heiter, eine geheime Freude spiegelte sich in seinen hellen Augen. Er war sehr hungrig und schrie, daß der Tisch noch nicht gedeckt war. Als er zwischen Christine und dem kleinen Hans bei Tische saß, verschlang er seine Suppe und einen Teller voll Kartoffeln. »Wie, das ist alles?« fragte er. »Du hättest wohl etwas Fleisch hinzufügen können ... Oder hast du wieder Schuhe kaufen müssen?« Sie[[1]] stotterte, wagte nicht die Wahrheit zu sagen, war durch diese Ungerechtigkeit im Innersten verletzt. Doch er fuhr fort, neckte sie jetzt wegen der {{Sous}}, die sie verschwinden ließ, um sich allerlei Sachen zu gönnen; immer erregter, in der Selbstsucht der lebhaften Empfindungen, die er für sich behalten zu wollen schien, wurde er plötzlich böse gegen Hans. »Schweig'; verwünschter Bengel! Es wird mir am Ende über!« Hans hatte zu essen vergessen und schlug mit seinem Löffel auf den Rand des Tellers mit lachenden Augen, entzückt von dieser Musik. »Hans, sei still!« ermahnte jetzt auch die Mutter. »Laß den Vater ruhig essen!« Der erschreckte Kleine ward sogleich artig, verfiel wieder in seine mürrische Unbeweglichkeit und starrte mit den matten Augen auf seine Kartoffeln, die er noch immer nicht aß. Claude stopfte sich auffällig mit Käse, während die trostlose Christine sich erbötig machte, vom Wursthändler ein Stück kaltes Fleisch zu holen; aber er lehnte ab und hielt sie mit Worten zurück, die sie noch mehr kränkten. Als der Tisch abgedeckt war und alle drei wieder um die Lampe saßen, um da den Abend zu verbringen, sie nähend, das Kind stumm in einem Bilderbuche blätternd, begann Claude mit den Fingern auf den Tisch zu trommeln, mit seinen Gedanken dort weilend, woher er nach Hause gekommen. Plötzlich erhob er sich, holte ein Blatt Papier und einen Stift und begann in dem runden, hellen Lichte unter dem Lampenschirm hastige Striche auf das Papier zu werfen. Diese aus dem Gedächtnisse hingeworfene Skizze, die er in dem Bedürfnisse machte, den Gedanken, die in seinem Kopf sich tummelten, einen Ausdruck zu geben, genügte bald nicht mehr, ihn zu erleichtern. Diese Skizze regte ihn nur noch mehr an; der ganze Aufruhr, von dem er überströmte, brach sich über seine Lippen Bahn, und er erleichterte sein Herz schließlich durch eine Flut von Worten. Er hätte zu den Mauern geredet und sprach zu seiner Frau, weil sie da war. »Das ist's, was wir gestern gesehen haben ... Es ist prächtig! Ich habe heute drei Stunden dort zugebracht und gefunden was ich suchte; eine erstaunliche Sache; ein Zug, der alles über den Haufen werfen wird ... Ich nehme meine[[Besitz]] Stellung unter der Brücke; im Vordergrunde habe ich den Nikolaus-Hafen mit seinem Krahn, seinen Kähnen, die ausgeladen werden, seinem Volk von Ausladern. Du begreifst: es ist das arbeitende Paris; kräftige Burschen mit nackter Brust und entblößten Armen ... Auf der andern Seite das kalte Bad, Paris, das sich da vergnügt, und ohne Zweifel eine Barke, um den Mittelpunkt des Bildes einzunehmen; doch das weiß ich noch nicht genau, ich muß darüber noch nachdenken ... Natürlich die {{Seine}} in der Mitte, breit, unermeßlich ...« &&x In dem Maße wie er sprach, zeichnete er mit dem Stifte sehr kräftig die Umrisse, nahm zehnmal die flüchtig hingeworfenen Striche wieder auf und zerriß in seinem Eifer schier das Papier. Um ihm angenehm zu sein, neigte sie sich vor und tat, als interessiere sie sich für seine Erläuterungen lebhaft. Allein die Skizze verirrte sich bald in einem solchen Durcheinander von Linien, füllte sich mit einem so großen Wirrsal von oberflächlich angedeuteten Einzelheiten, daß sie bald nichts mehr unterscheiden konnte. »Du bist bei der Sache, nicht?« »Ja, ja, sehr schön!« »Endlich habe ich den Hintergrund, die zwei Flußarme mit den Ufern, die stolze Altstadt in der Mitte, wie sie vom Himmel sich abhebt ... Dieser Hintergrund, wie wunderbar! Man sieht ihn alle Tage, man geht vorüber, ohne stehen zu bleiben; aber er durchdringt uns, die Bewunderung wächst in uns, und eines Tages erscheint er vor uns. Nichts in der Welt ist größer; es ist Paris selbst, herrlich unter der Sonne ... War ich nicht dumm, nicht früher daran zu denken? Wie oft habe ich es gesehen, ohne es zu schauen ... Ich mußte erst nach dieser langen Wanderung an den Ufern an diesem Punkte haltmachen ... Du erinnerst dich: es findet sich auf dieser Seite ein Stück Schatten, die Sonne brennt gerade hernieder; dort hinten die Türme, der Pfeil auf der heiligen Kapelle verdünnt sich, scheint eine Nadel unter dem Himmel ... Nein, der Pfeil ist mehr rechts; wart', ich will dir zeigen. Er begann von neuem, ward nicht müde, nahm die Zeichnung immer wieder auf, verbreitete sich in tausend kleinen, charakteristischen Merkmalen, die sein Malerauge festgehalten; da schimmerte das rote Aushängeschild eines Ladens aus der Ferne herüber; da näher ein grünlicher Fleck der {{Seine}}, wo Ölflecke zu schwimmen schienen; dann der feine Ton eines Baumes, die Stufenleiter der grauen Tünche der Häuser und das leuchtende Blau des Himmels. Sie[[1]] stimmte freundlich zu, suchte sich zu begeistern. Doch Hans vergaß sich wieder einmal. Nachdem er lange still vor seinem Buche gesessen, in die Betrachtung eines Bildes versunken, das eine schwarze Katze darstellte, hatte er angefangen, einige Worte, die er selbst zusammengefügt, still vor sich hinzusummen: »Oh, schöne Katz', oh, häßliche Katz'; 'ne schöne und 'ne häßliche Katz'.« Das ging so ins Unendliche, immer in dem nämlichen trübseligen Ton. Durch dieses Gesumme gereizt, hatte Claude nicht sogleich begriffen, was ihn so nervös machte, während er sprach. Dann waren ihm die unaufhörlich wiederkehrenden Worte des Kindes deutlich in die Ohren gedrungen. »Wirst du endlich aufhören, uns mit deiner Katze zu peinigen?« schrie er wütend. »Hans, schweige, wenn dein Vater spricht,« wiederholte Christine. »Auf mein Wort, der Bengel wird blöd! ... Schau nur den Schädel an: ist das nicht der Schädel eines Blöden? Es ist zum Verzweifeln! Was willst du denn sagen mit deiner schönen Katz' und häßlichen Katz'? Sprich?« Der Kleine war erblaßt, schaukelte den allzu großen Kopf und antwortete mit dummer Miene: »Weiß nicht.« Als seine Eltern sich mutlos ansahen, legte er eine Wange in sein offenes Buch und blieb so, ohne sich zu bewegen, ohne zu sprechen, mit weitoffenen Augen. Es ward spät, Christine wollte das Kind zu Bett bringen, doch Claude hatte seine Erläuterungen wiederaufgenommen. Er kündigte jetzt an, er werde schon am morgigen Tage eine Skizze nach der Natur machen, um seine Gedanken festzuhalten. Das führte ihn zu der Bemerkung, daß er eine kleine Feldstaffelei kaufen wolle. Seit Monaten träumte er schon von dieser Anschaffung. Er beharrte bei der Sache und sprach von Geld. Sie[[1]] geriet in Verwirrung und gestand ihm schließlich alles: daß sie für das Frühstück den letzten {{Sous}} ausgegeben und ihr Seidenkleid verpfändet habe, um das Abendessen bereiten zu können. Da ward er von Reue und Zärtlichkeit ergriffen, küßte sie und bat um Verzeihung, weil er sich bei Tische beklagt habe. Sie[[1]] müsse ihn entschuldigen; er würde Vater und Mutter getötet haben, – wie er sagte – wenn die verdammte Malerei ihn in den Eingeweiden packte. Das Leihhaus brachte ihn übrigens zum Lachen; er hatte keine Angst vor der Not. »Ich sage dir, ich habe, was ich suche!« rief er. »Dieses Bild wird der Erfolg sein.« Sie[[1]] schwieg; sie dachte an die Begegnung, die sie gehabt, und die sie ihm hatte verheimlichen wollen; aber es kam unaufhaltsam über ihre Lippen, ohne scheinbare Ursache, ohne Übergang, in einer Art von Betäubung, die über sie gekommen. »Frau Vanzade ist gestorben,« sagte sie. Er war erstaunt. Ach, wirklich? Woher wußte sie es? »Ich bin dem ehemaligen Kammerdiener begegnet. Der ist jetzt ein Herr, sehr rüstig trotz seiner siebzig Jahre. Ich hatte ihn nicht erkannt; er hat mich angesprochen ... Ja, sie ist vor sechs Wochen gestorben. Ihre Millionen hat sie den Krankenhäusern hinterlassen mit Ausnahme der Renten, welche die zwei alten Diener jetzt als kleine Bürgersleute verzehren.« Er sah sie an und murmelte endlich mit trauriger Stimme: » Meine[[Besitz]] arme Christine, du fühlst Reue, nicht wahr? Sie[[1]] hätte dir eine Mitgift gegeben und dich verheiratet, ich sagte dir es ja ehemals. Du wärest vielleicht ihre Erbin und müßtest nicht am Hungertuche nagen mit einem Narren meines Schlages!« Doch da schien sie sich zu besinnen. Sie[[1]] zog hastig ihren Sessel näher, ergriff ihn mit einem Arm und lehnte sich an ihn, um mit ihrem ganzen Wesen diese Worte abzuwehren. »Was sagst du? O nein, o nein! ... Es wäre eine Schande, wenn ich an ihr Geld gedacht hätte. Ich würde es dir gestehen; du weißt, daß ich nicht lüge; aber ich weiß selbst nicht, was über mich kam, eine Verstörtheit, eine Traurigkeit, weil ich glaubte, es sei alles aus für mich. Es war ohne Zweifel die Reue, aber nur die Reue darüber, daß ich diese arme, gebrechliche, alte Frau, die mich ihre Tochter nannte, so plötzlich verlassen habe. Ich habe schlecht gehandelt, das wird mir kein Glück bringen. Sage nicht nein; ich fühle es, daß für mich fortan alles aus ist.« Sie[[1]] weinte und erstickte fast an dieser unklaren Reue, die sie sich nicht zu deuten wußte, in dem einzigen Gefühl, daß ihr Dasein verdorben sei, daß sie vom Leben nur mehr Unglück zu erwarten habe. »Christine, nimm Vernunft an, trockne deine Augen,« sagte er zärtlich. »Du warst niemals nervös; wäre es möglich, daß du dir Gedanken machst und dich in solcher Weise quälst? Zum Teufel! Wir werden uns durchkämpfen. Vergiß nicht: Du hast mich mein Bild finden lassen ... Du bist doch nicht gar so verdammt, da du Glück bringst!« Er lachte; sie nickte, da sah sie, daß er sie heiter stimmen wollte. Doch sein Bild verursachte ihr jetzt schon Leid; denn dort auf der Brücke hatte er sie vergessen, als habe sie aufgehört, die Seine zu sein. Seit gestern fühlte sie, wie er sich immer mehr und mehr von ihr entfernte. Er war anderwärts, in einer Welt, zu der sie sich nicht emporschwang. Doch sie ließ sich trösten; sie tauschten einen ihrer Küsse von ehemals, ehe sie vom Tische aufstanden, um zu Bett zu gehen. Der kleine Hans hatte nichts gehört. In seiner Unbeweglichkeit ermattet, war er schließlich eingeschlafen, die Wange in seinem Bilderbuche ruhend; und sein übergroßer Kopf eines mißratenen Künstlerkindes, sein Kopf, der mit seiner Schwere oft seinen Nacken beugte, war ganz bleich im Lichte der Lampe. Als seine Mutter ihn zu Bett brachte, schlug er die Augen nicht auf. &&x Um jene Zeit erst dachte Claude daran, Christine zu seiner Frau zu machen. Indem er den Ratschlägen Sandoz' folgte, der über die Unnötigkeit dieses ungeregelten Zusammenlebens erstaunt war, gehorchte er vornehmlich einem Gefühl des Mitleids, dem Bedürfnisse, sich ihr gütig zu zeigen, Vergebung für sein mannigfaches Unrecht zu erlangen. Seit einiger Zeit sah er sie so traurig, so unruhig wegen der Zukunft, daß er nicht wußte, durch welche Freude er sie erheitern solle. Er selbst verbitterte, verfiel wieder in seine ehemaligen Zornesausbrüche, behandelte sie manchmal wie eine Magd, die man achttägig kündigt. Ist sie erst seine legitime Frau, dann wird sie sich ohne Zweifel heimischer fühlen und weniger durch seine plötzlichen Aufwallungen leiden. Sie[[1]] hatte übrigens von der Heirat nicht mehr gesprochen; sie lebte wie losgelöst von der Welt, so verschwiegen, daß sie außer ihm fast mit niemandem Verkehr hatte; aber er begriff, daß sie sich darüber härmte, bei Sandoz nicht empfangen zu werden; und anderseits war es nicht mehr die Freiheit und Einsamkeit des Landlebens; es war Paris mit den tausend Bosheiten der Nachbarschaft, mit gezwungenen Verbindungen und mit allem, was eine Frau verletzen kann, die bei einem Manne lebt. Er hatte im Grunde gegen die Ehe nichts einzuwenden als das alte Vorurteil des Künstlers, den das Leben zügellos gemacht. Da er sie niemals verlassen sollte, warum ihr nicht dieses Vergnügen machen? In der Tat: als er ihr davon sprach, stieß sie einen Freudenschrei aus und warf sich ihm an den Hals, selbst überrascht, daß sie dadurch so sehr ergriffen wurde. Eine Woche lang war sie sehr glücklich; dann beruhigte sie sich wieder lange vor der Feier. Claude beschleunigte übrigens keinen der nötigen Schritte, und man hatte auf die notwendigen Papiere lange zu warten. Er fuhr fort, Studien für sein Gemälde zu sammeln, sie schien ungeduldig wie er. Wozu auch sich ereifern? Es werde gewiß nichts Neues in ihr Leben bringen. Sie[[1]] hatten beschlossen, sich bloß auf dem Standesamte trauen zu lassen, nicht etwa um eine Mißachtung gegen die Religion zu zeigen, sondern um die Sache rasch und einfach abzumachen. Die Frage der Trauzeugen brachte sie einen Augenblick in Verlegenheit. Da sie keine Bekannten hatte, gab er ihr Sandoz und {{Mahou¬deau}}; anfänglich hatte er wohl an Dubuche gedacht, allein er sah ihn nicht mehr und fürchtete, ihn bloßzustellen. Für sich selbst begnügte er sich mit Jory und {{Gagnière}}. So werde die Sache unter Kameraden bleiben und niemand davon reden. Wochen waren vergangen; man war im Dezember, und es herrschte eine furchtbare Kälte. Am Tage vor der Hochzeit besaßen sie fünfunddreißig Franken; dennoch sahen sie ein, daß sie ihre Zeugen nicht einfach mit einem Händedruck entlassen konnten; weil sie eine Unordnung in der eigenen Behausung vermeiden wollten, beschlossen sie, ihnen in einem kleinen Restaurant auf der {{Clichy}}-Promenade ein Frühstück anzubieten. Dann sollte jeder nach Hause gehen. Am Hochzeitsmorgen holte Christine ein Kleid von grauem Wollstoff hervor, daß sie – als einzige Koketterie – für diese Gelegenheit sich hatte machen lassen und an das sie einen weißen Kragen heftete. Inzwischen trippelte Claude, der schon seinen schwarzen Rock angelegt hatte, ungeduldig im Atelier herum und kam endlich auf den Einfall, {{Mahou¬deau}} abzuholen unter dem Vorwande, daß dieser Bursche sehr wohl fähig sei, das Stelldichein zu vergessen. Seit dem Herbste bewohnte der Bildhauer ein kleines Atelier in der Lindenstraße; er war dahin übergesiedelt infolge einer ganzen Reihe von aufregenden Vorfällen, die sein Leben verstört hatten; vor allem war er, weil er den Mietzins nicht bezahlt hatte, aus dem ehemaligen Obstladen in der Mittagsstraße verjagt worden; nachher war ein endgültiger Bruch mit {{Chaine}} eingetreten, den die Verzweiflung darüber, daß er von seinen Pinseln nicht leben konnte, in ein geschäftliches Abenteuer gestürzt hatte: er bereiste die Jahrmärkte in der Umgebung von Paris mit einem Ringspiel für Rechnung einer Witwe; und schließlich war Mathilde plötzlich ausgeflogen, die Kräuterhandlung verkauft, die Kräuterhändlerin verschwunden, ohne Zweifel entführt und von irgendeinem mit seltsamen Leidenschaften behafteten Herrn in einer verschwiegenen Wohnung verborgen gehalten. So lebte {{Mahou¬deau}} jetzt allein in noch größerem Elend als zuvor; er hatte nur zu essen, wenn er ein Zierstück für eine Hausfassade zu »kratzen« oder irgendeine Figur von einem glücklicheren Kollegen »fertigzustellen« bekam. »Ich will ihn abholen, das ist sicherer,« sagte Claude zu Christine. »Wir haben noch zwei Stunden Zeit ... Wenn inzwischen die anderen kommen, laß sie warten. Wir werden alle zusammen nach dem Standesamt gehen.« Draußen beschleunigte Claude seine Schritte, denn es war grimmig kalt, sein Schnurrbart belegte sich mit Eiszäpfchen. Das Atelier {{Mahou¬deaus}} lag im Hintergrunde eines Wirrsals von Häusern, und Claude mußte eine ganze Flucht von kleinen, mit winterlichem Reif bedeckten Gärten durchschreiten, die traurig und kahl wie Friedhöfe dalagen. Schon von fern erkannte er die Tür an dem riesigen Gipsmodell der »Winzerin«, die man in dem engen Erdgeschoß nicht hatte unterbringen können. Da verfaulte sie gleich einem Schutthaufen, zerfallend, trübselig, mit großen, schwarzen Tränen, die der Regen in ihrem Gesichte zurückgelassen. Der Schlüssel steckte in der Türe, er trat ein. »Du kommst mich holen!« rief {{Mahou¬deau}} überrascht. »Ich habe nur noch meinen[[Besitz]] Hut aufzusetzen ... Aber wart', ich dachte gerade darüber nach, ob ich nicht ein wenig einheizen sollte; meiner Badenden wird es wohltun.« &&x Das Wasser in einem Zuber war in Eis verwandelt; denn es fror in dem Atelier geradeso wie draußen. Seit acht Tagen war er ohne einen {{Sou}}; darum sparte er mit einem Rest von Kohle, den er noch besaß und ließ das Feuer im Ofen nur eine oder zwei Stunden des Morgens brennen. Dieses Atelier glich mehr einem trübseligen Keller, mit dem verglichen der ehemalige Obstladen ein Ort voll Behagen und Wohlleben war; von den kahlen Mauern und der stellenweise bloßliegenden Decke strömte eine gruftartige Kälte hernieder. In den Winkeln fröstelten andere Statuen, die weniger Raum erforderten, Modelle, die er mit Leidenschaft entworfen und ausgestellt hatte, und die ihm wegen Mangels an Käufern zurückgesandt worden. Da standen sie nun, mit den Gesichtern zur Wand gekehrt, eine trübselige Reihe von Siechen, mehrere schon zerbrochen, ihre Stümpfe zeigend, alle mit Staub belegt, mit Tonerde bespritzt. So moderten diese erbarmungswürdigen nackten Figuren jahrelang unter den Augen des Künstlers, der ihnen von seinem Blute gegeben und sie – obgleich er nur wenig Platz hatte – anfänglich mit eifersüchtiger Leidenschaft behütete, um sie dann in die plumpe Scheußlichkeit toter Dinge verfallen zu lassen, bis er schließlich einen Hammer nahm und sie mit eigenen Händen in Staub verwandelte, um sein Leben von ihnen zu befreien. »Wie? Du sagtest, wir haben noch zwei Stunden?« fragte {{Mahou¬deau}}. »So will ich ein wenig einheizen, das ist klüger.« Während er Feuer machte, klagte er dem Kameraden mit grollender Stimme sein Leid. Welch ein Hundeberuf ist doch die Skulptur! Die geringsten Maurer sind glücklicher. Eine Figur, welche die Regierung für dreitausend Franken gekauft, hatte ihm selbst nahezu zweitausend Franken an Ausgaben für Modell, Erde, Marmor, Bronzen usw. usw. verursacht. Alles, um die Figur in irgendeinem Amtskeller eingesperrt zu halten unter dem Vorwande, daß man keinen Platz habe. Die Nischen der Denkmäler standen leer; in den öffentlichen Gärten harrten die Sockel der Bildsäulen, – aber es war kein Platz vorhanden. Auch von den Privatleuten gab es keine Arbeit, kaum eine Büste von Zeit zu Zeit oder eine Bildsäule zu ermäßigtem Preise, deren Kosten durch öffentliche Spendensammlungen aufgebracht wurde. Es sei die edelste und männlichste Kunst, aber zugleich die, bei der man am sichersten Hungers sterbe. »Geht es vorwärts mit deiner Figur?« fragte Claude. »Sie[[1]] wäre fertig, wenn diese verdammte Kälte nicht wäre,« erwiderte er .»Du wirst sie übrigens sogleich sehen.« Er erhob sich, nachdem der Ofen zu summen begonnen. Mitten im Atelier stand auf einem Bock, den er aus einer Packkiste verfertigt und mit Querleisten befestigt hatte, eine Bildsäule, in alte Leinwandtücher eingehüllt; stark gefroren, in den Falten hart und kantig, zeichnete sie die Figur wie unter einem weißen Totenlaken ab. Das war endlich sein alter Traum, den er bisher wegen Geldmangels nicht hatte verwirklichen können: eine aufrechte Figur, die »Badende«, von der mehr als zehn Entwürfe seit Jahren bei ihm herumstanden. In einer Stunde ungeduldiger Empörung hatte er selbst aus Besenstielen eine Art Gestell angefertigt, auf das notwendige Eisen verzichtend, in der Hoffnung, daß das Holz stark genug sein werde. Von Zeit zu Zeit rüttelte er daran, um die Festigkeit zu prüfen; doch das Gestell hatte sich bisher nicht gerührt. »Alle Wetter!« murmelte er; »das sitzt auf ihr wie ein Küraß; ein wenig Wärme wird ihr wohltun.« Die Leinwandtücher krachten unter seinen Fingern, und Eisschollen fielen zu Boden. Er mußte warten, bis die Tücher unter der Einwirkung der Wärme ein wenig auftauten; dann enthüllte er sie mit äußerster Vorsicht, zuerst den Kopf, dann die Brust, dann die Hüften, war glücklich, daß sie unberührt sei, und lächelte wie ein Verliebter beim Anblicke der Nacktheit des geliebten Weibes. »Was sagst du dazu?« Claude, der sie nur als Skizze gesehen hatte, nickte mit dem Kopfe, um nicht sogleich zu antworten. Der gute {{Mahou¬deau}} war entschieden ein Verräter geworden, unwillkürlich zur Anmut zurückgekehrt durch alle hübschen Sachen, die unter seinen plumpen Fingern eines ehemaligen Steinmetzen hervorkamen. Seit seiner kolossalen Winzerin hatte er sich an immer kleinere Figuren gemacht, ohne es selbst zu merken; er schrie noch immer sein Lieblingswort »Temperament«, aber er gab der Milde nach, mit der seine Augen sich füllten. Die Riesenbrüste nahmen kindliche Formen an, die Schenkel verlängerten sich zu eleganten Spindeln; es brach endlich die wahre Natur hervor, nachdem der übermäßig aufgeblähte Ehrgeiz nachgelassen. Obgleich noch immer übertrieben, war seine Badende doch von einem großen Reiz mit dem Frösteln ihrer Schultern, ihren beiden gekreuzten Armen, welche die Brüstchen hinaufschoben, verliebte Brüstchen, in seinem durch die Not verbitterten Verlangen nach dem Weibe geformt; notgedrungen keusch hatte er ein sinnliches Fleisch aus ihr gemacht, das ihn in Verwirrung brachte. »Also sie gefällt dir nicht?« fragte er mit verdrossener Miene. »Doch, doch ... Ich glaube, du tust recht, wenn du dein Werk ein wenig milderst, da es deinem Empfinden entspricht. Du wirst Erfolg damit haben. Ja, gewiß, es wird sehr gefallen.« {{Mahou¬deau}}, den solche Lobsprüche früher erschreckt hätten, schien jetzt entzückt. Er erklärte: er wolle das Publikum erobern, ohne etwas von seinen Überzeugungen preiszugeben. »Es gereicht mir zur Freude, daß du damit zufrieden bist; ich hätte sie zerschlagen, wenn du mir gesagt hättest, ich solle sie zerschlagen, bei meiner Ehre! Noch zwei Wochen Arbeit, dann verkaufe ich meine[[Besitz]] Haut dem erstbesten, der sie haben will, um den Formgießer zu bezahlen. Sprich: ich werde einen bedeutenden Erfolg in der Ausstellung haben; vielleicht gar eine Medaille!« Er ging dabei lachend in dem Räume umher. Dann unterbrach er sich und rief: »Wir haben Zeit; setze dich doch ... Ich warte, bis die Tücher ganz aufgetaut sind.« &&x Der Ofen begann rot zu werden und eine starke Hitze zu verbreiten. Die Badende, ganz nahe beim Ofen aufgestellt, schien sich zu beleben unter dem warmen Hauch, der ihr über den Rücken, von den Fußknöcheln bis zum Nacken emporstieg. Beide saßen jetzt vor ihr und fuhren fort, sie von der Vorderseite zu betrachten und sie in den Einzelheiten zu besprechen, bei jedem Teile ihres Körpers verweilend. Der Bildhauer wurde in seiner Freude immer erregter und schien sie mit einer Rundbewegung aus der Ferne zu liebkosen. Was? ist das ein Muschelbauch! und die schöne Falte in der Taille, welche die Schwellung der linken Hüfte verrät! Claude, dessen Augen noch immer auf den Bauch gerichtet waren, glaubte in diesem Augenblicke ein Traumgesicht zu haben. Die Badende bewegte sich, der Bauch war in einer leichten Wellenbewegung erbebt, die linke Hüfte hatte sich noch mehr gespannt, als solle das rechte Bein sich in Bewegung setzen. »Die kleinen Flächen, die nach den Lenden sich hinziehen,« fuhr {{Mahou¬deau}} fort, ohne etwas zu sehen. »Das habe ich sehr sorgfältig gemacht! Diese Haut, mein Lieber, ist der reine Samt!« Allmählich belebte sich die ganze Statue. Die Lenden rollten, die Brust schwoll an wie in einem tiefen Seufzer. Plötzlich neigte der Kopf sich vor, die Schenkel knickten ein, und sie fiel wie eine Lebende mit dem Entsetzen und dem leidvollen Schwung einer Frau, die sich hinabstürzt. Claude begriff endlich, als {{Mahou¬deau}} einen furchtbaren Schrei ausstieß. »Herrgott im Himmel! Es bricht, sie fällt zur Erde!« Der Ton hatte auftauend die allzu schwachen Hölzer des Gestells gesprengt. Es entstand ein Krachen und Knacken, wie wenn Knochen bersten. Mit derselben zärtlichen Bewegung, mit der er sie von fern geliebkost hatte, öffnete {{Mahou¬deau}} die beiden Arme auf die Gefahr hin, von der Figur zermalmt zu werden. Einen Augenblick schwankte sie, dann stürzte sie auf das Antlitz, bei den Fußknöcheln entzwei gebrochen, ihre Füße auf dem Brett zurücklassend. Claude war hinzugeeilt, um ihn zurückzuhalten. »Schafskopf, du wirst erschlagen!« Doch vor Angst zitternd, daß sie auf dem Boden in Trümmer gehe, war {{Mahou¬deau}} mit ausgestreckten Armen stehengeblieben. Sie[[1]] schien ihm an den Hals zu fallen, er fing sie auf, schloß die Arme um diese große, jungfräuliche Nacktheit, die sich beseelte wie unter dem ersten Erwachen des Fleisches. Er schien in sie einzudringen; der verliebte Busen druckte sich an seiner Schulter platt, die Schenkel schlugen an die seinigen, der Kopf rollte zur Erde. Die Erschütterung war so heftig, daß er bis an die Mauer geschleudert wurde; ohne den Rumpf loszulassen, blieb er betäubt neben der Figur liegen. »Schafskopf!« wiederholte Claude wütend, der ihn tot glaubte. {{Mahou¬deau}} richtete sich mühsam auf die Knie auf und brach in ein schmerzliches Schluchzen aus. Bei seinem Sturze hatte er sich bloß im Gesichte verletzt. Aus einer seiner Wangen floß Blut und vermengte sich mit seinen Tränen. »Ist das ein Jammer! Da soll man sich doch lieber gleich in der {{Seine}} ertränken, wenn man nicht soviel hat, um zwei Eisenstäbe zu kaufen. Da liegt sie ... da liegt sie ...« Er begann noch stärker zu schluchzen; es war eine Totenklage, der heulende Schmerz eines Liebhabers vor dem verstümmelten Leichnam der zärtlich Geliebten. Mit irren Händen betastete er die ringsherum verstreuten Glieder, den Kopf, den Leib, die gebrochenen Arme; die eingedrückte Brust, der abgeplattete Busen, der wie nach einer furchtbaren Krankheit operiert war, erstickte ihn schier, ließ ihn immer wieder dahin zurückkehren, die Wunde zu prüfen, den Riß zu suchen, durch den das Leben entflohen war; von neuem flössen die blutigen Zähren {{[Zähren]}} und färbten die Wunden rot. »Hilf mir doch!« stammelte er. »Man kann sie nicht so dalassen. Die Rührung hatte auch Claude ergriffen. Auch seine Augen wurden feucht in dem brüderlichen Gefühl des Künstlers. Er zeigte sich teilnahmsvoll, allein der Bildhauer, der soeben erst seine Hilfe angerufen, wollte allein die Trümmer zusammenlesen, als fürchte er, sie der rauhen Berührung eines andern auszuliefern. Langsam kroch er auf den Knien herum, nahm die Stücke eines nach dem andern, und legte sie nebeneinander auf ein Brett. Bald war die Figur wieder ganz, einer Selbstmörderin gleichend, die aus Liebesgram sich aus der Höhe hinabgestürzt, und die man zu einem jämmerlich-komischen Leichnam zusammengeflickt hat, um ihn nach der Totenhalle zu schaffen. Er saß jetzt wieder vor der Figur, wandte keinen Blick von ihr und versank in eine kummervolle Betrachtung. Doch allmählich hörte sein Schluchzen auf, und er sagte schließlich mit tiefem Seufzer: »Ich werde jetzt eine liegende Figur machen ... Es hat mir soviele Mühe gemacht, die Ärmste auf die Beine zu stellen, und ich fand sie so groß. Doch plötzlich ward Claude unruhig; er hatte die Hochzeit vergessen. {{Mahou¬deau}} mußte die Kleider wechseln. Da er keinen andern Leibrock besaß, mußte er sich mit einer Jacke begnügen. Nachdem die Figur mit Leinentüchern bedeckt war, wie man das Bahrtuch {{[Bahr¬tuch]}} über eine Tote breitete, eilten beide davon. Der Ofen summte; alles taute auf im Atelier, wo jetzt das Wasser floß und den Staub auf den alten Gipsabdrücken in flüssigen Schmutz verwandelte. &&x In Claudes Wohnung war nur mehr der kleine Hans unter der Obhut der Pförtnerin. Des Wartens müde war Christine mit den drei anderen Zeugen aufgebrochen; sie glaubte, es walte ein Mißverständnis ob: vielleicht hatte Claude ihr gesagt, er werde mit {{Mahou¬deau}} geradeaus zum Standesamt gehen. Diese beiden machten sich denn endlich auf den Weg, und erreichten die junge Frau und die Kameraden erst in der {{Drouot}}-Straße vor dem Standesamt. Sie[[1]] gingen zusammen hinauf und wurden oben wegen der Verspätung vom Saalhüter sehr unwirsch empfangen. Die Trauung wurde übrigens in einem vollständig leeren Saale binnen wenigen Minuten vollzogen. Der Standesbeamte leierte seine Formeln herunter, die beiden Gatten sagten kurz das übliche Ja, während die Zeugen sich über die Geschmacklosigkeit des Saales verwunderten. Draußen nahm Claude den Arm Christinens, und – das war alles. Es war ein angenehmer, klarer, kalter Wintertag. Die Schar trat langsam zu Fuße den Rückweg an, ging durch die Märtyrer-Straße, um sich nach dem Restaurant {{Clichy}} zu begeben. Man hatte für sie in einem kleinen Saal gedeckt, und das Frühstück gestaltete sich sehr freundschaftlich. Kein Wort wurde über die soeben vollzogene einfache Feier gesprochen; man redete die ganze Zeit von anderen Dingen wie bei ihren gewöhnlichen kameradschaftlichen Zusammenkünften. So geschah es, daß Christine, die trotz ihres scheinbaren Gleichmutes im Innern sehr bewegt war, drei Stunden lang ihren Gatten und die Kameraden von der »Badenden« {{Mahou¬deaus}} reden hörte. Seitdem die anderen die Geschichte wußten, verbreiteten sie sich über die geringsten Einzelheiten. Sandoz fand das Ereignis sehr erstaunlich: Jory und {{Gagnière}} sprachen über die Festigkeit der Gestelle; dem ersteren ging der Geldverlust nahe, der letztere zeigte an einem Sessel, daß man die Statue hätte aufrecht erhalten können. {{Mahou¬deau}}, noch immer erschüttert und wie erstarrt, klagte über eine schmerzliche Schwere der Glieder, die er nicht sogleich gefühlt hatte; ihm seien die Muskeln zerdrückt, die Haut zerquetscht, als komme er aus den Armen einer steinernen Geliebten. Christine wusch ihm die Wange, die neuerlich zu bluten begonnen hatte, und es war ihr, als habe diese verstümmelte Bildsäule sich mit ihnen zu Tische gesetzt, als habe sie allein Bedeutung an diesem Tage, als interessiere sie allein Claude leidenschaftlich; denn seine zwanzigmal wiederholte Erzählung war unerschöpflich in der Schilderung seiner Aufregung angesichts dieser tönernen Brüste und Hüften, die zertrümmert zu seinen Füßen gelegen. Beim Nachtisch war das Gespräch auf einen andern Gegenstand gelenkt. {{Gagnière}} sagte plötzlich zu Jory: »Ich habe dich Sonntag mit Mathilden gesehen ... Ja, ja, in der {{Dauphine}}-Straße.« Jory, der sehr rot geworden, versuchte zu leugnen; doch seine Nase zitterte, sein Mund legte sich in Falten, und er brach mit alberner Miene in ein Lachen aus. »Es war mir eine zufällige Begegnung ... Auf Ehre, ich weiß nicht, wo sie wohnt, ich würde es euch gesagt haben.« »Wie? Du hältst sie verborgen?« rief {{Mahou¬deau}}. »Du magst sie behalten, niemand wird sie zurückfordern.« Die Wahrheit war, daß Jory, mit all seinen vorsichtigen und geizigen Gewohnheiten brechend, Mathilde jetzt in einem kleinen Zimmer verborgen hielt. Sie[[1]] hatte ihn durch ihr Laster in ihrer Gewalt; er war im besten Zuge, mit dieser großmäuligen Dirne einen gemeinschaftlichen Haushalt zu führen, – er, der früher, um nicht zahlen zu müssen, – von den Straßen-Abenteuern lebte. »Bah, man nimmt sein Vergnügen, wo man es findet,« sagte Sandoz in philosophischer Nachsicht. »Das ist richtig,« erwiderte Jory einfach, indem er eine Zigarre anbrannte. Man verweilte lange; die Nacht war hereingebrochen, als man {{Mahou¬deau}} heimgeleitete, der entschieden verlangte, sich zu Bett legen zu dürfen. Als Claude und Christine Hans von der Pförtnerin abgeholt hatten und ihr Heim wieder betraten, fanden sie das Atelier kalt und so finster, daß sie lange herumtappten, ehe sie die Lampe anzünden konnten. Sie[[1]] mußten auch im Ofen Feuer machen; es schlug sieben Uhr, als es wieder behaglich geworden war. Aber sie hatten keinen Hunger und aßen einen Rest gekochten Rindfleisches nur, um das Kind zu ermutigen, seine Suppe zu essen; und als sie Hans zu Bett gebracht hatten, nahmen sie – wie an jedem andern Abend – ihre Plätze unter der Lampe ein. Christine hatte keine Arbeit zur Hand genommen; sie war zu sehr bewegt, um zu arbeiten. Sie[[1]] ließ die Hände müßig auf dem Tische ruhen und betrachtete Claude, der sich sogleich in eine Zeichnung versenkt hatte, die einen Teil seines Bildes darstellte, Arbeiter des Nikolaus-Hafens, mit dem Ausladen von Gips beschäftigt. Ein unwiderstehliches Brüten nahm sie gefangen: Erinnerungen und Reue tauchten auf und spiegelten sich in ihren umschleierten Augen; allmählich ward sie von einer wachsenden Traurigkeit, von einem großen, stummen Schmerze völlig durchdrungen inmitten dieser Gleichgültigkeit, dieser unendlichen Einsamkeit, in die sie so nahe bei ihm versunken war. Wohl war er noch immer da an der andern Seite des Tisches; aber sie fühlte, daß er fern sei, dort hinten vor der Spitze der Altstadt und noch weiter, in der unnahbaren Unendlichkeit der Kunst, jetzt so fern, daß sie ihn nie wieder erreichen werde. Wiederholt hatte sie versucht, ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen, jedoch ohne eine Antwort zu erhalten. Die Stunden gingen dahin, sie drohte, bei dem Nichtstun einzunicken, und zog schließlich ihr Geldtäschchen hervor, um ihr Geld zu zählen. »Weißt du, mit wieviel wir in den Ehestand eintreten?« Claude blickte nicht auf. »Wir haben neun {{Sous}} ... Welcher Jammer!« Er zuckte mit den Achseln und sagte endlich: »Laß gut sein, wir werden reich!« &&x Es trat wieder Stille ein, und Christine versuchte gar nicht, sie zu brechen; sie versenkte sich in die Betrachtung der neun {{Sous}}, die nebeneinander gereiht auf dem Tische lagen. Als es Mitternacht schlug, schauerte sie zusammen, schier krank durch das Warten und die Kälte. »Gehen wir schlafen?« flüsterte sie. »Ich halte mich nicht länger aufrecht.« Er war dermaßen in seine Arbeit versunken, daß er ihre Worte nicht hörte. »Der Ofen ist kalt, wir werden krank; laß uns zu Bette gehen,« sagte sie wieder. Diese flehende Stimme rüttelte ihn auf; ihn erfaßte eine plötzliche Erbitterung. »Ei, lege dich doch schlafen, wenn du willst! ... Du siehst doch, daß ich etwas beenden will.« Einen Augenblick blieb sie noch da, schmerzlich betroffen durch diesen Ausbruch seines Zornes. Als sie begriff, daß sie ihm lästig war, daß ihre bloße Anwesenheit als unbeschäftigte Frau ihn außer sich brachte, verließ sie den Tisch und ging zu Bette, wobei sie die Tür weit offen ließ. Eine halbe Stunde, drei Viertelstunden verflossen: kein Geräusch, nicht ein Hauch kam aus dem Zimmer; aber sie schlief nicht, sie lag auf dem Rücken mit offenen Augen in dem dunklen Raume; endlich wagte sie einen letzten Ruf. »Ich erwarte dich, Männchen; komm' doch schlafen, ich bitte dich.« Ein Fluch war die Antwort. Nichts mehr rührte sich; sie war vielleicht eingeschlafen. Im Atelier ward es immer kälter, der verkohlte Docht der Lampe brannte mit roter Flamme; während Claude, über seine Zeichnung gebeugt, das Bewußtsein von den langsam dahinfließenden Minuten verloren zu haben schien. Um zwei Uhr erhob sich Claude wütend, daß die Lampe, in der das Öl ausgebrannt war, zu erlöschen drohte. Er hatte nur noch soviel Zeit, sie in das Zimmer zu tragen, um sich nicht im Finstern auskleiden zu müssen. Doch seine Unzufriedenheit wuchs noch, als er Christine mit offenen Augen fand. »Wie? Du schläfst nicht?« »Nein, ich bin nicht schläfrig.« »Ach ja, das ist ein Vorwurf ... Ich sagte dir schon zwanzigmal, wie sehr es mich ärgert, wenn du mich erwartest.« Als die Lampe erloschen war, streckte er sich im Finstern neben ihr aus. Sie[[1]] bewegte sich noch immer nicht; er gähnte zweimal, von Müdigkeit überwältigt. Beide blieben wach, aber sie fanden sich nichts zu sagen. Er durchkältete das Bett mit seinen kalten, starren Beinen. Endlich rief er nach langem Brüten und als schon der Schlaf ihn überkam, plötzlich in die Höhe fahrend aus: »Das Erstaunlichste ist, daß sie sich den Bauch nicht eingedrückt hat. Ein schöner Bauch!« »Wer denn?« fragte Christine entsetzt. »{{Mahou¬deaus}} Figur!« Sie[[1]] fuhr jäh zusammen, wandte sich um und vergrub den Kopf in den Kissen. Er war höchlich betroffen, als er sie in Tränen ausbrechen hörte. »Was? Du weinst?« Sie[[1]] erstickte schier; sie schluchzte so heftig, daß die Matratze dadurch geschüttelt wurde. »Was hast du denn? Ich habe doch nichts gesagt ... Sprich, Liebste!« Doch während er zu ihr sprach, erriet er jetzt die Ursache dieses großen Kummers. Gewiß, an einem Tage wie dem heutigen hätte er gleichzeitig mit ihr zu Bett gehen sollen; aber er war ganz unschuldig, er hatte an so etwas nicht gedacht. Sie[[1]] kannte ihn ja; er ward zum Tier, wenn er bei der Arbeit war. »Aber, Liebste, wir sind doch nicht seit gestern beisammen ... Ja, du hast es dir so in deinem Köpfchen zurechtgelegt. Du wolltest die Neuvermählte sein, nicht wahr? Nun, weine nicht; du weißt ja, daß ich nicht schlecht bin ...« Er hatte sie in seine Arme genommen, und sie überließ sich ihm; allein vergebens umfingen sie sich, die Leidenschaft war tot. Sie[[1]] begriffen es, als sie einander losließen und wieder Seite an Seite ausgestreckt lagen; sie waren sich fortan fremd und empfanden, daß es ein Hindernis zwischen ihnen gebe, einen andern Körper, dessen Kälte sie schon zur Zeit des leidenschaftlichen Beginns ihres Verhältnisses an gewissen Tagen gestreift hatte. Fortab würden sie einander nimmermehr angehören. Es gab etwas Nichtwiedergutzumachendes zwischen ihnen; ein Bruch, eine Leere war entstanden. Die Gattin galt weniger als die Geliebte; die Eheschließung schien die Liebe getötet zu haben. &&x &&ns &&am &&g="Neuntes_Kapitel." &&fa Neuntes Kapitel. &&fe &&ax &&lg=x Claude, der sein großes Bild nicht in dem kleinen Atelier der {{Douai}}-Straße malen konnte, beschloß anderswo eine Scheune in genügender Größe zu mieten. Er fand das Gesuchte bei einer Wanderung auf der Höhe von Montmartre in der {{Tour¬laque}}-Straße, die hinter dem Friedhofe hinabsteigt, und von wo man einen Ausblick auf {{Clichy}} hat bis zu den Sümpfen von {{Genne¬villiers}}. Es war die ehemalige Trockenkammer eines Färbers, eine Baracke von fünfzehn Meter Länge und zehn Meter Breite, deren Bretter und Gipsanwurf dem Winde von allen Seiten freien Zutritt gestatteten. Man vermietete ihm die Scheune für dreihundert Franken. Der Sommer war im Anzuge; er gedachte sein Bild rasch fertig zu bringen und dann die Räumlichkeit zu kündigen. In seinem Arbeits- und Hoffnungsfieber entschloß er sich, fortan alle notwendigen Ausgaben zu machen. Da das Glück sicher war, warum ihm durch unnötige Vorsicht Hindernisse bereiten? Von seinem Rechte Gebrauch machend, nahm er von dem Kapital seiner Rente tausend Franken; er gewöhnte sich bald, davon zu nehmen, ohne zu rechnen. Anfänglich hielt er es vor Christine geheim, denn sie hatte ihn schon zweimal daran gehindert; als er es ihr endlich sagen mußte, gab es acht Tage hindurch Vorwürfe und Besorgnisse, dann gewöhnte auch sie sich daran, glücklich über den Wohlstand, in dem sie lebte, überwunden durch die Annehmlichkeit, stets Geld in der Tasche zu haben. Es waren einige Jahre behaglichen Sichgehenlassens. Bald lebte Claude nur noch für sein Bild. Er hatte das große Atelier oberflächlich eingerichtet: zwei Sessel, sein altes Sofa vom Bourbon-Ufer, ein Tisch von Fichtenholz, den er bei einer Trödlerin für fünf Franken erstanden hatte. Bei der Ausübung seiner Kunst fehlte ihm die Eitelkeit einer luxuriösen Einrichtung. Seine einzige Ausgabe war eine Leiter auf Rädern, mit einer Plattform und einem beweglichen Schemel versehen. Dann beschäftigte er sich mit der Leinwand, die er acht Meter lang, fünf Meter hoch haben wollte; er versteifte sich darauf, sie selbst vorzubereiten, bestellte den Rahmen, kaufte die Leinwand ohne Naht; zwei Kameraden und er hatten große Mühe, sie mittelst Zangen aufzuspannen; sodann begnügte er sich, sie mit einer Schichte Bleiweiß zu belegen und verschmähte es, sie zu leimen, damit sie einsauge, was – wie er sagte – die Malerei hell und fest mache. An eine Staffelei war nicht zu denken, man hätte daran eine so große Leinwand nicht handhaben können. Er ersann daher ein System von Balken und Stricken, das die Leinwand an der Mauer ein wenig geneigt unter einem kräuselnden Lichte festhielt. Die Leiter rollte vor dieser großen weißen Leinwand hin und her: es war ein ganzes Gebäude, ein riesiges Gerüst vor dem zu errichtenden Werke. Doch als alles bereit war, ward er von Bedenken erfaßt. Ihn quälte der Gedanke, daß er bei seinen Studien nach der Natur nicht das beste Licht gewählt habe. Eine Morgenbeleuchtung würde vielleicht besser taugen? vielleicht hätte er ein trübes Wetter wählen sollen? Er kehrte zur Brücke der heiligen Väter zurück und lebte noch weitere drei Monate daselbst. Zu jeder Stunde und bei jedem Wetter erhob sich die Altstadt vor ihm, zwischen den beiden Läufen des Flusses. Bei einem verspäteten Schneefall sah er sie im Hermelinpelze über dem schmutzfarbigen Wasser, von einem schiefergrauen Himmel sich abhebend. Er sah sie in den ersten sonnigen Frühlingstagen von der winterlichen Nässe trocknen, ihre Jugend wiederfinden, mit den grünen Trieben der großen Bäume auf dem Damme. An einem Nebeltage sah er sie zurückweichen, im Dunst verloren, leicht und zitternd wie ein traumhafter Palast. Ein andermal kamen Platzregen, die sie überschwemmten, und sie verbarg sich hinter den ungeheuren Vorhang, der vom Himmel bis zur Erde reichte; dann wieder brachen Gewitterstürme herein, deren Blitze sie rötlichgelb zeigten, in dem fahlen Lichte eines Hohlweges, gleichsam halb zerstört durch den Niedersturz der großen kupferfarbenen Wolken; dann wehten raue Winde, die sie durchbrausten, die Ecken verschärften, und die Stadt trocken, nackt, gepeitscht im blassen Blau der Luft abzeichneten. Manchmal, wenn die Sonne in den Dünsten der {{Seine}} zerstäubte, badete die Stadt in dieser unermeßlichen Helle ohne einen Schatten, überall gleichmäßig beleuchtet, von der reizenden Zartheit eines geschliffenen Edelsteines in feinstem Golde. Er wollte sie bei Sonnenaufgang sehen, wie sie aus den morgendlichen Nebeldünsten auftauchte, wenn das Uhrenufer sich rot färbt, das Goldschmiedufer aber noch die Bürde der Dunkelheit trägt; schon ganz lebendig unter dem rosigen Himmel, lebendig durch das schimmernde Erwachen ihrer Türme und Blitzableiter, während die Nacht langsam von den Gebäuden herabsinkt gleich einem fallenden Mantel. Er wollte sie zu Mittag sehen unter den senkrechten Strahlen der Sonne, von dem grellen Lichte übergossen, farblos und stumm wie eine tote Stadt, nur durch die Hitze lebend, durch den Schauer, der die fernen Dächer bewegte. Er wollte sie bei Sonnenuntergang sehen, wenn die allmählich aus dem Flusse aufsteigende Nacht wieder Besitz von ihr ergreift; mir dem Widerschein eines erlöschenden Kohlenfeuers an den Kanten der Denkmäler und dem letzten Aufflammen des Feuerballs an den Fensterscheiben und Häusern. Doch angesichts dieser zwanzig so verschiedenen Städte – je nachdem die Stunde und das Wetter war – kehrte er immer wieder zu jener Altstadt zurück, die er zum erstenmal gegen vier Uhr an einem schönen September-Abend gesehen, jene freundliche Stadt unter einem leichten Abendwind, jenes Herz von Paris, das in der durchsichtigen Luft pulsierte, gleichsam erweitert durch den unendlichen Himmel, an dem ein Schwarm kleiner Wölkchen dahinzog. &&x Da verbrachte im Schatten der Brücke der heiligen Väter Claude seine Tage. Dort suchte er Schutz; er hatte sein Haus, sein Obdach daraus gemacht. Das unaufhörliche Rollen der Wagen, einem fernen Donnergrollen gleichend, störte ihn nicht mehr. An die Stützmauer des ersten Bogens gelehnt, unter dem riesigen Eisengebälk, entwarf er Skizzen, malte er Studien. Er fand sich niemals genügend unterrichtet, zeichnete dieselbe Einzelheit zehnmal. Die Schifffahrtsbeamten, deren Büros in der Nähe standen, kannten ihn schon; das Weib eines Aufsehers, das mit seinem Manne, zwei Kindern und einer Katze eine mit Teer bestrichene Kabine bewohnte, nahm seine frischgemalten Skizzen in Verwahrung, damit er sie nicht alle Tage durch die Straßen schleppen müsse. Er fand seine Freude an diesem Zufluchtsorte unter diesem Paris, das oben grollte, dessen glühendes Leben er über seinem Haupte fühlte. Vor allem interessierte er sich leidenschaftlich für den Nikolaus-Hafen, der mitten im Institutsviertel die unablässige Tätigkeit eines Seehafens zeigte. Der Dampfkrahn »Sophie« war in voller Arbeit und lud Steinblöcke aus; Karren wurden mit Sand beladen; Menschen und Tiere zogen und keuchten die gepflasterte schiefe Uferböschung hinan, vor welcher zwei Reihen Kähne und Zillen verankert lagen. Wochenlang oblag er einer Studie: Arbeiter, die eine Gipsladung löschten, die weißen Säcke auf den Schultern hinaufschleppten, einen weißen Weg hinter sich zurückließen, selbst auch ganz bestaubt waren, während näher zu ihm ein leeres Kohlenschiff einen breiten schwarzen Fleck auf dem Ufer zurückgelassen hatte. Dann nahm er ein Bild des kalten Bades am linken Ufer auf, ebenso eines Waschhauses im zweiten Felde, der offenen Fenster, der in einer Reihe am Flusse knienden und auf ihr Linnen losschlagenden Wäscherinnen. In der Mitte studierte er eine Barke, die von einem Schiffsknechte am Riemen geführt wurde; dann weiter hinten einen Lastendampfer, der keuchend und pustend eine Ladung Fässer und Hölzer schleppte. Den Hintergrund hatte er seit langer Zeit; dennoch begann er einzelne Stücke von neuem, so die beiden Läufe der {{Seine}}, einen weiten, leeren Himmel, unter dem es noch keine in der Sonne glänzenden Türme und Blitzableiter gab. Unter der gastfreundlichen Brücke störte ihn in diesem Winkel, so weltverloren wie eine ferne Bergschlucht, nur selten ein Neugieriger; die Angler gingen mit gleichgültiger Mißachtung vorüber; er hatte keinen andern Gefährten als die Katze des Aufsehers, die in der Sonne sich putzte, ruhig und unbekümmert um den Lärm da oben. Endlich hatte Claude alle seine Kartons. In einigen Tagen warf er eine Gesamt-Skizze hin, und das große Werk war in Angriff genommen. Allein den ganzen Winter hindurch währte zwischen ihm und seiner ungeheuren Leinwand eine erste Schlacht; er versteifte sich darauf, selbst die erste Quadratanlage seines Bildes zu machen, und brachte dies nicht zuwege; die geringste Abweichung von diesem mathematischen Grundriß, mit dem er nicht vertraut war, verwickelte ihn in fortwährende Irrtümer. Dies entrüstete ihn. Er ging darüber hinweg, behielt sich die Verbesserungen für später vor, bedeckte ungestüm seine Leinwand, von einem solchen Fieber ergriffen, daß er ganze Tage auf seiner Leiter lebte, riesige Pinsel handhabend und eine Muskelkraft aufwendend, mit der man hätte Berge versetzen können. Am Abend taumelte er wie ein Betrunkener; kaum hatte er seinen letzten Bissen gegessen, so fiel er schlaftrunken hin wie ein vom Blitz Getroffener, und seine Frau mußte ihn zu Bett bringen wie ein Kind. Aus dieser Heldenarbeit ging eine herrliche Skizze hervor, eine jener Skizzen, wo im wirren Durcheinander der Töne das Genie aufflammt. {{Bongrand}}, der gekommen war, um sie zu besichtigen, schloß den Maler in seine Arme und küßte ihn stürmisch, wobei ihm die Tränen in den Augen standen. Sandoz war begeistert und gab ein Essen; die anderen, Jory, {{Mahou¬deau}}, {{Gagnière}} verbreiteten abermals die Ankündigung eines Meisterwerkes; was {{Fage¬rolles}} betrifft, so blieb er einen Augenblick unbeweglich, dann brach er in Glückwünschen aus; er fand es zu schön. Als hätte dieser Spott eines ungeschickten Mannes ihm Unglück gebracht, verdarb Claude fortan seine Skizze. Es war seine ewige Geschichte: er gab sich mit einem Schlage, in einem prächtigen Anlaufe aus; den Rest brachte er nicht mehr zustande, er konnte kein Ende finden. Sein Unvermögen begann von neuem, er lebte zwei Jahre vor dieser Leinwand, hatte für nichts anderes Gedanken, bald im Himmel in unsagbarer Verzückung lebend, bald am Boden liegend so elend, dermaßen von Zweifeln zerrissen, daß die Sterbenden in den Spitalsbetten glücklicher waren als er. Zweimal schon konnte er zur Ausstellung nicht fertig werden; denn immer traten im letzten Augenblick, wenn er in einigen Sitzungen das Bild zu beendigen hoffte, Lücken zu Tage, und er fühlte das ganze Bild unter den Händen zusammenbrechen. Bei dem Herannahen des dritten Salons hatte er eine furchtbare Krise; er ließ zwei Wochen vergehen, ohne sein Atelier in der {{Tour¬laque}}-Straße aufzusuchen; als er wieder daselbst erschien, war ihm zumute wie einem, der ein vom Tode geleertes Haus betritt: er wandte die große Leinwand zur Mauer um und rollte die Leiter in einen Winkel; er hätte alles zerschlagen und verbrannt, wenn seine ermattenden Hände die nötige Kraft gefunden hätten. Allein nichts existierte mehr für ihn; ein Zornessturm war über die Dielen hinweggestürmt, und Claude sprach davon, sich an kleine Sachen zu halten, da er unfähig sei, große Arbeiten zu verrichten. Wider seinen Willen führte ihn sein erster Plan, ein kleineres Bild zu machen, wieder hinunter vor die Altstadt. Warum sollte er nicht eine bloße Ansicht von ihr, auf einer Leinwand von mittlerer Größe geben? Doch eine gewisse Scham, vermischt mit einer seltsamen Eifersucht, hinderte ihn, sich unter der Brücke der heiligen Väter niederzulassen; ihm war, als sei dieser Ort jetzt geheiligt, als dürfe er die Jungfräulichkeit seines großen Werkes, selbst wenn es tot sei, nicht beflecken. Er richtete sich am Ende der Uferböschung ein, wo sie zum Nikolaus-Hafen ansteigt. Diesmal arbeitete er wenigstens unmittelbar nach der Natur; er freute sich, nicht täuschen zu müssen, wie es verhängnisvollerweise bei der übermäßig großen Leinwand geschehen muß. Das kleine Bild, sehr sorgfältig gemalt und besser ausgeführt als die früheren, hatte indes das Schicksal der anderen: es wurde von den Richtern zurückgewiesen, die entrüstet waren über diese Malerei »mit einem berauschten Besen« wie die Worte lauteten, die in den Ateliers die Runde machten. Der Backenstreich war umso empfindlicher, als man von Zugeständnissen an die »Schule« gesprochen, die er gemacht habe, um zugelassen zu werden. Der gekränkte Maler weinte vor Wut, und als sein Bild zurückkam, zerriß er es in kleine Stücke und warf sie in den Ofen. Es genügte ihm nicht mehr, das Bild mit einem Messerstich zu töten, er mußte es vernichten. &&x Ein weiteres Jahr ging für Claude mit unbedeutenden Arbeiten hin. Er arbeitete aus Gewohnheit, beendete nichts, sagte selbst mit einem schmerzlichen Lächeln, daß er sich verloren habe und sich suche. Das beharrliche Bewußtsein von seinem Genie ließ ihn in seinem Innersten eine unverwüstliche Hoffnung bewahren selbst während der langen Anfälle von Niedergeschlagenheit. Er litt wie ein Verdammter, der ewig den Fels bergauf rollt, der immer wieder niederfährt und ihn zu zermalmen droht. Allein ihm blieb die Zukunft, die Gewißheit, eines Tages des Fels mit beiden Fäusten zu ergreifen und in die Sterne zu schleudern. Man sah endlich seine Augen in Leidenschaft aufflammen und erfuhr, daß er sich abermals in der {{Tour¬laque}}-Straße einschloß. Er, den ehemals der weite Traum von dem künftigen Werke stets über das gegenwärtige Werk hinaustrug, stieß jetzt mit der Stirn wieder an diesen Vorwurf, an die Altstadt. Es war der unabweisliche Gedanke, der Balken, der sein Leben schloß. Bald sprach er wieder ganz frei, in einem neuen Aufflammen seiner Begeisterung mit dem Frohmut eines Kindes davon, daß er endlich gefunden habe und daß er des Sieges sicher sei. Claude, der bisher seine Tür verschlossen gehalten, ließ jetzt Sandoz eintreten. Dieser fand eine Skizze, ohne Modell und doch sehr kräftig gemalt, bewunderungswürdig in der Farbengebung. Der Vorwurf war der nämliche: links der Nikolaus-Hafen, rechts die Schwimmschule, im Hintergrunde die {{Seine}} und die Altstadt. Allein er war sehr betroffen, als er an der Stelle der von einem Schiffsknecht geführten Barke eine andere Barke sah, die sehr groß die ganze Mitte der Komposition einnahm und mit drei Frauen besetzt war: eine im Badeanzug am Ruder; eine zweite am Rande sitzend, mit den Beinen im Wasser, das Leibchen halb zerrissen, so daß es die Schultern sehen ließ; die dritte, ganz nackt, aufrecht am Steuer, von einer so glänzenden Nacktheit, daß sie strahlte wie eine Sonne. »Welch ein Gedanke!« murmelte Sandoz. »Was machen die Frauen da?« »Sie[[1]] baden,« antwortete Claude ruhig. »Du siehst ja, daß sie aus dem kalten Bade kommen. Das liefert mir ein Motiv des Nackten. Eine wahre Entdeckung, wie?... Nimmst du vielleicht Anstoß daran?« Sein alter Freund, der ihn kannte, zitterte davor, ihn wieder in seine Zweifel zu schleudern. »Ich? nein... Allein ich fürchte, das Publikum wird wieder nicht begreifen. Dieses nackte Weib mitten in Paris ist nicht wahrscheinlich.« Der Maler war erstaunt. »Du glaubst,« sagte er treuherzig. »Umso schlimmer! Was tut das, wenn sie nur gut gemalt ist? Ich brauche es, um mich anzufeuern.« Die folgenden Tage kam Sandoz schonend auf diese seltsame Zusammenstellung zurück, indem er – von seiner Natur gedrängt – die Sache der beleidigten Logik verfocht. Wie konnte ein moderner Maler, der sich einbildet, nur Wirklichkeiten zu malen, ein Werk verderben, indem er solche Einfälle einführte? Es war so leicht, andere Vorwürfe zu wählen, bei denen das Nackte sich als Notwendigkeit ergeben hätte! Allein Claude war eigensinnig und gab falsche, gewaltsame Erklärungen; er wollte den wahren Grund nicht gestehen, einen Gedanken, den er hegte, aber so wenig klar, daß er ihn nicht deutlich hätte aussagen können; ihn plagte ein geheimer Symbolismus, dieses alte Nachgras {{[Nachgras?]}} des Romantismus, das ihn in dieser Nacktheit das Fleisch von Paris selbst verkörpern ließ, die nackte und leidenschaftliche Stadt. Er setzte wieder seine eigene Leidenschaft daran, seine Vorliebe für schöne Bäuche, für kräftige Schenkel und Brüste, wie er deren mit vollen Händen zu schaffen glühte, auf daß seine Kunst immerfort erzeuge. Die eindringliche Begründung seines Freundes schien ihn indessen wankend zu machen. »Gut, ich will sehen, ich bekleide mein Weibchen später, wenn es dich stört... Aber ich werde sie immer so machen; es macht mir Spaß; verstehst du?« In seinem dumpfen Eigensinn sprach er nie wieder darüber; er begnügte sich mit den Achseln zu zucken und verlegen zu lächeln, wenn er aus einer Anspielung das Erstaunen aller erfuhr über diese Venus, die siegreich aus dem Schaume der {{Seine}} entstand zwischen den Omnibussen der Ufer und den Lastträgern des Nikolaus-Hafens. Der Frühling war gekommen, und Claude wollte sich wieder an sein großes Bild machen, als ein an einem Tage kluger Vorsicht gefaßter Entschluß eine Veränderung in dem Leben des Ehepaares herbeiführte. Zuweilen war Christine unruhig wegen all des Geldes, das sie so schnell ausgeben, wegen der Summe, um die sie unaufhörlich das Kapital verringerten. Man zählte nicht mehr, seitdem die Quelle unerschöpflich schien. Nach vier Jahren erfuhren sie eines Morgens, als sie Rechnungslegung verlangten, zu ihrem Entsetzen, daß ihnen von ihren zwanzigtausend Franken kaum dreitausend geblieben waren. Sogleich stürzten sie sich in eine übertriebene Sparsamkeit, beschnitten das tägliche Brot und beschlossen, selbst die nötigsten Bedürfnisse aufzugeben. In dieser ersten Aufwallung ihres Opfermutes gaben sie die Wohnung in der {{Douai}}-Straße auf. Wozu zwei Wohnungsmieten? Die alte Trockenscheune in der {{Tour¬laque}}-Straße, die noch von dem Tünchwasser bespritzt war, bot Raum genug, um dort das Leben dreier Menschen einzurichten. Die Einrichtung ging nichtsdestoweniger nur mühsam von statten, denn diese Halle von fünfzehn Meter Länge und zehn Meter Breite bot ihnen eben nur ein Gelaß, einen Schuppen für Zigeuner, die alles gemeinsam machen. Da der Eigentümer sich ablehnend verhielt, mußte Claude selbst in einem Winkel des Schuppens eine Wand aufführen lassen, hinter der eine Küche und eine Schlafkammer hergestellt wurden. Sie[[1]] waren entzückt von dieser Anordnung trotz der Risse im Dache, durch welche der Wind hereinblies; an Gewittertagen mußten sie Schüsseln aufstellen, um das Regenwasser aufzufangen. Die Wohnung war von einer trübseligen Leere; ihre wenigen Möbel verloren sich an den kahlen Mauern. Sie[[1]] waren stolz, so bequem zu wohnen; sie sagten den Freunden, der kleine Hans werde wenigstens Raum haben, sich ein wenig herumzutummeln. Der arme Kerl wollte trotz seiner vollen neun Jahre nicht recht wachsen; nur sein Kopf ward immer größer; in keiner Schule hielt er es länger als acht Tage aus; das Lernen machte ihn krank; so ließen sie ihn denn zumeist ganz frei in allen Winkeln des Hauses herumkriechen. &&x Christine, die schon seit langer Zeit sich in die tägliche Arbeit ihres Gatten nicht hineingemengt hatte, durchlebte jetzt neuerlich mit ihm jede Stunde seiner langen Sitzungen. Sie[[1]] half ihm die alte Leinwand abkratzen und mit Bimsstein abreiben; sie gab ihm Ratschläge, wie er sie stärker an der Mauer befestigen konnte. Allein sie mußten ein Unglück wahrnehmen: die rollende Leiter war infolge der durch das Dach eingedrungenen Nässe aus den Fugen gegangen; und aus Furcht vor einem Sturze mußte er sie durch einen eichenen Querbalken befestigen, wobei sie ihm einzeln die Nägel hinaufreichte. Jetzt war zum zweitenmal wieder alles bereit. Sie[[1]] sah ihm zu, wie er die neue Skizze anlegte, stand hinter ihm, bis sie vor Ermüdung schier umsank; dann ließ sie sich zur Erde gleiten und verblieb so in hockender Stellung, um ihm noch weiter zuzuschauen. Ach, wie gern hätte sie ihn dieser Malerei wieder abgerungen, die ihn ihr genommen hatte! Deshalb ward sie seine Magd und war glücklich, sich zu Handlangerarbeiten zu erniedrigen. Seitdem sie wieder an seiner Arbeit teilnahm – wobei alle drei: er, sie und die Leinwand, beisammen lebten – ward sie von einer Hoffnung beseelt. Habe sie ihn verloren, als sie einsam in ihrer Wohnung in der {{Douai}}-Straße weinte, während er seine Zeit in der {{Tour¬laque}}-Straße in wilder Ehe mit seiner Leinwand erschöpft wie bei einer Geliebten zubrachte, so werde sie ihn vielleicht jetzt wiedererobern, da nunmehr auch sie – mit ihrer Leidenschaft – gegenwärtig sei. Mit welch eifersüchtigem Hasse verabscheute sie diese Malerei! Es war nicht mehr ihre ehemalige Empörung einer kleinen Bürgerin, die Aquarelle malt, gegen diese freie, stolze und rücksichtslose Kunst. Nein, sie hatte sie allmählich begriffen und anfänglich ihr näher gebracht durch ihre Liebe zu dem Maler, später gewonnen durch das üppige Licht, durch den originellen Reiz dieser blonden Töne. Heute fand sie alles richtig: die fliederfarbenen Bodenflächen und die blauen Bäume. Es kam allmählich dahin, daß sie respektvoll zitterte vor diesen Werken, die ihr ehemals so abscheulich geschienen. Sie[[1]] fand sie mächtig und behandelte sie als Nebenbuhlerinnen, über die man nicht mehr lachen durfte. Mit ihrer Bewunderung wuchs auch ihr Groll; sie war entrüstet, dieser Hintansetzung ihrer selbst beizuwohnen, dieser andern Liebe, die sie im eigenen Hause beschimpfte. Anfänglich war es ein geheimer, jede Minute sich erneuernder Kampf. Sie[[1]] drängte sich auf, schob jeden Augenblick etwas von ihrem Körper – was sie eben konnte, eine Schulter, eine Hand – zwischen den Maler und sein Gemälde. Sie[[1]] war immer da, hüllte ihn in ihren Atem ein, erinnerte ihn, daß er der ihre sei. Dann kam sie auf ihre ehemaligen Gedanken zurück, daß auch sie malen, ihn in seinem Kunstfieber selbst wiederfinden werde. Einen Monat hindurch trug sie eine Bluse und arbeitete wie eine Schülerin neben dem Meister, von dem sie eine Studie sehr gelehrig kopierte. Sie[[1]] gab es erst wieder auf, als sie sah, daß ihr Versuch zu einem Ziele führte, das ihren Absichten geradesweges zuwider war, denn er vergaß jetzt vollends das Weib in ihr, gleichsam getäuscht durch diese gemeinsame Arbeit auf dem Fuße bloßer Kameradschaft wie ein Mann mit dem andern. Sie[[1]] kehrte also zu ihrer einzigen Macht zurück. Schon bei seinen letzten Bildern hatte Claude, um seine kleinen Figuren auf die Leinwand zu bringen, nach Christine Andeutungen genommen: einen Kopf, eine Armbewegung, eine Körperhaltung. Er warf ihr einen Mantel über die Schulter, er hielt sie bei einer Bewegung fest und rief ihr zu, sich nicht zu rühren. Dies waren Dienste, die ihm zu erweisen sie glücklich machte, wenngleich es ihr widerstrebte, sich zu entkleiden, weil diese Modelltätigkeit sie, die jetzt seine Frau war, verletzte. Als er eines Tages einen Schenkelansatz brauchte, weigerte sie sich; nachher willigte sie ein, aber verschämt, und nur nachdem sie die Tür fest verschlossen aus Furcht, daß man in Kenntnis der Rolle, zu der sie herabstieg, sie auf allen Gemälden ihres Gatten nackt suchen könne. Noch hörte sie das beleidigende Gelächter der Kameraden und selbst Claudes, ihre »saftigen« Spaße, wenn sie von den Bildern eines Malers sprachen, der sich seiner Frau einzig in dieser Weise bediente; es waren sauber geleckte Nacktheiten für die Spießbürger, und man fand sie da unter allen Gesichtern wieder mit wohlbekannten Eigentümlichkeiten, einem allzu langen Lendenfortsatz, einem zu hoch sitzenden Bauch; mit einem Worte: sie spazierte so gut wie ohne Hemd durch das vergnügt lächelnde Paris, wenn sie bekleidet, gepanzert, bis an das Kinn zugeknöpft, in dunkeln, hoch geschlossenen Kleidern einherging. Doch seitdem Claude seine weibliche Hauptfigur, welche die Mitte seines Bildes einnehmen sollte, breit hingestellt hatte, betrachtete Christine nachdenklich diese undeutlichen Umrisse, von einem beharrlichen Gedanken durchdrungen, vor dem ihre Bedenken nacheinander schwanden. Als er davon sprach, sich ein Modell zu nehmen, bot sie sich an. »Wie, du? Aber du tust ja schon beleidigt, wenn ich deine Nasenspitze verlange!« Sie[[1]] lächelte verlegen. » Meine[[Besitz]] Nasenspitze! Habe ich dir doch Modell gesessen für deine Figur im »Freilicht« zu einer Zeit, als es zwischen uns noch keinerlei Gemeinschaft gab! Ein Modell wird dir sieben Franken für jede Sitzung kosten; wir sind nicht reich und wollen dieses Geld ersparen.« Der Gedanke zu sparen entschied sogleich bei ihm. »Ich bin einverstanden, und es ist sehr hübsch von dir, daß du den Mut hast, denn du weißt, daß es kein müßiger Zeitvertreib ist, mir Modell zu stehen. Gleichviel gestehe es nur, Närrchen: Du hast Furcht, daß ein anderes Weib hierher kommt; du bist eifersüchtig.« Eifersüchtig! Ja, das war sie, und sie litt tödlich darunter. Aber sie kümmerte sich wenig um die anderen Frauen; alle Modelle von Paris mochten sich hier entkleiden. Sie[[1]] hatte nur eine Nebenbuhlerin: diese bevorzugte Malerei, die ihr ihren Geliebten stahl. Ach, ihr Kleid hinwerfen, alles bis zum letzten Linnen hinwerfen und sich ihm nackt anheimgeben, tagelang, wochenlang, nackt unter seinen Blicken leben und ihn so wiedergewinnen und davontragen, wenn er wieder in ihre Arme sinke! Hatte sie ihm denn etwas anderes anzubieten als sich selbst? War er nicht berechtigt, dieser letzte Kampf, in dem sie ihren Körper einsetzte und nach dem sie nichts, nichts als ein reizloses Weib sein werde, wenn sie sich besiegen lasse? Claude war entzückt und machte nach ihr zuerst eine Studie für sein Bild in der erforderlichen Stellung. Sie[[1]] warteten, bis Hans zur Schule gegangen war, schlossen sich ein, und die Sitzung dauerte dann stundenlang. Die ersten Tage litt Christine sehr durch die Unbeweglichkeit; dann gewöhnte sie sich daran, wagte nicht mehr zu klagen aus Furcht, ihn zu erzürnen, und hielt ihre Tränen zurück, wenn er sie stieß. Die Gewohnheit hatte es bald dahin gebracht, daß er sie als einfaches Modell behandelte und mehr von ihr forderte, als wenn er sie bezahlt hätte, ohne jemals zu fürchten, daß er Mißbrauch mit ihrem Körper treibe, da sie ja seine Frau war. Er verwendete sie zu allem, ließ sie jeden Augenblick sich entkleiden für einen Arm, für einen Fuß, für die geringste Einzelheit, der er bedurfte. Es war ein Beruf, zu dem er sie erniedrigte, eine Verwendung als lebende Probierpuppe, die er hinstellte und kopierte, wie er den Krug oder den Kochkessel eines Naturstückes kopiert haben würde. &&x Diesmal ging Claude ohne Eile vor; ehe er seine Hauptfigur skizzierte, hatte er Christine schon Monate hindurch damit ermüdet, daß er sie in zwanzig verschiedenen Arten auffaßte, um sich – wie er sagte – von der Eigenart ihrer Haut durchdringen zu lassen. Endlich nahm er eines Tages die Skizze in Angriff. Es war an einem windigen Herbstmorgen; in dem geräumigen Atelier war es nicht warm, obgleich im Ofen ein gutes Feuer brannte. Da der kleine Hans wieder von einem seiner Krankheitsanfälle befallen war und nicht zur Schule hatte gehen können, sperrten sie ihn im Zimmer ein und empfahlen ihm, artig zu sein. Dann entkleidete sich die Mutter fröstelnd, stellte sich an den Ofen und verblieb da unbeweglich in der Stellung. Von seiner Leiter herab maß in der ersten Stunde der Maler sie mit Blicken, die sie von den Schultern bis zu den Knien umfaßten; dabei richtete er kein Wort an sie. Christine, allmählich von Traurigkeit ergriffen, fürchtete, die Kraft zu verlieren; sie wußte nicht mehr, ob sie durch die Kälte litt oder durch eine von fernher gekommene Verzweiflung, deren Bitternis sie aufsteigen fühlte. Ihre Ermüdung war so groß, daß sie wankte und ihre steif gewordenen Beine nur mühsam in Bewegung setzen konnte. »Wie? Schon?« rief Claude. »Aber du stehst ja höchstens seit einer Viertelstunde! Willst du denn deine sieben Franken nicht verdienen?« Entzückt von seiner Arbeit, scherzte er mit halbverdrossener Miene. Kaum hatte sie unter dem Frisiermantel, mit dem sie sich bedeckt hatte, den Gebrauch ihrer Glieder wiedergefunden, als er ihr heftig zurief: »Vorwärts, nicht so träge! Heut' ist ein großer Tag. Es gilt zu arbeiten oder zugrundezugehen!« Nachdem sie – nackt in dem blassen Lichte – die Stellung wieder eingenommen und er wieder zu malen begonnen hatte, fuhr er fort, von Zeit zu Zeit einzelne Sätze hinzuwerfen, in seinem Bedürfnisse zu sprechen, sobald seine Arbeit ihn befriedigte. »Du hast eine merkwürdige Haut!« rief er. »Sie[[1]] trinkt das Licht, ganz sicher!... Man sollt' es nicht glauben: du bist heut' morgen ganz grau. Neulich warst du rosig; von einer Röte, die nicht natürlich war... Mich ärgert es; man weiß niemals, woran man ist.« Er unterbrach sich und blinzelte mit den Augen. »Immerhin sehr erstaunlich, das Nackte! Das setzt dem Hintergrund einen Ton auf... Das zittert und nimmt Leben an: man sieht ordentlich das Blut in den Muskeln fließen... Ach, ein gut gezeichneter Muskel, ein solid gemaltes Glied: es gibt nichts Schöneres, nichts Besseres, es ist göttlich!... Ich habe keine andere Religion ... ich möchte mein Leben lang davor auf den Knien liegen.« Da er gerade herabsteigen mußte, um eine Rolle Farben zu holen, näherte er sich ihr und zergliederte sie mit einer wachsenden Leidenschaft, wobei er mit der Fingerspitze jeden Teil berührte, den er bezeichnen wollte. »Da, unter der linken Brust, das ist ganz allerliebst. Es sind da blaue Äderchen, die der Haut eine köstliche Zartheit des Tones verleihen. Und da, wo die Hüfte anschwillt, ein Grübchen, in dem der Schatten sich vergoldet; es ist herrlich! Und da, unter der kräftigen Form des Bauches, diese reine Linie der Achselhöhlen, ein kaum wahrnehmbarer Stich von Karmin in blassem Golde... Der Bauch hat mich stets begeistern können. Ich kann keinen sehen, ohne in meiner Freude die Welt fressen zu wollen. Es ist so schön zu malen, eine wahre Fleischsonne!« Als er seine Leiter wieder erklommen hatte, rief er in seinem Schaffensfieber: »Herrgott! Wenn ich mit dir nicht ein Meisterwerk schaffe, muß ich ein rechtes Schwein sein!« Christine schwieg, und ihre Beklommenheit wuchs in der Gewißheit, die in ihr erstand. Unbeweglich dastehend, fühlte sie unter der rauhen Macht der Dinge das Unbehagen ihrer Nacktheit. An jeder Stelle, wo Claudes Finger sie berührt hatte, war ihr ein eisiger Eindruck zurückgeblieben, als werde jetzt die Kälte eindringen, unter der sie litt. Die Erfahrung hatte sie gemacht: wozu noch länger hoffen? Diesen Körper, den er einst mit seinen Küssen bedeckt hatte: er beachtete ihn nicht mehr, er liebte ihn nur mehr als Künstler. Ein Ton der Brust begeisterte ihn, vor einer Linie des Bauches konnte er in die Knie sinken, während er früher, von seinem Verlangen geblendet, sie an seine Brust preßte, ohne sie zu sehen, in Umarmungen, in denen beide schier vergehen wollten. Es war aus; sie war nicht mehr; er liebte in ihr nur mehr seine Kunst, die Natur, das Leben. Und die Blicke in der Ferne verloren, bewahrte sie die Starrheit einer Marmorstatue; sie hielt die Tränen zurück, die ihre Brust schwellten; sie war so elend, daß sie nicht mehr weinen konnte. Jetzt hörte man eine Stimme aus dem Zimmer kommen, während kleine Fäuste an die Tür trommelten. »Mama, Mama, ich schlafe nicht, ich langweile mich... Mach auf, Mama!« Hans war ungeduldig geworden. Claude erzürnte sich; man habe keine Minute Ruhe. »Sogleich!« rief Christine. »Schlafe, laß deinen Vater arbeiten.« Doch eine neue Unruhe schien sie zu erfassen; sie blickte von Zeit zu Zeit nach der Tür, und schließlich gab sie einen Augenblick ihre Stellung auf, ging zur Tür und hängte ihren Rock vor das Schlüsselloch. Dann nahm sie wortlos ihre Stellung am Ofen wieder auf: der Kopf gerade, der Leib ein wenig zurückgebeugt, die Brüste geschwellt. Die Sitzung zog sich in die Länge, es vergingen Stunden und Stunden. Und sie war noch immer bereitwillig mit ihrer Bewegung einer Badenden, die sich ins Wasser wirft; während er auf seiner Leiter, meilenweit entfernt für jenes andere Weib, das er malte, in Leidenschaft erglühte. Er sprach jetzt nicht mehr zu ihr; sie versank wieder in ihre Rolle eines farbenschönen Gegenstandes. Er betrachtete nur sie seit dem Morgen; sie aber sah sich nicht mehr in seinen Augen, war fortan eine Fremde, von ihm Verjagte. &&x Endlich hielt er ermüdet in der Arbeit inne; er bemerkte, daß sie zitterte. »Ist dir kalt?« »Ja, ein wenig.« »Das ist drollig; ich verbrenne schier. Ich will nicht, daß du dich erkältest; also, auf morgen.« Als er von der Leiter herabstieg, glaubte sie, er komme zu ihr, um sie zu küssen. In einer letzten Galanterie des Gatten pflegte er ihr sonst die Langeweile ihrer Modellpose mit einem flüchtigen Kusse zu vergelten. Aber noch ganz von seiner Arbeit erfüllt, vergaß er es, ging zu einem Topfe voll Seifenwasser und wusch seine Pinsel darin. Sie[[1]] blieb nackt stehen und wartete, hoffte. Eine Minute verging; er war erstaunt, diesen unbeweglichen Schatten zu sehen, betrachtete sie mit einer Miene der Überraschung und begann wieder kräftig seine Pinsel zu reiben. Mit hastig zitternden Händen, in der furchtbaren Verwirrung einer mißachteten Frau kleidete sie sich wieder an. Sie[[1]] schlüpfte in ihr Hemd, warf eilig die Röcke um, nestelte verkehrt ihr Leibchen zu, als dränge es sie, der Schande dieser unvermögenden Nacktheit zu entkommen, die fortan nur dazu gut schien, unter dem Linnen zu altern. Es war ein Gefühl der Verachtung vor sich selbst, ein Ekel darüber, daß sie zu diesem Geschäft einer Dirne herabgesunken war, dessen fleischliche Niedrigkeit sie jetzt empfand, da sie besiegt war. Am folgenden Tage mußte Christine sich wieder nackt in dem eiskalten Räume, unter dem trüben Lichte hinstellen. War dies nicht fortan ihr Handwerk? Wie sollte sie sich weigern, nachdem es zur Gewohnheit geworden? Niemals würde sie Claude eine Kränkung verursacht haben, und so begann sie jeden Tag von neuem diese Zerstörung ihres Körpers. Er sprach nicht einmal mehr von diesem glühenden und gedemütigten Körper. Seine Leidenschaft für das Fleisch hatte sich seinem Werke zugewandt, den gemalten Geliebten, die er sich gönnte. Diese allein brachten sein Blut in Wallung, sie, von denen jedes Glied unter seinen Händen entstand. Als er draußen auf dem Lande zur Zeit seiner großen Liebe das Glück erreicht zu haben glaubte, indem er endlich eine Lebende in seinen Armen hielt, war es wieder nur der ewige Wahn, da sie einander dennoch fremd geblieben; und er zog den Wahn seiner Kunst vor, diese Jagd nach der niemals erreichten Schönheit, dieses wahnsinnige Verlangen, das nichts befriedigen konnte. Ach, sie alle zu begehren, sie nach seinem Traume zu schaffen, Brüste von Samt, ambrafarbene Hüften, zarte, jungfräuliche Bäuche und sie nur um der schönen Töne willen zu lieben und zu fühlen, daß sie entkommen, ohne daß man sie jemals erreichen kann! Christine war die Wirklichkeit, das Ziel, welches die Hand erreichen konnte; und Claude war ihrer bald überdrüssig geworden, er, »der Soldat des Ungeschaffenen«, wie Sandoz ihn zuweilen lachend nannte. Monate hindurch war die Pose für sie eine Marter. Das schöne Leben zu zweien hatte aufgehört; es war, als bilde sich ein Hausstand zu dreien, als habe er eine Geliebte ins Haus eingeführt, dieses Weib, das er neben ihr malte. Das Riesenbild richtete sich zwischen ihnen empor, trennte sie wie eine unübersteigliche Mauer; und jenseits dieser Mauer lebte er mit der andern. Sie[[1]] verlor darüber schier den Verstand, eifersüchtig auf diese Doppelgängerin ihrer Person; endlich begriff sie den Jammer eines solchen Leides, wagte aber nicht, ihm ihr Übel zu gestehen, aus Furcht, daß er sie auslachen könne. Und doch täuschte sie sich nicht; sie fühlte wohl, daß er ihr Bild ihr selbst vorzog, daß dieses Bild die Angebetete war, die einzige Sorge, die Leidenschaft jeder Stunde. Er tötete sie schier mit der Stellung, um die andere zu verschönern; die andere machte ihn froh und machte ihn traurig, je nachdem er sie unter seinem Pinsel lebendig oder hinfällig werden sah. War das nicht Liebe? Und welch ein Leid, sein Fleisch herzuleihen, damit die andere geboren werde, damit der Alpdruck dieser andern sie heimsuche, stets zwischen ihnen sei, mächtiger als die Wirklichkeit: im Atelier, bei Tische, im Bette, überall! Ein Staub, ein Nichts, Farbe auf Leinwand, ein leerer Schein, der all ihr Glück zerstörte: das seinige, der da schweigsam, gleichgültig, zuweilen rücksichtslos war; und das ihrige, die durch seine Vernachlässigung gequält war und verzweifelt, aus ihrer Häuslichkeit diese Dirne nicht verjagen zu können, die in der Unbeweglichkeit eines Bildes so furchtbar mächtig war. Seither fühlte Christine, entschieden überwunden, die ganze Herrschaft der Kunst auf sich lasten. Diese Malerei, der sie sich bereits ohne Einschränkung unterworfen hatte: sie erhöhte sie jetzt noch, im Hintergrunde eines grausamen Heiligtums, vor dem sie zerknirscht liegen blieb, wie vor jenen mächtigen, zürnenden Göttern, die man verehrt in dem Übermaß von Haß und Entsetzen, das sie einflößen. Es war eine heilige Scheu, die Sicherheit, daß jeder Kampf vergeblich sei; daß sie zermalmt werde wie ein Strohhalm, wenn sie sich noch länger widersetzen wolle. Die Bilder wuchsen wie die Blöcke, selbst die kleinsten schienen ihr sieghaft, die wenigst guten erdrückten sie; während sie diese kaum mehr zu beurteilen wagte, zitternd, zu Boden gedrückt, sie alle furchtbar fand und auf die Fragen ihres Gatten nur antwortete: »Sehr gut! Vortrefflich!... Außerordentlich, außerordentlich!« Indessen hatte sie keinen Groll gegen ihn; sie liebte ihn mit einer tränenreichen Zärtlichkeit, wenn sie sah, wie er sich selbst verzehrte. Nach einigen Wochen erfolgreicher Arbeit war alles wieder verdorben, er konnte mit seiner großen weiblichen Figur nicht fertig werden. Deswegen machte er sein Modell todmüde, hielt tagelang mit erbittertem Eifer dabei aus und ließ dann einen Monat lang die Arbeit im Stich. Zehnmal wurde die Figur begonnen, stehen gelassen und ganz neu gemalt. Ein Jahr verfloß, dann ein zweites, und das Bild wollte nicht fertig werden: manchmal schon ganz vollendet, ward es am nächsten Tage wieder abgekratzt und mußte völlig neu gemalt werden. Diese Anstrengung des Schaffens im Kunstwerk, diese Anstrengung des Blutes und der Tränen, die ihn schier tötete, um Fleisch zu schaffen, Leben einzuhauchen! Stets im Kampfe mit der Wirklichkeit und stets besiegt: das Ringen mit dem Engel! Er rieb sich auf in dem unmöglichen Bestreben, die ganze Natur auf eine Leinwand zu bringen, auf die Dauer erschöpft durch die ewigen Schmerzen, die seine Muskel spannten, ohne daß er jemals mit seinem Genie niederkommen konnte. Womit die anderen sich zufrieden gaben, das Beiläufige in der Wiedergabe, die notwendigen kleinen Kniffe: es quälte ihn mit Gewissensbissen, entrüstete ihn wie eine feige Schwäche; er fing von neuem an und verdarb das Gute um des Bessern willen, fand immer, daß »es noch nicht spreche«, und war mit seinen Frauengestalten nicht zufrieden, »bis sie nicht herabstiegen, um mit ihm zu schlafen«, wie die Freunde scherzten. Was fehlte ihm denn daran, daß er sie lebendig schaffe? Ohne Zweifel eine Kleinigkeit, fast ein Nichts. Es lag vielleicht ein wenig diesseits, vielleicht ein wenig jenseits des Zieles. Als eines Tages jemand hinter seinem Rücken das Wort »unvollständiges Genie« fallen ließ, war er geschmeichelt und entsetzt zugleich. Ja, das mußte es sein: der zu kurz oder zu lang genommene Sprung, das Ungleichgewicht der Nerven, woran er litt, die ererbte Störung, die wegen einiger Gramm Substanz mehr oder weniger einen Narren anstatt eines großen Mannes aus ihm machen sollte. Wenn ein Anfall der Verzweiflung ihn aus seinem Atelier trieb und er sein Werk floh, nahm er jetzt diesen Gedanken von einem verhängnisvollen Unvermögen mit, er hörte ihn an seine Schläfe pochen wie ein beharrliches Totenläuten. &&x Sein Leben wurde jetzt elend. Niemals hatte der Zweifel an sich selbst ihn dermaßen verfolgt. Er verschwand ganze Tage; einmal blieb er sogar über Nacht aus und kehrte am Morgen ganz verstört heim, ohne sagen zu können, woher er kam: man dachte, er habe sich außerhalb der Stadt herumgetrieben, um nicht angesichts seines verfehlten Bildes zu bleiben. Es war seine einzige Erleichterung zu fliehen, sobald sein Werk ihn mit Scham und Haß erfüllte, und nicht eher wieder zu erscheinen, als bis er den Mut fühlte, den Kampf wieder aufzunehmen. Bei seiner Rückkehr wagte selbst seine Frau nicht ihn zu befragen, sie war froh, ihn nach der angstvollen Erwartung wiederzusehen. Er lief wütend durch Paris, hauptsächlich durch die Vorstädte, in einem Bedürfnis, sich wegzuwerfen, unter den Handlangern lebend, bei jedem Anfall sein altes Verlangen ausdrückend, der Handlanger eines Maurers zu werden. Bestand das Glück nicht darin, starke Glieder zu haben, rasch und gut die Arbeit zu verrichten, für die sie geschaffen waren? Er hatte sein Leben verfehlt; er hätte sich ehemals verdingen sollen, als er beim »Hund von {{Montargis}}« frühstückte, wo er einen Mann aus {{Limoges}} zum Genossen hatte, einen großen, lebensfrohen Jungen, den er um die kräftigen Arme beneidete. Wenn er nach der {{Tour¬laque}}-Straße zurückkehrte mit müden Beinen und leerem Schädel, warf er einen bekümmerten und scheuen Blick auf sein Gemälde, wie man in einem Trauerzimmer einen Blick auf einen Toten zu werfen wagt, bis eine neue Hoffnung sie wiederzuerwecken, sie endlich lebendig zu machen, ihm wieder das Gesicht färbte. Eines Tages stellte Christine, und die weibliche Figur sollte wieder einmal fertig werden. Doch seit einer Stunde war Claude ernst geworden, verlor die kindische Freude, die er beim Beginn der Sitzung gezeigt hatte. Christine wagte kaum zu atmen, sie fühlte an dem eigenen Mißbehagen, daß wieder alles verdarb, und fürchtete die Katastrophe zu beschleunigen, wenn sie nur einen Finger rührte. In der Tat brach er plötzlich in einen Schmerzensschrei aus und stieß mit drohender Stimme einen Fluch aus. »Herrgott! Herrgott!« Er hatte von der Höhe seiner Leiter die Pinsel hinabgeschleudert; dann führte er in blinder Wut einen Faustschlag nach der Leinwand. Christine streckte die zitternden Hände aus. »Ach, Liebling, Liebling!« Doch als sie ihre Schultern mit einem Tuch bedeckt und sich genähert hatte, fühlte sie eine jähe Freude im Herzen, das mächtige Zucken befriedigten Grolles. Die Faust hatte die andere mitten in der Brust getroffen, ein klaffender Riß war entstanden. Endlich war sie tot!« Unbeweglich, erschreckt durch seine Mordtat, betrachtete Claude diese offene Brust. Ein unermeßlicher Kummer überkam ihm von dieser Wunde, durch welche das Blut seines Werkes zu entströmen schien. War es möglich? Hatte er so getötet, was er am meisten in der Welt geliebt? Sein Zorn machte einer Verblüffung Platz; er begann mit den Fingern über die Leinwand zu fahren, zog die Ränder des Risses zusammen, als versuche er die Ränder einer Wunde einander zu nähern. Er schluchzte und stammelte in leisem, tiefem Schmerze: »Sie[[1]] ist hin ... sie ist hin...« Da ward Christine im Innersten erschüttert, in ihrem mütterlichen Gefühl für ihr großes Künstlerkind. Sie[[1]] verzieh wie immer; sie sah wohl, daß er nur mehr einen Gedanken hatte: augenblicklich den Riß auszubessern, das Übel zu heilen; und sie half ihm dabei, sie hielt die Fetzen, während er dahinter ein Stück Leinwand unterklebte. Als Christine sich ankleidete, war die andere wieder da, unsterblich, nur mit einer dünnen Narbe an der Stelle des Herzens, was den Maler mit neuem Frohmut erfüllte. In diesem Schwanken, das sich immer mehr verschärfte, gelangte Claude zu einer Art Aberglauben an gewisse Vorgänge. Er verbannte das Öl und sprach davon wie von einem persönlichen Feinde. Die Essenz hingegen, meinte er, gestalte die Malerei glanzlos und fest; er hatte gewisse Geheimnisse, die er für sich behielt: Lösungen von Ambra, flüssiges Kopal {{[Kopal]}} und noch andere Harze, die rasch trockneten und das Platzen der Malerei verhinderten. Allein, er hatte nachher mit furchtbaren Flecken zu kämpfen, denn diese aufsaugende Leinwand trank sogleich das wenige Öl der Farben. Die Frage der Pinsel hatte ihn stets beschäftigt: er wollte sie mit einem besonderen Griff, forderte im Ofen getrocknetes Haar. Die Hauptsache aber war das Farbenmesser; er wandte es für den Hintergrund an wie {{Cour¬bet}}. Er besaß eine ganze Sammlung lange und biegsame, breite und kurze, besonders ein dreieckiges, dem der Glaser gleichend, das er eigens hatte machen lassen, das wahre Messer des {{Dela¬croix}}. Er benützte übrigens niemals das Schabmesser, denn er fand es entehrend. Dagegen gestattete er sich allerlei geheimnisvolle Kniffe in der Anwendung des Tones; er machte sich Rezepte, wechselte sie jeden Monat und glaubte mit einemmal die richtige, gute Malmanier entdeckt zu haben, weil er die Ölflut von ehemals verschmähte und mit einem allmählichen Farbenauftrag vorging, bis er bei dem genauen Werte der Farbe angelangt war. Eine seiner Manieren war lange Zeit gewesen, von rechts nach links zu malen: ohne es zu sagen, war er überzeugt, daß dies ihm Glück bringe. Der furchtbare Fall aber, das Ereignis, das ihn abermals aus dem Geleise riß, war seine ihn völlig gefangennehmende Theorie von den ergänzenden Farben. {{Gagnière}}, zu technischen Spitzfindigkeiten ebenfalls sehr geneigt, hatte ihm zuerst davon gesprochen. Hernach hatte er selbst vermöge der ewigen Übertreibungen seiner Leidenschaft auch dieses wissenschaftliche Prinzip zu weit getrieben, das aus den drei Hauptfarben: gelb, rot und blau, die drei Farben zweiter Ordnung: orange, grün und violett ableitete, dann noch eine ganze Reihe von ergänzenden und gleichwertigen Farben, deren Zusammensetzung man nach bestimmten mathematischen Regeln gewann. So hatte die Wissenschaft ihre Rolle in der Kunst; eine Methode der logischen Beobachtung wurde geschaffen; man brauchte nur die Dominante eines Gemäldes zu nehmen, die ergänzenden oder ähnlichen Farben festzustellen, um auf dem Wege des Versuchs zu den Abarten zu gelangen, die daraus hervorgehen: zum Beispiel ein Rot, das sich neben einem Blau in ein Gelb verwandelt; eine ganze Landschaft, die den Ton wechselt sowohl infolge der Reflexe wie infolge der Auflösung des Lichtes je nach den vorüberziehenden Wolken. Er leitete daraus den wahren Schluß ab, daß die Gegenstände keine feste Farbe haben, daß sie sich je nach den örtlichen Verhältnissen färben. Das große Übel war aber, daß nunmehr, wenn er – mit seinem von dieser Wissenschaft summenden Kopfe – zur unmittelbaren Beobachtung zurückkehrte, sein voreingenommenes Auge den zarten Farbenschattierungen Gewalt antat, um die Genauigkeit der Theorie in allzu lebhaften Tönen zu bekräftigen; so daß seine Eigenart in der Betonung – so hell, so vibrierend von Sonnenlicht – in Hartnäckigkeit ausartete, in einen Umsturz aller Gewohnheiten des Auges, in violettfarbenen Körper unter dreifarbigen Himmeln. Das mußte zur Tollheit führen. &&x Die Not gab Claude den Rest. Sie[[1]] war allmählich angewachsen in dem Maße, wie das Ehepaar sein Vermögen erschöpfte, ohne zu rechnen; als kein {{Sou}} von den zwanzigtausend Franken mehr da war, stellte das scheußliche, nicht wiedergutzumachende Elend sich ein. Christine, die Arbeit suchen wollte, verstand nichts, selbst nicht zu nähen. Sie[[1]] war trostlos über ihre müßigen, unnützen Hände und ärgerte sich über ihre törichte Erziehung zu einem Fräulein, die ihr nichts anderes übrig ließ, wie sich als Magd zu verdingen, wenn ihre Lebensverhältnisse sich noch weiter verschlimmern sollten. Claude war dem Pariser Spott verfallen und konnte nichts mehr verkaufen. Eine unabhängige Ausstellung, in der er mit anderen Kameraden einige Bilder gezeigt, hatte ihm bei den Kunstliebhabern den Rest gegeben, so sehr hatte sich das Publikum über diese bunten, in allen Farben des Regenbogens schillernden Gemälde lustig gemacht. Die Bilderhändler hatten sich von ihm abgewandt; Herr {{Hue}} allein erschien von Zeit zu Zeit in der {{Tour¬laque}}-Straße, blieb entzückt vor einzelnen überspannten Stücken stehen, vor solchen, die in verblüffenden Farbengarben schimmerten, und war trostlos, sie nicht mit Gold bedecken zu können. Vergebens sagte der Maler, daß er ihm sie gebe; vergebens bat er ihn, sie anzunehmen: der kleine Spießbürger legte eine außerordentliche Zartheit an den Tag, sparte es sich vom Munde ab, um von Zeit zu Zeit eine Summe zu sammeln, und trug dann das ihn entzückende Bild mit einer andächtigen Verehrung heim, wo er es neben den besten Meisterwerken anbrachte. Doch ein solcher Glücksfall war sehr selten; Claude hatte sich entschließen müssen, für den Handel zu arbeiten, dermaßen angewidert, dermaßen verzweifelt über den Sturz in dieses Sklavenleben, in das herniederzusteigen er verschworen hatte, daß er vorgezogen hätte, Hungers zu sterben, wären Weib und Kind nicht gewesen, diese Ärmsten, die mit ihm litten. Er machte Bekanntschaft mit den Kreuzgängen zu ermäßigten Preisen, mit den Heiligenbildern, die nach dem Gros geliefert werden, mit den nach Schablonen gezeichneten Rollvorhängen, mit all den niedrigen Arbeiten, welche die Malkunst zu einer blöden, marktschreierischen Kleckserei verhunzen. Er mußte sogar die Schande erleben, daß ihm Porträts zu fünfundzwanzig Franken zurückgewiesen wurden, weil er die Ähnlichkeit nicht getroffen hatte. Er sank auch auf die letzte Stufe des Elends hinab, er arbeitete »nach der Nummer«; die kleinen Händler, die ihren Verkaufsstand auf den Brücken haben und einen Ausfuhrhandel nach »wilden« Ländern treiben, kauften ihm seine Sachen nach der Größe ab, für zwei Franken, für drei Franken, je nach dem Ausmaß. Das war für ihn gleichsam ein leiblicher Verfall; es brachte ihn herunter, er ward krank dabei, war einer ernsthaften Arbeit unfähig, betrachtete sein verlassenes großes Bild mit den Augen eines Verdammten, ließ manchmal eine Woche vergehen, ohne es zu berühren, als fühle er seine Hände schwach und hinfällig. Man hatte kaum mehr Brot zu essen; die große Baracke ward im Winter fast unbewohnbar, diese »Halle«, auf die Christine so stolz gewesen, als man daselbst einzog. Sie[[1]], die ehemals eine so tätige Hauswirtin gewesen, schleppte sich jetzt herum und fand nicht den Mut, einen Kehrbesen zur Hand zu nehmen; alles verfiel in diesem Unglück: der kleine Hans, der bei der schlechten Nahrung verkümmerte, ihre kärglichen Mahlzeiten, die sie stehend einnahmen, ihr ganzes Leben, das schlecht geführt und schlecht gepflegt zum Schmutz der Armen herabsank, die alles verloren haben, sogar die Achtung vor sich selbst. Ein weiteres Jahr war wieder verflossen, als Claude an einem jener trostlosen Tage, an denen er sein verfehltes Gemälde floh, eine Begegnung hatte. Diesesmal hatte er sich geschworen, nicht wieder heimzukehren; er rannte seit Mittag durch Paris, als habe er auf seinen Spuren das bleiche Gespenst der großen, nackten, durch fortwährende Nachbesserungen zugrunde gerichteten, stets unvollständig gelassenen Figur gehört, die ihn gleichsam mit ihrem schmerzlichen Verlangen geboren zu werden verfolgte. Ein Nebel löste sich in einen feinen, gelben Regen auf, der die Straßen mit Schmutz bedeckte. Gegen fünf Uhr durchschritt er wie ein Nachtwandler die Königsstraße, jeden Augenblick in Gefahr überfahren zu werden, die Kleider in Fetzen, bis zum halben Rücken mit Schmutz bespritzt, als plötzlich ein Wagen vor ihm hielt. »Claude, he, Claude!... Erkennen Sie[[1]] Ihre Freundin nicht mehr?« Es war Irma {{Bécot}}, in eine reizende graue Toilette gekleidet, mit {{Chantilly}}-Spitzen bedeckt. Sie[[1]] hatte rasch das Wagenfenster herabgelassen, lächelte und strahlte in dem Rahmen der Tür. »Wohin gehen Sie[[1]]?« Er antwortete verblüfft, er gehe nirgends hin. Das erheiterte sie noch mehr, und sie betrachtete ihn mit ihren lasterhaften Augen und dem häßlichen Lippenkräuseln einer Dame, die es nach irgendeiner unreifen Frucht gelüstet, die sie bei einer verdächtigen Fruchthändlerin erblickt hat. »Dann steigen Sie[[1]] ein, wir haben uns schon lange nicht gesehen ... Steigen Sie[[1]] ein, Sie[[1]] werden sonst überfahren!« In der Tat wurden die Kutscher ungeduldig und trieben mit lautem Rufen ihre Pferde vorwärts; so stieg er denn ein, ohne recht zu wissen, was er tat. Sie[[1]] entführte den regentriefenden, zerlumpten Menschen in dem kleinen Coupé von blauem Samt, wo er halb auf den Spitzen ihres Rockes saß, während die Droschkenkutscher über diese seltsame Entführung sich belustigten und in die Wagenreihe einlenkten, um den Verkehr nicht zu hemmen. Irma {{Bécot}} sah endlich ihren Traum verwirklicht: sie besaß ein eigenes Hotel in der {{Villiers}}-Allee. Aber es hatte Jahre gedauert; den Baugrund kaufte ein Liebhaber, die fünf-mal-hunderttausend Franken für den Bau und die drei-mal-hunderttausend Franken für die Einrichtung wurden von anderen Liebhabern geliefert, von solchen, die gerade zufällig in Leidenschaft für sie entbrannt waren. Es war eine fürstliche Wohnung in einem prächtigen Luxus und besonders einem äußerst verfeinerten, wollüstigen Wohlbehagen: der große Schlafraum eines sinnlichen Weibes, ein großes Liebeslager, das mit Teppichen im Flur begann, dann hinanstieg und sich ausbreitete bis zu den weich gepolsterten Wänden der Gemächer. Ihr Haus hatte viel gekostet und brachte noch mehr ein, denn man bezahlte daselbst die Berühmtheit ihrer purpurnen Matratzen. Die Nächte waren teuer. &&x Nach ihrer Heimkehr verschloß Irma für jeden andern ihre Tür. Um eine Laune zu befriedigen, würde sie diesen ganzen Reichtum in Brand gesteckt haben. Als sie zusammen den Speisesaal betraten, wollte der »Herr«, das heißt, der zurzeit eben bezahlte, trotz des Verbotes eindringen. Allein sie ließ ihn abweisen ganz laut und unbekümmert darum, daß er es hören könne. Bei Tische lachte sie wie ein Kind, aß von allem, sie, die niemals Hunger hatte. Sie[[1]] betrachtete den Maler mit entzückten Blicken, belustigt durch seinen großen, ungepflegten Bart, durch seine Arbeitsjacke mit den abgerissenen Knöpfen. Er war wie in einem Traume, ließ mit sich machen, was sie wollte, aß ebenfalls mit dem gefräßigen Appetit der schweren Krisen. Das Mahl verlief still; der Haushofmeister bediente mit stolzer Würde[[würdig]]. »Louis, tragen Sie[[1]] den Kaffee und die Liköre in mein Zimmer.« Es war erst acht Uhr; aber Irma wollte sich sogleich mit Claude einschließen. Sie[[1]] schob den Riegel vor und scherzte: »Gute Nacht, die Gnädige liegt schon zu Bett!« »Mache es dir bequem, ich behalte dich über Nacht hier... Man redet schon lange genug davon. Es ist mir schließlich zu dumm!« Da zog er denn ruhig seine Jacke aus in diesem prächtigen Gemache, dessen Wände mit malvenfarbener Seide bekleidet und mit Silberspitzen verziert waren, wo das kolossale Bett stand, mit alten Stickereien geschmückt, einem Throne gleichend. Er war gewohnt, in Hemdärmeln zu sein, und wähnte sich zu Hause. Da er sich geschworen hatte, nie wieder heimzukehren, war es ebensogut, hier zu schlafen wie unter einer Brücke. In der Zerfahrenheit seines Lebens war er über sein Abenteuer gar nicht erstaunt. Sie[[1]] begriff dieses gleichgültige Sichgehenlassen nicht, fand ihn zum Sterben drollig, und vergnügte sich wie ein der Schule entlaufenes Mädchen, indem sie halb entkleidet ihn kniff, biß und in kleinen Handgreiflichkeiten sich gefiel wie ein echtes, rechtes Gassenmädchen. »Du weißt, mein für die Gimpel bestimmter Kopf, mein Tizian, wie sie sagen: er ist nicht für dich... Ach, du verwandelst mich; wahrhaftig, du bist so ganz anders!« Damit ergriff sie ihn und sagte ihm, wie sehr es sie nach ihm gelüste, weil er ungekämmt sei. Wiederholte Lachausbrüche erstickten die Worte in ihrer Kehle. Sie[[1]] fand ihn so häßlich, so komisch, daß sie ihm überall wütende Bisse versetzte. Gegen drei Uhr morgens streckte sich Irma mitten in den zerknüllten, herabgerissenen Bettüchern aus, nackt, das Fleisch von ihren unzüchtigen Lüsten aufgedunsen, vor Ermüdung stammelnd. »Was ist aus deiner Freundin geworden?« fragte sie. »Hast[[Besitz]] du sie geheiratet?« Claude, der eben einschlafen wollte, öffnete die Augen halb und brummte: »Ja.« »Und du schläfst noch immer bei ihr?« »Ja, gewiß.« Sie[[1]] lachte wieder und setzte einfach hinzu: »Ach, mein armer Dicker, mein armer Dicker, was müßt ihr euch langweilen!« Als am folgenden Morgen Irma, ganz rosig wie nach einer in erquickendem Schlummer verbrachten Nacht, vornehm in ihrem Frisiermantel, schon gekämmt und ruhig, Claude ziehen ließ, behielt sie einen Augenblick seine Hände in den ihren und schaute ihn sehr freundschaftlich mit einer zärtlichen und zugleich spöttischen Miene an. »Mein armer Dicker, es hat dir kein Vergnügen gemacht,« sagte sie. »Nein, rede nicht; wir Frauen fühlen das... Aber mir hat es viel Vergnügen gemacht, sehr viel Vergnügen... Ich danke dir sehr!« Damit war es aus. Er hätte ihr sehr viel zahlen müssen, damit sie es noch einmal tue. Claude, noch erschüttert von diesem Liebesabenteuer, begab sich geradesweges nach der {{Tour¬laque}}-Straße. Er fühlte ein seltsames Gemisch von Eitelkeit und Gewissensbissen; zwei Tage lang war ihm die Malerei völlig gleichgültig; er brütete über dem Gedanken dahin, daß er sein Leben wohl verfehlt habe. Er betrug sich übrigens bei seiner Heimkehr so seltsam, war noch so voll von seiner Liebesnacht, daß er, als Christine ihn fragte, zuerst verlegen stotterte, dann alles gestand. Es gab eine Szene; sie weinte lange und verzieh wieder einmal in unendlicher Nachsicht für seine Fehler, jetzt besorgt, als fürchte sie, daß eine solche Nacht ihn allzu sehr ermüdet habe. Aus der Tiefe ihres Kummers stieg eine unbewußte Freude auf, der Stolz darüber, daß man ihn habe lieben können, die leidenschaftliche Freude darüber, ihn eines solchen Streiches fähig zu sehen, wohl auch die Hoffnung, daß er zu ihr zurückkehren werde, da er zu einer anderen gegangen. Sie[[1]] erschauerte bei dem Geruch der Begierde den er mitgebracht; sie hatte nur eine Eifersucht im Herzen: gegen die Malerei, die sie in dem Maße verabscheute, daß sie ihn lieber einem Weibe hingeworfen haben würde. &&x Um die Mitte des Winters hatte Claude eine neue Regung des Mutes. Als er eines Tages alte Rahmen ordnete, fand er darunter ein altes Stück Leinwand. Es war die nackte Figur, das liegende Weib aus »Freilicht«, sie allein hatte er aus dem Bilde herausgeschnitten, als ihm dieses aus dem Salon der Zurückgewiesenen heimgesendet worden. Als er die Leinwand aufrollte, stieß er einen Ruf der Bewunderung aus. »Alle Wetter, ist das schön!« Er befestigte die Leinwand mittels vier Nägel an der Wand und verbrachte fortan ganze Stunden in ihrer Betrachtung. Seine Hände zitterten, eine Blutwoge stieg ihm ins Gesicht. War es möglich, daß er ein solches Meisterstück gemalt hatte? Er hatte also zu jener Zeit Genie? Man hatte ihm also den Kopf ausgetauscht, und die Augen und die Finger? Ein solches Fieber, ein solches Bedürfnis sich auszusprechen regte ihn auf, daß er schließlich seine Frau rief: »Komm, schau!.. Die liegt schön da, wie? Die hat fein gefügte Muskel! Schau diesen Schenkel, wie in Sonnenlicht gebadet! Und diese Schulter hier bis zur Anschwellung des Busens! Das ist Leben! ich fühle sie leben, als berührte ich sie mit ihrer geschmeidigen und warmen Haut, mit ihrem Geruch.« Neben ihm betrachtete Christine auch ihrerseits die Figur und antwortete in knappen Worten. Dieses Wiedererstehen ihrer selbst nach Jahren so schön, wie sie mit achtzehn Jahren gewesen, hatte sie zuerst geschmeichelt und überraschend angemutet. Aber seitdem sie ihn so leidenschaftlich erregt sah, fühlte sie ein steigendes Unbehagen, eine unbestimmte Gereiztheit ohne eingestandene Ursache. »Wie? Du findest sie nicht schön, daß man davor niederknien möchte?« »Ja, ja, aber sie ist schwarz geworden.« Claude widersprach sehr heftig. Schwarz geworden? Keine Spur! Niemals wird sie schwarz; sie hat die ewige Jugend. Eine wahre Leidenschaft hatte sich seiner bemächtigt; er sprach von ihr wie von einer Person, hatte oft plötzlich das Bedürfnis, sie wiederzusehen; er ließ dann alles im Stiche, wie jemand, der zu einem Stelldichein eilt. Eines Morgens ward er von Arbeitslust ergriffen. »Alle Wetter! Wenn ich das gemacht habe, werde ich es doch wieder machen können!... Jetzt sollt ihr etwas sehen, oder ich müßte ein Tier sein!...« Christine mußte ihm sogleich Modell stehen, denn er war schon auf seiner Leiter und brannte vor Begierde, sich wieder an sein großes Gemälde zu machen. Einen Monat hindurch hielt er sie so täglich acht Stunden fest, nackt, die Beine ganz steif infolge der Unbeweglichkeit, ohne Mitleid für die Erschöpfung, in der er sie wußte, gleichwie er eine grausame Härte gegen seine eigene Ermüdung an den Tag legte. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, ein Meisterwerk zu schaffen; er forderte, daß seine stehende Figur der liegenden Figur an Wert gleichkomme, die er an der Mauer von Leben strahlen sah. Fortwährend prüfte er jene und verglich sein Werk mit jener verzweifelt und aufgestachelt durch die Furcht, diese Figur niemals jener andern gleichwertig machen zu können. Er warf einen Blick auf die Figur an der Wand, einen zweiten auf Christine, einen dritten auf seine Leinwand und stieß zornige Flüche aus, wenn er sich selbst nicht genügen konnte. Endlich fiel er über seine Frau her. »Du bist eben nicht mehr so, wie du am Bourbonufer warst. Aber ganz und gar nicht!... Es ist sehr komisch, aber du hattest frühzeitig eine reife Brust. Ich erinnere mich noch, wie überrascht ich war, als ich dich mit der Brust einer entwickelten Frau sah, während der Rest noch die zarte Feinheit des Kindesalters hatte. Und so geschmeidig und so frisch, ein Erschließen der Knospen, ein Frühlingsreiz. Ja, du kannst dir schmeicheln, einen sehr schönen Körper gehabt zu haben!« Er sagte diese Dinge nicht, um sie zu verletzen, er sprach bloß als Beobachter mit halb geschlossenen Augen von ihrem Körper wie von einem allmählich verderbenden Gegenstande des Studiums. »Der Ton ist noch immer glänzend, aber die Zeichnung ist nicht mehr dieselbe... Die Beine sind noch sehr schön; sie erhalten sich am längsten bei der Frau... Aber Bauch und Brust verderben. Betrachte dich einmal im Spiegel. Da, neben den Achselhöhlen bilden sich Anschwellungen, die ganz und gar nicht schön sind. Auf dem Körper der andern kannst du suchen, du findest solche Taschen nicht.« Dabei zeigte er mit zärtlichem Blick nach der liegenden Figur und schloß: »Es ist nicht deine Schuld, aber es ist augenblicklich das, was mich in der Patsche bleiben läßt... Ach, ich habe kein Glück!« Sie[[1]] hörte zu und wankte in ihrem Kummer. Diese Modellstunden, durch die sie schon soviel gelitten, wurden jetzt zu einer unerträglichen Marter. Was war es für eine neue Erfindung, ihr ihre Jugend heute zum Vorwurfe zu machen, ihre Eifersucht anzufachen, indem er ihr das Gift des Bedauerns um ihre entschwundene Schönheit reichte? Jetzt ward sie ihre eigene Nebenbuhlerin; sie konnte ihr ehemaliges Bild nicht betrachten, ohne von einem häßlichen Neid im Herzen gepackt zu werden. Wie schwer hatte dieses Bild, diese nach ihr selbst gemachte Studie auf ihrem Dasein gelastet! Ihr ganzes Unglück kam von da: zuerst hatte sie im Schlafe ihre Brust gezeigt, dann in einer Minute entgegenkommender Zärtlichkeit ihren jungfräulichen Körper vor ihm entkleidet; dann hatte sie sich selbst ihm hingegeben, nachdem die Menge ihre Nacktheit verhöhnt und verlacht hatte; dann kam ihr ganzes Leben, ihre Erniedrigung zu diesem Modell-Handwerk, bei dem sie alles verloren hatte, selbst die Liebe ihres Gatten. Und jenes Bild ward wiedergeboren, erstand nochmals, lebendiger als sie, um sie vollends zu töten; es gab fortan nur ein Werk: das liegende Weib aus dem alten Bilde, daß sich jetzt erhob und das aufrechtstehende Weib des neuen Bildes wurde. &&x Fortan fühlte sich Christine mit jeder Sitzung älter werden. Sie[[1]] betrachtete sich selbst mit trüben Blicken, glaubte Runzeln entstehen, die reinen Linien aus der Form kommen zu sehen. Niemals hatte sie sich so studiert; sie fühlte Scham und Widerwillen gegen ihren eigenen Körper, die unendliche Verzweiflung der leidenschaftlichen Frauen, wenn mit ihrer Schönheit auch die Liebe sie verläßt. Liebte er sie nicht mehr, brachte er deshalb die Nächte bei anderen zu, suchte er deshalb in der unnatürlichen Leidenschaft zu seinem Werke Zuflucht? Sie[[1]] verlor das deutliche Verständnis für die Dinge, geriet in Verfall, lebte in einem schmutzigen Rock und in einer schmutzigen Hausjacke, besaß nicht mehr die Selbstgefälligkeit ihrer Anmut, entmutigt durch den Gedanken, daß es fortan nichts nütze zu kämpfen, da sie alt sei. Durch eine mißlungene Sitzung wütend gemacht, stieß Claude eines Tages einen furchtbaren Ruf aus, von dem Christine sich nicht mehr erholen sollte. Außer sich in einem jener Wutanfälle, in denen er unverantwortlich schien, war er nahe daran, auch dieses Bild zu zerstören. Er ließ seinen Zorn über die arme Frau sich entladen, indem er mit ausgestreckter Faust schrie: »Nein, ich kann mit dir nichts anfangen! ... Wenn man Modell stehen will, darf man kein Kind haben!« Empört durch diesen Schimpf lief sie weinend davon, um sich anzukleiden. Aber ihre Hände tasteten suchend umher; sie fand ihre Kleider nicht rasch genug, um sich zu bedecken. Von Gewissensbissen gepackt war Claude sogleich von der Leiter heruntergestiegen, um sie zu trösten. »Ich hatte Unrecht, ich bin ein Elender! ... Ich bitte dich, stehe noch ein wenig, um mir zu beweisen, daß du mir nicht grollst.« Er ergriff sie, hielt sie nackt in seinen Armen und machte ihr das Hemd streitig, das sie schon zur Hälfte umgeworfen hatte. Sie[[1]] verzieh noch einmal und nahm ihre Stellung wieder auf, so zitternd, daß schmerzliche Zuckungen ihre Glieder entlang liefen; während in ihrer unbeweglichen Haltung einer Statue stumme, schwere Tränen von ihren Wangen auf ihre Brust fielen und diese benetzten. Ihr Kind! ach ja: besser, es wäre nicht geboren! Das Kind war vielleicht die Ursache von allem. Sie[[1]] weinte nicht mehr, sie entschuldigte schon den Vater; sie fühlte einen dumpfen Zorn gegen das arme Wesen, für das ihre Mütterlichkeit niemals erwacht war, und das sie nunmehr haßte bei dem Gedanken, daß es in ihr die Geliebte habe zerstören können. Doch Claude harrte diesesmal aus; er beendete das Gemälde und schwor, es trotz allem in die Ausstellung zu senden. Er verließ seine Leiter nicht mehr und säuberte den Hintergrund bis zur sinkenden Nacht. Endlich erklärte er erschöpft, er werde nicht mehr daran rühren; als Sandoz an jenem Tage gegen vier Uhr heraufkam, um ihn zu besuchen, fand er ihn nicht mehr zu Hause. Christine erwiderte auf seine Frage, er sei eben ausgegangen, um auf der Höhe von Montmartre frische Luft zu schöpfen. Zwischen Claude und den alten Freunden war die allmähliche Entfremdung immer schärfer geworden. Die Besuche wurden immer seltener und immer kürzer; die Freunde fühlten sich unbehaglich vor dieser verwirrenden Malerei und wurden verscheucht durch die Zerstreuung dessen, was sie in ihrer Jugend bewundert hatten. Jetzt hielten sich alle fern, keiner kam mehr. {{Gagnière}} hatte Paris verlassen und bewohnte in {{Melun}} eines seiner Häuser, um kärglich von dem Mieterträgnis des andern zu leben, nachdem er – zur maßlosen Verwunderung der Kameraden – seine Klavierlehrerin geheiratet hatte, ein altes Fräulein, das ihm des Abends Wagner vorspielte. {{Mahou¬deau}} schützte seine Arbeit vor; er begann jetzt Geld zu verdienen dank einem Fabrikanten von Kunstgegenständen in Bronze, der seine Modellstücke von ihm retouchieren ließ. Mit Jory war es wieder eine andere Geschichte; kein Mensch sah ihn mehr, seitdem Mathilde ihn despotisch eingesperrt hielt; sie fütterte ihn bis zum Platzen mit allerlei leckeren Gerichten, vertierte ihn fast mit ihrer verliebten Art, stopfte ihn mit allem, was er liebte, in dem Maße voll, daß er, der ehemalige Straßenläufer, der Geizige, der sein Vermögen an den Straßenecken suchte, um nicht zahlen zu müssen, zur Häuslichkeit eines treuen Hundes herabgesunken war, die Schlüssel zu seinem Gelde hergab, kaum soviel in der Tasche hatte, um eine Zigarre zu kaufen, auch das nur an solchen Tagen, an denen sie einwilligte, ihm zwanzig {{Sous}} zu lassen. Man erzählte sogar, daß sie als ehemals frommgläubiges Mädchen, um ihre Eroberung zu festigen, Jory zur Religion drängte und ihm vom Tode sprach, vor dem er eine greuliche Furcht hatte. {{Fage¬rolles}} allein heuchelte große Herzlichkeit für seinen alten Freund, wenn er ihm begegnete, versprach immer, ihn zu besuchen, was er übrigens niemals tat; er hatte seit seinem großen Erfolge soviel zu tun, war ein berühmter und gefeierter Mann und auf dem besten Wege, alles Geld und alle Ehren einzuheimsen. Claude tat nur Dubuche leid; es war eine feige Zuneigung, die in den alten Jugenderinnerungen wurzelte, trotz der Reibungen, welche die Verschiedenheit ihrer Charaktere später herbeigeführt hatte. Doch auch Dubuche schien nicht glücklich zu sein; obwohl millionenreich, war er dennoch elend, lag fortwährend im Streit mit seinem Schwiegervater, der sich beklagte, über seine Fähigkeiten als Baumeister getäuscht worden zu sein; er lebte unter den Heiltränken seiner kranken Frau und seiner zwei Kinder, die als Frühgeburten zur Welt gekommen, in Baumwolle gewickelt erzogen werden mußten. &&x Von all diesen erstorbenen Freundschaften war nur Sandoz übrig geblieben; dieser allein schien noch den Weg nach der {{Tour¬laque}}-Straße zu kennen. Er kam dahin um des kleinen Hans willen, der sein Patenkind war, und wohl auch um der traurigen Christine willen, deren Leidensgesicht inmitten all des Elends ihn tief bewegte wie eine jener großen Liebesheldinnen, die ihm vorschwebten, und die er in seinen Büchern schildern wollte. Vor allem wuchs seine brüderliche Zuneigung als Künstler, seitdem er Claude den Boden verlieren, in seine Kunstnarrheit versinken sah. Anfänglich war er darüber sehr erstaunt, denn er hatte an seinen Freund mehr geglaubt als an sich selbst; schon auf der Schule setzte er sich an die zweite Stelle, den Freund aber sehr hoch unter die Meister, die eine ganze Zeit in Aufruhr bringen. Nachher hatte dieser Schiffbruch eines Genies ein Gefühl schmerzlicher Rührung in ihm hervorgerufen, ein bitteres, blutendes Erbarmen angesichts der furchtbaren Qual des Unvermögens. Wußte man denn in der Kunst jemals, wo der Narr war? Alle Schiffbrüchigen konnten ihn zu Tränen rühren; je mehr ein Bild oder ein Buch der Verirrung, der plumpen, jämmerlichen Anstrengung verfiel, desto mehr erzitterte er vor Mitleid in dem Bedürfnis, diese von dem Werke Niedergeschmetterten wohltätig in dem Überschwang ihrer Träume einzuschläfern. An dem Tage, an welchem Sandoz heraufgekommen war, ohne den Maler zu finden, ging er nicht sogleich wieder weg; die von Tränen geröteten Augen Christinens hielten ihn zurück. »Wenn Sie[[1]] glauben, daß er bald heimkehren muß, will ich ihn erwarten.« »Er kann nicht lange wegbleiben.« »Dann bleibe ich da, vorausgesetzt daß ich Sie[[1]] nicht störe.« Niemals hatte sie ihn dermaßen gerührt mit ihrer Gebeugtheit einer vernachlässigten Frau, ihren müden Bewegungen, ihrer langsamen Rede, ihrer Gleichgültigkeit für alles, was nicht die Leidenschaft war, in der sie erglühte. Seit einer Woche stellte sie keinen Sessel mehr an seinen Platz, nahm den Staublappen nicht mehr zur Hand, ließ den Zusammenbruch des Haushaltes sich vollziehen; sie hatte kaum die Kraft, sich selbst zu bewegen. Es schnürte ihm das Herz zusammen, im grellen Lichte des großen Fensters dieses Elend zu sehen, das im Schmutze versank, diesen schlecht geweißten, kahlen, unordentlich gehaltenen Schuppen, wo man trotz des hellen Februar-Nachmittags vor Traurigkeit fröstelte. Christine hatte sich neben ein eisernes Bett niedersinken lassen, das Sandoz bei seinem Eintritt nicht bemerkt hatte. »Ist Hans krank?« fragte er. Sie[[1]] deckte das Kind zu, dessen Hände die Decke immer wieder zurückwarfen. »Ja, seit drei Tagen hat er das Bett nicht mehr verlassen. Wir haben sein Bett hierher gebracht, damit er bei uns ist... Ach, er war nie recht gesund; aber jetzt geht es immer mehr abwärts mit ihm; es ist zum Verzweifeln!« Stier vor sich hinblickend, sprach sie mit tonloser Stimme. Sandoz erschrak, als er näher trat. Der bleiche Kopf des Kindes schien noch größer geworden zu sein und von einer solchen Schwere, daß er ihn nicht mehr zu tragen vermochte. Träge lag der Kopf da, und man hätte das Kind für tot halten können ohne das starke Atmen, das durch die farblosen Lippen hervorkam. »Mein kleiner Hans, ich bin's, dein Pate... Willst du mir nicht guten Tag sagen?« Der Kopf machte eine mühsame, aber vergebliche Anstrengung, sich zu erheben; die Augenlider öffneten sich halb, zeigten das Weiße der Augen und schlossen sich wieder. »Haben Sie[[1]] einen Arzt holen lassen?« Sie[[1]] zuckte mit den Achseln. »Ach, die Ärzte! was wissen sie denn?... Einer war da und sagte, es sei nichts zu machen... Hoffen wir, daß es wieder vorübergeht. Er ist jetzt zwölf Jahre alt, es kommt vom Wachsen.« Sandoz schwieg erstarrt, um ihre Unruhe nicht zu vergrößern, da sie den Ernst des Übels nicht zu sehen schien. Er ging stillschweigend in dem Atelier herum und blieb schließlich vor dem Bilde stehen. »Ei, das macht ja Fortschritte; diesmal ist er auf dem richtigen Wege.« »Es ist fertig.« »Wie, fertig?« Als sie hinzugefügt hatte, daß das Bild die nächste Woche nach dem Salon gesandt werden solle, war er verlegen; er setzte sich auf das Sofa, wie jemand, der mit Bedachtsamkeit Rat erteilen will. Der Hintergrund, die Ufer, die {{Seine}}, von wo die sieghafte Spitze der Altstadt aufstieg: sie waren nur angedeutet; aber es war eine meisterhafte Skizze, als habe der Maler gefürchtet das Paris seiner Träume zu verderben, wenn er es besser ausarbeite. Links befand sich eine vortreffliche Gruppe: die Lastträger, die Gipssäcke von einem Schiffe ans Land trugen; sehr sorgfältig gearbeitete Stücke von wirkungsvoller Mache. Allein die Barke mit den Frauen in der Mitte durchlöcherte das Bild mit einem Auflodern von Fleisch, das nicht an seinem Platze war; und besonders die nackte weibliche Hauptfigur, im Fieber gemalt, hatte einen Schimmer, eine traumhafte Größe von befremdlicher Unwahrheit inmitten der Wirklichkeiten der Umgebung. Sandoz saß in stiller Betrübnis dieser herrlichen Mißgeburt gegenüber. Doch er begegnete den auf ihn gehefteten Blicken Christinens und fand die Kraft zu flüstern: »Erstaunlich!... Die weibliche Figur ist erstaunlich!« &&x Übrigens kam Claude in diesem Augenblicke heim. Er stieß einen Freudenschrei aus, als er seinen alten Freund erblickte, und drückte ihm kräftig die Hand. Dann näherte er sich Christine und küßte den kleinen Hans, der die Bettdecke wieder zurückgeworfen hatte. »Wie geht es ihm?« »Immer unverändert.« »Er wächst zu schnell, die Ruhe wird ihn wiederherstellen. Ich sagte dir schon, du sollst dich nicht grämen.« Claude setzte sich zu Sandoz auf das Sofa. Beide lehnten sich bequem, halb liegend, zurück und ließen so die Blicke über das Gemälde schweifen, während Christine neben dem Bette blieb, nichts sah, an nichts zu denken schien, in die fortwährende Betrübnis ihres Herzens versunken. Allmählich kam die Nacht, das helle Licht des großen Bogenfensters verblaßte schon, entfärbte sich zu einer gleichförmigen, langsam herniedersinkenden Dämmerung. »Also entschieden: deine Frau sagte mir, daß du es in die Ausstellung sendest?« »Ja.« »Du hast Recht, das Ding muß hinaus... Es hat schöne Einzelheiten! Diese Flucht der Ufer links, und der Mann da unten, der einen Sack hebt... Allein...« Er zögerte, dann wagte er, sich auszusprechen. »Allein, es ist drollig, daß du dabei beharrtest, diese badenden Frauen nackt zu lassen ... Man kann sich die Sache nicht erklären, versichere ich dir; du hast mir versprochen, sie zu bekleiden, erinnerst du dich? Du scheinst also großes Gewicht darauf zu legen, diese weiblichen Figuren beizubehalten?« »Ja.« Claude antwortete trocken mit der Verstocktheit der fixen Idee, die es verschmäht, Gründe anzugeben. Er hatte die beiden Arme unter dem Nacken gekreuzt und begann von anderen Dingen zu reden, ohne das Gemälde aus den Augen zu lassen, über das die Dämmerung allmählich einen feinen Schatten breitete. »Du wirst es nicht erraten, woher ich komme. Von {{Courajod}}. Ja, von dem großen Landschaftsmaler, dessen »Sumpf von {{Gagny}}« im Luxembourg hängt. Ich hielt ihn schon für tot, doch wir erfuhren, daß er in unserer Nähe, jenseits der Höhe, in der Schwemmestraße wohnt... Nun, ich war neugierig, {{Courajod}} zu sehen. Auf einem meiner Spaziergänge hatte ich seine Baracke entdeckt; ich konnte nicht mehr vorübergehen, ohne das Verlangen einzutreten. Denke dir! ein Meister, ein ganzer Kerl, der unsere moderne Landschaftsmalerei geschaffen, lebt da, unbekannt, vergessen, begraben wie ein Maulwurf!... Du hast keine Vorstellung von dieser Straße und von dieser Hütte: eine Dorfstraße, voll Geflügel, von grasbestandenen Böschungen eingesäumt; ein Häuschen, das einem Kinderspielzeug gleicht, mit kleinen Fensterchen, einer kleinen Türe, einem kleinen Garten. Ach, der Garten. Ein handbreiter Streif Erde, steil abfallend, mit vier Birnbäumen bepflanzt, im übrigen völlig von einem Hühnerhofe in Anspruch genommen, den er mit alten, wurmstichigen Planken und den Resten eines eisernen Gitters, das mittelst Bindfadens befestigt ist, eingefriedet hat...« Seine Stimme verlangsamte sich, er zwinkerte mit den Augen, als sei die Sorge um sein Gemälde unwiderstehlich wiedergekehrt, als habe sie ihn völlig gefangen genommen, so daß sie ihm in dem, was er wollte, hinderlich war. »Heute habe ich {{Courajod}} auf der Türschwelle getroffen... Ein Greis von mehr als neunzig Jahren, eingeschrumpft, klein geworden, die Gestalt eines Knaben. Nein, man muß ihn gesehen haben mit seinen Holzschuhen, seiner gestrickten Bauernjacke und seiner Altweiber-Haube... Ich näherte mich ihm entschlossen und sagte: ›Herr {{Courajod}}, ich kenne Sie[[1]]; im Luxembourg hängt ein Bild von Ihnen, ein Meisterwerk; erlauben Sie[[1]] einem Maler, Ihnen – einem Meister – die Hand zu drücken.‹ Ach, wenn du gesehen hättest, wie er erschrak, wie er stammelte und zurückwich, als hätte ich ihn prügeln wollen! Eine wahre Flucht... Ich war ihm gefolgt, und er beruhigte sich allmählich; er zeigte mir seine Hühner, Enten, Kaninchen, Hunde, eine ganz außerordentliche Tiersammlung; sogar ein Rabe war da. In solcher Umgebung lebt er, spricht nur mit Tieren. Der Ausblick von dort ist herrlich: die ganze Ebene von Saint-Denis, viele Meilen weit, mit Flüssen, Städten, rauchenden Fabrikschloten, pustenden Eisenbahnzügen. Kurz: eine wahre Einsiedlerhöhle auf dem Berg mit dem Rücken gegen Paris, mit den Augen auf die unendliche Landschaft. Natürlich... kam ich auf meinen[[Besitz]] Gegenstand zurück. Herr {{Courajod}}, was für ein Talent! Wenn Sie[[1]] wüßten, welche Bewunderung wir alle für Sie[[1]] haben! Sie[[1]] sind ein Gegenstand unseres Ruhmes, Sie[[1]] werden unser aller Vater bleiben!' Seine Lippen hatten zu zittern begonnen, er betrachtete mich mit blöder, erschreckter Miene und drängte mich mit einer flehenden Gebärde zurück, als hätte ich irgendeine Leiche aus seiner Jugendzeit vor ihm ausgegraben; er brummte Worte ohne Zusammenhang zwischen den Zähnen; es war das Stammeln eines kindisch gewordenen Greises, unmöglich zu verstehen: ,Weiß nicht... so fern... zu alt... mir gleichgültig... Kurz: er hat mich an die Luft gesetzt; ich hörte ihn heftig den Schlüssel umdrehen, sich mit seinen Tieren gegen die Bewunderungs-Anschläge von der Straße verrammeln. Dieser große Mann endet wie ein Gewürzkrämer, der sein Geschäft aufgegeben! Diese freiwillige Rückkehr zum Nichts noch vor dem Tode! Ach, der Ruhm, der Ruhm, für den wir sterben wollen!« &&x Immer dumpfer und dumpfer werdend, verlor sich seine Stimme in einem tiefen, schmerzlichen Seufzer. Es ward immer mehr Nacht in dem Räume; die in den Winkeln angesammelte Finsternis stieg langsam und unerbitterlich höher, verschlang die Beine des Tisches und der Sessel und das ganze Durcheinander von Sachen, die auf den Fliesen lagen. Jetzt war auch schon der untere Teil des Gemäldes in Schatten gehüllt, und Claude schien mit verzweifelt starren Augen dem Fortschritt der Finsternis zu folgen, als habe er endlich in diesem Ersterben des Tages sein Werk beurteilt. Man hörte in dieser tiefen Stille nichts als den schweren Atem des kranken Kindes, neben dem von Zeit zu Zeit der unbewegliche Schatten der Mutter auftauchte. Jetzt sprach auch Sandoz, der ebenfalls die Arme hinter dem Nacken gekreuzt und sich auf einem Kissen des Diwans zurückgelehnt hatte. Kann man wissen? Wäre es nicht besser, unbekannt zu leben und zu sterben? Welche Prellerei, wenn dieser Künstlerruhm ebensowenig existierte wie das Paradies des Katechismus, über das die Kinder selbst sich heutzutage lustig machen! Wir, die wir an Gott nicht mehr glauben, glauben an unsere Unsterblichkeit... Welcher Jammer! Von der Trübseligkeit des Abends durchdrungen, beichtete er seine eigenen Qualen, die wachgerufen wurden durch all das menschliche Leid, das er hier fühlte. »Du beneidest mich vielleicht; meine[[Besitz]] Geschäfte gehen nicht schlecht, um mich gut spießbürgerlich auszudrücken; ich veröffentliche Bücher und verdiene einiges Geld: aber ich gehe dabei zugrunde... Ich habe es dir oft gesagt, aber du glaubst mir nicht, denn für dich, der du mit sovieler Mühe schaffst und nicht zum Publikum gelangen kannst, wäre das Glück natürlich: viel hervorzubringen, gesehen, gelobt oder kreuzlahm geschlagen zu werden ... du magst im nächsten Salon zugelassen werden, magst mitten im Getriebe stehen, magst noch mehr Bilder malen: Du sollst mir nachher sagen, ob dir dies genügt, ob du endlich glücklich bist... Höre, die Arbeit hat mein ganzes Leben in Beschlag genommen; nach und nach hat sie mir die Mutter, die Gattin, alles gestohlen, was ich liebe. Der im Schädel mitgebrachte Keim frißt das Gehirn, bemächtigt sich des Rumpfes, der Glieder, zerstört den ganzen Körper. Sobald ich des Morgens mein Bett verlasse, packt mich die Arbeit, nagelt mich an meinen[[Besitz]] Schreibtisch, läßt mir nicht einen Augenblick Zeit, um einen Mund voll frischer Luft zu schöpfen; dann folgt sie mir zum Frühstückstisch; mit meinem Brot kaue ich im Stillen meine[[Besitz]] Sätze wieder; sie begleitet mich, wenn ich ausgehe; ich finde sie auf meinem Teller, wenn ich zum Mittagsmahl heimkehre; sie legt sich des Abends auf mein Kissen, sie ist so unerbittlich, daß ich niemals die Macht habe, dem im Zuge befindlichen Werke Halt zu gebieten; es wächst fort und fort, bis in meinen[[Besitz]] nächtlichen Schlaf hinein ... Kein Wesen existiert mehr außerhalb der Arbeit. Wenn ich zu meiner Mutter hinaufgehe, um sie zu umarmen, bin ich dermaßen zerstreut, daß ich zehn Minuten später nicht mehr weiß, ob ich ihr wirklich guten Morgen gesagt habe. Meine[[Besitz]] arme Frau hat keinen Gatten; ich bin nicht mehr bei ihr, selbst wenn unsere Hände sich berühren. Zuweilen habe ich die schmerzliche Empfindung, daß ich ihnen traurige Tage bereite, und dann mache ich mir schwere Vorwürfe, denn das häusliche Glück besteht einzig aus Güte, Offenheit und Frohsinn. Aber kann ich mich von den Tatzen des Ungeheuers befreien? Sogleich verfalle ich wieder der Mondsüchtigkeit der schöpferischen Stunden, dem Gleichmut und der Verdrossenheit der fixen Idee. Hat die Arbeit am Morgen einen ersprießlichen Fortgang genommen, umso besser; habe ich über ein Blatt nicht hinwegkommen können, umso schlimmer. Das Haus lacht oder weint je nach dem Belieben der gefräßigen Arbeit ... Nein, nein, ich habe nichts mehr; in den Tagen der Not träumte ich von einem stillen Landleben, von weiten Reisen; und heute, da ich meine[[Besitz]] Wünsche befriedigen könnte, hält das einmal begonnene Werk mich gefangen; ich kann mir keinen Morgenspaziergang, keinen Besuch bei einem Freunde, keine Stunde des Nichtstuns gönnen. Mein Wille ist dahin, ich bin ein Sklave der Gewohnheit; ich habe die Tür zur Welt hinter mir abgesperrt und den Schlüssel zum Fenster hinausgeworfen. Nichts, nichts mehr gibt es in meinem Neste, nur mich und die Arbeit; sie wird mich aufzehren, und dann wird nichts mehr da sein.« Er schwieg, und abermals herrschte tiefe Stille in dem wachsenden Dunkel. Dann hub er schmerzlich wieder an. »Wenn man noch Genüge finden, aus diesem Hundeleben irgendeine Freude ziehen könnte! ... Ach, ich weiß nicht, wie andere es anfangen, bei der Arbeit Zigaretten zu rauchen und sich behaglich den Bart zu streicheln. Ja, es gibt – wie es scheint – solche, für die das Hervorbringen ein leichtes Vergnügen ist, das sie ohne jede Erregung liegen lassen und wieder aufnehmen. Sie[[1]] sind entzückt, sie bewundern sich selbst, sie können nicht zwei Zeilen schreiben, die nicht vortrefflich, auserlesen, unvergleichlich wären ... Bei mir gibt es nur Zangengeburten, und das Kind scheint mir stets ein Scheusal. Ist es möglich, daß man so sehr jedes Zweifels bar ist, um an sich selbst zu glauben? Es verblüfft mich, wenn ich Kerle sehe, die wütend die anderen verleugnen, jedes Urteil, jeden vernünftigen Sinn verlieren, wenn es sich um ihren Bastard handelt. Ein Buch ist immer sehr häßlich! Nur jemand, der niemals mit der schmutzigen Herstellung eines Buches zu tun gehabt hat, kann es lieben ... Ich will nicht von den Schmähungen reden, die aus vollen Töpfen über mich ausgegossen werden; anstatt mir unangenehm zu sein, regen sie mich noch mehr an. Ich sehe Schriftsteller, die durch die Angriffe aus Rand und Band gebracht werden, das wenig selbstbewußte Bedürfnis haben, sich Teilnahme zu erwerben. Das ist ganz einfach ein Verhängnis der Natur: manche Frauen würden sterben, wenn sie nicht gefielen. Allein die Beschimpfung ist gesund, der Mangel an Volkstümlichkeit eine mannhafte Schule; es gibt kein besseres Mittel, als das Gejohle der Schwachköpfe, um uns geschmeidig und stark zu erhalten. Es genügt, sich zu sagen, daß man einem Werke sein Leben gewidmet habe, daß man weder eine unmittelbare Gerechtigkeit, noch eine ernste Prüfung des Werkes erwarte, daß man schließlich ohne jede Hoffnung arbeite, einzig deshalb, weil die Arbeit einem unter der Haut pocht wie das Herz, unabhängig von dem Willen, und es wird einem sehr wohl gelingen, in dem tröstlichen Wahne zu sterben, daß man eines Tages geliebt sein werde ... Ach, wenn die anderen wüßten, wie mutig ich ihren Zorn trage! Allein ich bin da und überhäufe mich mit Vorwürfen und Kränkungen, daß ich keine glückliche Minute mehr habe. Mein Gott! welche furchtbaren Stunden von dem Tage an, da ich einen Roman beginne! Die ersten Kapitel gehen noch vonstatten, ich habe Raum, um geistreich zu sein; nachher verliere ich mich selbst, bin niemals zufrieden mit der Tagesarbeit, verdamme schon das noch unfertige Buch, finde es geringer an Wert als die vorangegangenen, quäle mich wegen einzelner Seiten, einzelner Sätze, einzelner Worte, so daß selbst die Beistriche eine mir unleidliche Häßlichkeit annehmen. Wenn es fertig ist, ach, wenn es fertig ist, welche Erleichterung! Es ist nicht die Freude eines Herrn, der sich in der Bewunderung seiner Frucht begeistert, sondern der Fluch eines Lastträgers, der die Bürde hinwirft, die ihn zu Boden gedrückt hatte ... Dann beginnt die Sache von vorne, und sie wird immer wieder von vorne beginnen, und ich werde daran zugrunde gehen, wütend auf mich selbst, erbittert darüber, nicht mehr Talent gehabt zu haben, nicht ein vollständigeres, höherstehendes Werk zurückzulassen, Bücher auf Bücher zu einem Berge aufgetürmt; und wenn ich sterbe, werde ich den furchtbaren Zweifel an dem geschaffenen Werke haben, werde mich fragen, ob dies auch das Richtige sei, ob ich hätte links gehen sollen, als ich rechts ging; und mein letztes Wort, mein letztes Röcheln wird dem Wunsche gelten, alles noch einmal zu machen ...« Eine Erregung hatte ihn ergriffen, seine Worte erstickten; er mußte sich einen Augenblick verschnaufen, ehe er den leidenschaftlichen Ruf ausstieß: »Ach, ein Leben, ein zweites Leben! Wer wird es mir geben, damit die Arbeit es mir stehle und ich noch einmal daran zugrunde gehe!« &&x Die Nacht war gekommen; man sah nicht mehr die starren Umrisse der Mutter; es schien, als komme das röchelnde Atmen des kranken Kindes aus der Finsternis; eine ungeheure Beklemmung schien von fernher aus den Straßen aufzusteigen. Vom ganzen Atelier, das in trostlose Finsternis versunken war, behielt nur die große Leinwand eine gewisse Blässe, einen letzten Rest von verblassendem Lichte. Man sah die nackte Figur wie eine ersterbende Erscheinung schweben ohne bestimmte Form, die Füße schon unsichtbar, ein Arm von der Finsternis verzehrt, nichts Deutliches mehr haben als die Rundung des Bauches, dessen Fleisch in der Farbe des Mondes schimmerte. Nach langem Schweigen fragte Sandoz: »Soll ich mit dir gehen, wenn du dein Bild nach der Ausstellung begleitest?« Da Claude ihm nicht antwortete, glaubte er weinen zu hören. War es die unendliche Traurigkeit, die Verzweiflung, die ihn selbst soeben geschüttelt hatte? Er wartete, wiederholte seine Frage; da stammelte der Maler endlich, nachdem er ein Schluchzen verschluckt: »Danke, das Bild bleibt da, ich werde es nicht in die Ausstellung senden.« »Wie? Du warst doch entschlossen?« »Ja, ja, ich war entschlossen. Aber ich hatte es nicht gesehen, und ich sah es erst jetzt im Lichte des sinkenden Tages... Es ist wieder verfehlt: das ist mir in die Augen gefahren wie ein Faustschlag; ich wurde bis ins Innerste des Herzens erschüttert!« In der Finsternis, die ihn verbarg, flossen seine Tränen jetzt langsam und warm über seine Wangen herab. Er hatte sich bemeistert, doch das Drama, dessen stille Bangigkeit ihn gequält hatte, brach gegen seinen Willen los. »Mein armer Freund,« murmelte Sandoz verstört, »es ist hart, es sich gestehen müssen, doch du tust vielleicht wohl daran zu warten, um einzelne Stücke sorgfältiger auszumalen ... Aber ich bin wütend, weil ich fast glaube, daß ich dich mit meiner ewigen blöden Unzufriedenheit mit allen Dingen entmutigt habe.« Claude antwortete einfach: »Du? welch Gedanke! Ich hörte dir gar nicht zu... Nein, ich beobachtete, wie von dieser verwünschten Leinwand alles floh. Das Licht verlor sich, und es war ein Augenblick, wo ich in einer grauen, sehr feinen Beleuchtung plötzlich ganz klar sah: Ja, nichts hält mehr fest, der Hintergrund allein ist hübsch, die nackte Frau verpufft wie eine Petarde {{[Petarde]}}, hat schlecht gemalte Beine, steht nicht gerade ... Ach, es war, als müßte ich sogleich daran verenden; ich fühlte, wie das Leben sich von meinem Körper loslöste. Dann floß die Finsternis mehr und mehr hernieder: es war, als verschwinde die Erde in einem Abgrund, in dem Nichts, als sei das Ende der Welt gekommen. Bald sah ich nur mehr ihren Bauch, der immer kleiner ward wie ein kranker Mond. Und schau, jetzt ist nichts mehr da von ihr, nicht der geringste Schein; sie ist tot, ganz schwarz.« In der Tat war jetzt das Bild vollständig verschwunden. Aber der Maler war aufgestanden, man hörte ihn in der dichten Finsternis fluchen. »Alle Wetter!... es tut nichts... ich werde mich wieder daran machen.« Christine, die sich ebenfalls erhoben, und an die er gestoßen hatte, unterbrach ihn. »Gib acht; ich will die Lampe anzünden.« Sie[[1]] zündete sie an und erschien sehr bleich, einen Blick der Furcht und des Hasses auf das Gemälde werfend. Wie? Es ward nicht fortgeschafft? Die Abscheulichkeit sollte wieder beginnen? »Ich will mich wieder daran machen,« wiederholte Claude; »es wird mich töten, es wird mein Weib und mein Kind töten, es wird die ganze Baracke tot machen, aber es soll ein Meisterwerk werden!« Christine hatte sich wieder gesetzt; man trat zu Hans, der mit seinen unruhig tastenden Händchen sich wieder aufgedeckt hatte. Das Kind atmete schwer, lag unbeweglich da, den Kopf in das Kissen gedrückt wie eine Last, unter der das Bett ächzte. Als Sandoz aufbrach, äußerte er sich besorgt über den Zustand des Kindes; die Mutter hörte mit stummer Bestürzung seine Worte. Der Vater war wieder zu seiner Leinwand zurückgekehrt, zu dem zu schaffenden Werke, zu dem leidenschaftlichen Wahn, der in ihm die schmerzliche Wirklichkeit bekämpfte, dieses kranke Kind, dieses lebendige Fleisch von seinem Fleische. Am folgenden Morgen war Claude eben mit dem Ankleiden fertig, als er die bestürzte Stimme Christinens vernahm. Sie[[1]] war aus dem tiefen Schlafe, der auf dem Sessel neben dem Krankenbette über sie gekommen, soeben plötzlich erwacht. »Claude! Claude! schau doch!... Er ist tot!« Claude lief strauchelnd mit großen Augen herbei, wobei er mit einer Miene tiefer Überraschung wiederholte: »Wie? Er ist tot?« Einen Augenblick standen sie wie blöde vor dem Bette. Das auf dem Rücken liegende arme Wesen mit seinem übermäßig großen Kopfe, der angeschwollen war wie der eines Blödsinnigen, schien seit gestern sich nicht gerührt zu haben; allein sein breiter gewordener farbloser Mund atmete nicht mehr, und seine leeren Augen standen offen. »Es ist wahr, er ist tot!« Ihre Bestürzung war so groß, daß sie noch einen Augenblick mit trockenen Augen dastanden, völlig überwältigt von dem Ereignisse, das sie für unmöglich hielten. Dann knickte Christine zusammen und sank vor dem Bette in die Knie; ein schmerzliches Schluchzen erschütterte ihren ganzen Körper; sie hielt die Arme auf dem Bette ausgebreitet und lehnte die Stirn an den Rand der Matratze. In diesem ersten furchtbaren Augenblicke ward ihre Verzweiflung noch durch den nagenden Vorwurf gesteigert, daß sie das arme Kind nicht genug geliebt habe. In einem flüchtigen Wahngesichte rollten sich die Tage vor ihr ab; jeder brachte ein Bedauern, böse Worte, vorenthaltene Liebkosungen, zuweilen sogar Roheiten. Jetzt war alles aus; nie mehr werde sie ihn dafür entschädigen können, daß sie ihm ihr Herz gestohlen. Er, den sie so ungehorsam gefunden, gehorchte jetzt nur zu sehr. Sie[[1]] hatte ihm, wenn er spielte, so oft wiederholt: »Verhalte dich ruhig, laß deinen Vater arbeiten!« – daß er schließlich artig ward für immer. Dieser Gedanke erstickte sie; jedes Schluchzen entriß ihr einen dumpfen Schrei. &&x In einer nervösen Unruhe ging Claude im Atelier hin und her. Über sein verzerrtes Antlitz rann nur von Zeit zu Zeit eine schwere Träne, die er jedesmal mit dem Handrücken abwischte. Wenn er an der kleinen Leiche vorüberkam, konnte er es nicht unterlassen, einen Blick auf sie zu werfen. Die starren, weit offenen Augen schienen eine Gewalt auf ihn auszuüben. Anfänglich widerstand er, dann nahm der unklare Gedanke eine bestimmte Form an, um schließlich zu einem Banne zu werden. Endlich gab er nach, holte eine kleine Leinwand und begann eine Studie nach dem toten Kinde. Während der ersten Minuten hinderten ihn seine Tränen zu sehen, hüllten alles in einen Nebel; er wischte die Tränen ab und harrte mit zitterndem Pinsel bei der Arbeit aus. Allmählich wurden seine Augen trocken, seine Hand sicher; und bald lag nicht mehr sein totenstarrer Sohn da, sondern nur ein Modell, ein Gegenstand, dessen Seltsamkeit ihn leidenschaftlich interessierte. Die übertriebene Zeichnung des Kopfes, die Wachsfarbe des Fleisches, diese Augen, die ins Leere starrenden Löchern glichen: alles erregte ihn, erhitzte ihn. Er trat einige Schritte zurück, um sein Werk besser betrachten zu können und lächelte ihm zu. Als Christine sich erhob, fand sie ihn so bei der Arbeit. Von neuem in Tränen ausbrechend, sagte sie bloß: »Ach, du kannst ihn malen, er wird sich nicht rühren!« Fünf Stunden harrte Claude bei der Arbeit aus. Als am zweitnächsten Tage Sandoz nach dem Leichenbegängnisse des Kindes, ihn heimbegleitete, erzitterte er vor dem kleinen Gemälde in Mitleid und Bewunderung. Es war eines der guten Stücke von einst, ein Meisterwerk an Kraft und Klarheit; eine unendliche Traurigkeit war darüber ausgegossen, das Ende von allem, das Leben, das an dem Tode dieses Kindes erstarb. Doch Sandoz, der sich in lauten Lobeserhebungen erging, war ganz betroffen, als Claude ihm sagte: »Wirklich? Es gefällt dir? Du bringst mich zu einem Entschlüsse. Das andere Bild ist nicht fertig; ich werde dieses in den Salon senden.« &&x &&ns &&am &&g="Zehntes_Kapitel." &&fa Zehntes Kapitel. &&fe &&ax &&lg=x Am Tage nachdem Claude »das tote Kind« in die Ausstellung gebracht hatte, begegnete er {{Fage¬rolles}} während eines Spazierganges nach dem {{Monceaux}}-Parke. »Wie, du bist es?« rief {{Fage¬rolles}} herzlich. »Was machst du? Was treibst du? Man sieht sich jetzt so selten!« Als der andere ihm von seinem in die Ausstellung gesandten Bilde sprach, von jener kleinen Leinwand, die jetzt alle seine Gedanken beschäftigte, fügte {{Fage¬rolles}} hinzu: »Du hast eine Leinwand in die Ausstellung geschickt? Ich werde dafür sorgen, daß sie angenommen wird; ich bin diesmal zum Richter mitbestimmt.« Infolge des Aufruhrs und der ewigen Unzufriedenheit der Künstler nach zwanzigmal aufgenommenen und wieder fallen gelassenen Verbesserungsversuchen hatte in der Tat die Direktion den Ausstellern das Recht eingeräumt, daß sie selbst die Richter wählten. Dies hatte eine wahre Revolution in der Welt der Maler und Bildhauer herbeigeführt, ein Wahlfieber war ausgebrochen mit ehrgeizigen Strebungen, Parteiungen, Ränken, der ganzen schmutzigen Küche, welche die Politik entehrt. »Ich nehme dich mit,« sagte {{Fage¬rolles}}; »du mußt mein Heim, mein kleines Haus besichtigen, wohin du trotz deiner wiederholten Versprechungen noch keinen Fuß gesetzt hast. Es ist ganz nahe an der Ecke der {{Villiers}}-Allee.« Claude, dessen Arm er gutgelaunt ergriffen hatte, mußte ihm folgen. Eine Feigheit hatte ihn ergriffen; der Gedanke, daß sein ehemaliger Kamerad seine Zulassung durchsetzen könne, erfüllte ihn mit Scham und Begierde zugleich. In der Allee blieb er vor dem kleinen Hause stehen, um seine Vorderseite zu betrachten, ein zierliches, kostbares Architektenstück, die genaue Wiedergabe eines im Renaissancestile gebauten Hauses von {{Bourges}} mit den Kreuzrahmen der Fenster, dem Stiegentürmchen, dem bleiverzierten Dache. Es war ein wahres Mädchenjuwel, und Claude war ganz überrascht, als er sich umwandte und auf der andern Seite der Straße das königliche Haus der Irma {{Bécot}} erblickte, wo er eine Nacht zugebracht hatte, die eine traumhafte Erinnerung in ihm zurückgelassen. Groß, solid, fast streng, hatte das letztere schier die Bedeutung eines Palastes gegenüber seinem Nachbar, dem Künstlerheim, das einem der Laune entsprungenen Spielzeuge glich. »Was? Die Irma hat gleich eine ganze Kathedrale!« rief {{Fage¬rolles}} mit gewisser Achtung... »Mein Gott, ich verkaufe nur Bilder... So tritt doch ein!« Das Innere war mit prächtigem, eigenartigem Luxus ausgestattet; alte Teppiche, alte Waffen, eine Anhäufung alter Möbel, merkwürdige Dinge aus China und Japan, gleich vom Flur angefangen; links ein Speisesaal, die Wände durch Lackgetäfel in Felder geteilt, unter der Decke ein roter Drache ausgespannt; eine Treppe aus geschnitztem Holze, mit Bannern und grünen Pflanzen geschmückt. Das Atelier oben war ein wunderbarer Raum; ziemlich eng, ohne ein Bild, ganz mit orientalischen Teppichen bedeckt; in einer Ecke ein riesiger Kamin, dessen Tierverzierungen einen Korb trugen, am andern Ende ausgefüllt von einem großen Sofa unter einem Zelte; ein ganzes Monument: Lanzen, die einen Himmel von prächtigen Stoffen trugen, über einer Menge von Teppichen, Pelzen und Kissen, die auf dem Parkett angehäuft lagen. Claude musterte alles, und eine Frage drängte sich ihm auf die Lippen, die er zurückhielt. War es bezahlt? Seit dem vorigen Jahre mit einer Medaille ausgezeichnet, forderte {{Fage¬rolles}} – wie man versicherte – zehntausend Franken für ein Porträt. {{Naudet}}, der ihn in die Mode gebracht und jetzt in regelmäßigen Zügen ausbeutete, gab keines seiner Bilder unter zwanzig-, dreißig-, vierzigtausend Franken ab. Die Bestellungen wären hageldicht gekommen, wenn der Maler nicht die Mißachtung, den Überdruß eines Mannes geheuchelt hätte, um dessen geringste Skizze man »sich riß«. Dennoch roch der ganze hier ausgebreitete Luxus nach Verschuldung; die Lieferer hatten nur Anzahlungen bekommen; alles Geld – dieses Geld, das so gewonnen wurde wie auf der Börse bei zeitweiligen Kurssteigerungen – floß zwischen den Fingern durch, wurde ausgegeben, ohne eine Spur zurückzulassen. {{Fage¬rolles}}, noch voll Feuer und Flamme über sein plötzliches Glück, rechnete übrigens nicht mehr, beunruhigte sich nicht, rechnete fest damit, immer zu verkaufen, immer teurer zu verkaufen, und war sehr stolz auf die hohe Stellung, die er in der zeitgenössischen Kunst einnahm. &&x Schließlich bemerkte Claude eine kleine Leinwand auf einer Staffelei von schwarzem Holze, die mit rotem Plüsch eingefaßt war. Das war alles, was vom Künstlerberuf zu sehen war, mit einem Farbenkasten von Palisanderholz und einer Pastellbüchse, die auf einem Möbelstück vergessen worden. »Sehr fein«, sagte Claude, um verbindlich zu sein, indem er auf die kleine Leinwand zeigte. »Hast[[Besitz]] du schon die Ausstellung beschickt?« »Ach ja, Gott sei Dank! Was ich für eine Menge Besuche hatte! Ein wahres Kommen und Gehen von Leuten, das mich acht Tage lang vom Morgen bis zum Abend nicht dazu kommen ließ, Atem zu holen... Ich wollte nicht ausstellen, man büßt dadurch von seinem Ansehen ein... Auch {{Naudet}} war dagegen. Doch was willst du machen? Man hat mir so hart zugesetzt; alle jungen Leute wollen mich unter den Richtern haben, damit ich sie verteidige. Mein Bild ist sehr einfach. ›Ein Frühstück‹ habe ich es benannt: zwei Herren und drei Damen unter Bäumen, die Gäste eines Schlosses, die ihre Mahlzeit mitgenommen haben und in einer Lichtung verzehren. Du wirst es sehen: es ist ziemlich originell.« Seine Stimme schwankte, und als er den Augen Claudes begegnete, der ihn fest anschaute, ward er vollends verwirrt und scherzte über das kleine Bild auf der Staffelei. »Das ist eine Schweinerei, die {{Naudet}} von mir verlangt hat. Ich weiß, was mir fehlt: ein wenig von dem, wovon du zuviel hast. Ich liebe dich noch immer; ich habe dich erst gestern unter Malern verteidigt.« Er klopfte ihm auf die Schultern; er hatte die geheime Mißachtung seines einstigen Meisters gefühlt und wollte ihn durch seine früheren Schmeicheleien wiedergewinnen, durch die Liebkosungen einer Dirne, die da sagt: »Ich bin eine Dirne« – damit man sie liebe. Ganz aufrichtig, mit einer gewissen unruhigen Unterwürfigkeit versprach er ihm noch einmal, sich mit seinem ganzen Einflüsse für die Zulassung seines Bildes einzusetzen. Doch es kam Besuch; in einer Stunde kamen und gingen mehr als fünfzehn Personen: Väter, die junge Schüler brachten; Aussteller, die kamen, um sich seinem Wohlwollen zu empfehlen, Kameraden, die mit ihm Schützlinge auszutauschen hatten, selbst Frauen, die ihr Talent unter der Flagge ihrer Schönheit steuerten. Man mußte den Maler sehen, wie er seine Rolle eines zukünftigen Richters spielte, Händedrücke austeilte, dem einen sagte: »Ihr diesjähriges Bild ist sehr schön, es gefällt mir recht gut«, vor einem andern erstaunt ausrief: »Wie? Sie[[1]] haben noch keine Medaille?« und allen wiederholte: »Wenn ich mit dabei wäre, ginge alles besser!« Er entließ die Leute entzückt, öffnete jedem Besuch die Tür mit einer Miene außerordentlicher Liebenswürdigkeit, in die sich das verstohlene Hohnlächeln des ehemaligen Straßenbummlers mengte. »Glaubst du jetzt, wieviel Zeit ich mit diesen Blödsinnigen verliere?« rief er in einem Augenblicke, da er mit Claude allein war. Doch als er sich dem großen Bogenfenster näherte, öffnete er plötzlich einen Flügel, und man bemerkte auf der andern Seite der Allee an einem Balkon des gegenüber befindlichen Hauses eine weiße Gestalt, eine Frau im Spitzenumhang, die ein Taschentuch in die Höhe hob. Er selbst winkte dreimal mit der Hand. Dann wurden beide Fenster geschlossen. Claude hatte Irma erkannt; in der Stille, die jetzt eingetreten war, erklärte sich {{Fage¬rolles}} ganz ruhig. »Du siehst, wir können uns sehr bequem verständigen. Wir haben eine vollständige Telegraphie. Sie[[1]] ruft mich, ich muß gehen... Von der können wir was lernen.« »Was denn?« »Alles: Laster, Kunst, Verstand!... Ich muß dir sagen: Sie[[1]] leitet mich in der Malerei; ja, bei meiner Ehre! sie hat eine ganz außerordentliche Witterung für den Erfolg!... Im Grunde ist sie noch immer eine Gassendirne, aber so drollig, von einer so ergötzlichen Leidenschaft, wenn sie einen lieb hat!...« Seine Wangen färbten sich plötzlich rot, während seine Augen sich trübten, als sei in seinem Innern ein Sumpf aufgewühlt worden. Seitdem beide in derselben Allee wohnten, lebten sie wieder zusammen; man erzählte sogar, daß er – so geschickt, in allen Schlichen des Pariser Pflasters so bewandert – sich von ihr ruinieren, jeden Augenblick eine hübsche Summe abnehmen lasse. Sie[[1]] sandte bei solchen Gelegenheiten ihre Kammerfrau hinüber; bald war es für irgendeinen Lieferer, bald für eine Laune, oft für nichts, um des bloßen Vergnügens willen, ihm die Taschen auszuleeren. Das erklärte auch zum Teil seine Verlegenheit, seine wachsende Verschuldung trotz der fortwährenden Bewegung, die seine Bilder im Kurse steigen ließ. Es war ihm übrigens wohlbekannt, daß er bei ihr der überflüssige Luxus war, die Zerstreuung einer Frau, welche die Malerei liebt, eine Zerstreuung, die sie sich hinter dem Rücken der ernsthaften Liebhaber gönnte, die als Gatten den Haushalt zu bestreiten hatten. Sie[[1]] scherzte darüber; zwischen ihnen lag gleichsam das Aas ihrer Verderbtheit, ein Gemisch von Niedrigkeit, über das er lachte; diese Rolle eines Herzliebsten war ihm ein Anreiz mehr, der ihn all das Geld vergessen ließ, das er ihr gab. Claude hatte seinen Hut wieder aufgesetzt. {{Fage¬rolles}} trippelte umher und warf unruhige Blicke nach dem Hause gegenüber. »Ich schicke dich nicht weg, aber du siehst, sie erwartet mich... Also abgemacht, deine Sache ist sicher; es sei denn, daß ich nicht gewählt werde. Komm am Abend der Stimmenzählung nach dem Industriepalast. Es herrscht da ein arges Gedränge, ein Höllenlärm; aber du wirst sogleich wissen, ob du auf mich zählen kannst.« &&x Zuerst nahm sich Claude fest vor, nicht im mindesten sich zu bemühen. Diese Gönnerschaft durch {{Fage¬rolles}} war ihm lästig: im Grunde hatte er nur die eine Besorgnis, daß jener sein Versprechen halten könne: es war die feige Furcht vor dem Mißerfolge. Am Tage der Abstimmung duldete es ihn aber nicht auf einem Platze; er trieb sich in den Elysäischen Feldern herum und gab sich selbst den Vorwand, daß er einen langen Spaziergang mache. Ob hier oder anderwärts, sei doch gleich; denn in der uneingestandenen Erwartung seines Erfolges im Salon hatte er jede Arbeit aufgegeben und streifte jetzt wieder in Paris herum. Er selbst hatte kein Stimmrecht, weil man dazu mindestens einmal zugelassen sein mußte. Doch kam er wiederholt an dem Industriepalast vorüber; ihn interessierte das auf dem Bürgersteig vor dem Palaste herrschende Treiben. Es war ein schier unendlicher Zug von Künstlern, die sich nach dem Schauplatz der Richterwahl begaben. Diese Wähler suchten sich Männer in schmutzigen Kitteln streitig zu machen, die ihre Wahllisten ausriefen. Es gab solcher Listen etwa dreißig von allen Parteien und allen Anschauungen; die Liste der Ateliers der Kunstschule, die liberale Liste, die Liste der Unversöhnlichen, die Liste der Friedliebenden, die Liste der Jungen, die Liste der Damen. Man konnte meinen[[Meinung]], sich am Tage nach einem Aufstande im Wahlfieber zur Einsetzung einer neuen Regierung vor der Tür eines Wahllokals zu befinden. Um vier Uhr nachmittags, als die Abstimmung beendet war, konnte Claude der Neugier nicht widerstehen und ging hinauf. Die Treppe war jetzt frei, jeder konnte eintreten. Oben geriet er in den riesigen Saal der Richter, dessen Fenster auf die Elysäischen Felder gehen. Ein Tisch von zwölf Meter Länge nahm die Mitte des Saales ein; in einer Ecke stand ein riesiger Kamin, in dem ganze Bäume brannten. Es waren vier- bis fünfhundert Wähler im Saale, die geblieben waren, um das Ergebnis abzuwarten, darunter viele Bekannte, die aus bloßer Neugierde gekommen waren; alle diese Leute schrien und lachten laut, entfesselten einen wahren Sturm unter der hohen Saaldecke. Rings um den Tisch hatten schon die mit der Stimmenzählung betrauten Abordnungen ihre Arbeit begonnen; es waren etwa fünfzehn, je ein Obmann und zwei Schriftführer. Aber es mußten noch drei oder vier eingesetzt werden, und es meldete sich niemand; alle flohen aus Furcht vor der schweren Arbeit, welche die Zählenden einen Teil der Nacht hier festhielt. {{Fage¬rolles}}, der seit dem Morgen schon tätig, schrie eben unter heftigen Armbewegungen, um den Tumult zu beherrschen, in die Menge hinein: » Meine[[Besitz]] Herren! Wir brauchen einen Mann! einen dienstfertigen Mann!« Als er in diesem Augenblick Claude bemerkte, stürzte er hinzu und führte ihn mit Gewalt zum Tische. »Du wirst mir das Vergnügen machen, dich da niederzusetzen und mir zu helfen. Es ist für die Sache!« Im Handumdrehen war Claude Obmann einer Abordnung; er erfüllte sein Amt mit dem Ernst eines Schüchternen, im Grunde aufgeregt, und schien zu glauben, die Zulassung seines Bildes hänge von seiner Gewissenhaftigkeit bei dieser Verrichtung ab. Er rief laut die Namen aus, die auf den in kleinen Bündeln ihm dargereichten Listen geschrieben standen, während die beiden Schriftführer die Namen verzeichneten. Das geschah inmitten eines schauerlichen Stimmengewirres, in dem Lärm von zwanzig, dreißig Namen, die von verschiedenen Stimmen ausgerufen wurden mitten in dem fortwährenden Gesumme der Menge. Da er nichts ohne Leidenschaft tun konnte, ward er lebhafter, war trostlos, wenn eine Liste den Namen {{Fage¬rolles}} nicht enthielt, und war glücklich, wenn er diesen Namen einmal mehr ausrufen konnte. Er hatte übrigens oft diese Freude, denn der Kamerad hatte sich volkstümlich gemacht, indem er sich überall zeigte, die Kaffeehäuser besuchte, wo einflußreiche Gruppen zu finden waren, sogar künstlerische Glaubensbekenntnisse abzulegen wagte, den Jungen gegenüber Verpflichtungen einging, ohne die Mitglieder des Instituts zu vernachlässigen, die er sehr ehrerbietig grüßte. Eine allgemeine Zuneigung machte sich geltend; {{Fage¬rolles}} war gleichsam das Schoßkind aller. An diesem regnerischen Märztage war um sechs Uhr die Nacht hereingebrochen. Die Diener brachten Lampen; mißtrauische Künstler traten näher und überwachten mit stummen, ernsten Gesichtern die Stimmenzählung; andere trieben allerlei Schnurren, ließen Tierlaute oder einen Jodler aus. Als um acht Uhr kalter Braten und Wein aufgetragen wurden, erreichte die Heiterkeit ihren Höhepunkt. Man leerte hastig die Flaschen und stopfte sich mit dem Inhalte der im Fluge abgefangenen Schüsseln, es war ein echter Kirchweihschmaus in diesem Riesensaale, den die Klötze in dem Kamin mit dem Widerschein einer Schmiede erhellten. Dann begannen alle zu rauchen, dichter Tabakrauch trübte das gelbe Licht der Lampen. Auf dem Fußboden lagen die während der Abstimmung weggeworfenen Berichtzettel, eine dicke Papierschicht, beschmutzt durch die Flaschenkorke, durch Brosamen, zerbrochene Teller, ein ganzer Misthaufen, in dem die Stiefelabsätze versanken. Die Künstler ließen sich gehen; ein kleiner, blasser Bildhauer stieg auf einen Sessel, um »eine Anrede an das Volk zu halten«; ein Maler mit gebogener Nase und ausgepichtem Schnurrbart ritt auf einem Sessel um den Tisch herum und grüßte leutselig. Das nannte er »den Kaiser machen«. Allmählich wurden viele des Wartens müde und gingen weg. Um elf Uhr waren nicht mehr als zweihundert Menschen da. Nach Mitternacht kamen neue Besucher: Spaziergänger in schwarzem Frack und weißer Krawatte, die aus dem Theater oder einer Abendgesellschaft kamen und neugierig waren, früher als Paris das Ergebnis der Stimmenzählung zu erfahren. Es kamen auch Berichterstatter, man sah sie einzeln zum Saale hinausstürmen, sobald ihnen eine Ziffer mitgeteilt werden konnte. Claude rief mit heiserer Stimme noch immer Namen aus. Der Rauch und die Hitze waren unerträglich geworden, ein Stallgeruch stieg von dem Mist am Boden auf. Es schlug ein Uhr, dann zwei Uhr morgens. Er zählte und zählte, und die Gewissenhaftigkeit, mit der er dabei vorging, hielt ihn dermaßen auf, daß die anderen Abordnungen ihre Arbeit längst beendigt hatten, als er mit der seinen noch in ganzen Ziffernreihen steckte. Endlich waren alle Summen zusammengezählt, und man verkündete die endgültigen Ergebnisse der Wahl. {{Fage¬rolles}} war der Fünfzehnte unter vierzig, fünf Stellen vor {{Bongrand}}, der auf der nämlichen Liste stand, aber von vielen gestrichen war. Der Tag brach an, als Claude – gebrochen und entzückt zugleich – heimkehrte. &&x Er verbrachte jetzt zwei angstvolle Wochen. Zehnmal hatte er die Absicht, Nachrichten bei {{Fage¬rolles}} einzuholen, doch ein Gefühl der Scham hielt ihn zurück. Da übrigens die Richter in alphabetischer Ordnung vorgingen, war vielleicht noch nichts entschieden. Eines Abends ging es ihm wie ein Stich durch das Herz, als er auf der {{Clichy}}-Promenade zwei Schultern auf sich zukommen sah, deren Schaukeln ihm wohlbekannt war. Es war {{Bongrand}}, der verlegen schien. Er sprach zuerst. »Sie[[1]] müssen wissen: die Arbeit geht mit diesen Kerlen nur langsam vorwärts... Noch ist nicht alles verloren; wir halten Wacht: ich und {{Fage¬rolles}}. Zählen Sie[[1]] auf {{Fage¬rolles}}, denn ich fürchte, Sie[[1]] nur zu kompromittieren.« Die Wahrheit war, daß {{Bongrand}} in ewiger Feindschaft mit Mazel, dem Vorsitzenden, lebte, einem berühmten Meister der Kunstschule, dem letzten Wall der herkömmlichen eleganten und butterigen Manier. Obgleich sie sich als liebe Kollegen behandelten und kräftige Händedrücke austauschten, war diese Feindschaft gleich am ersten Tage offenkundig geworden; der eine konnte nicht die Zulassung eines Bildes verlangen, ohne daß der andere für die Zurückweisung stimmte. {{Fage¬rolles}} hingegen, der zum Schriftführer gewählt worden, hatte sich zum Lustigmacher, zum Liebling {{Mazels}} gemacht, der ihm seine Abtrünnigkeit eines ehemaligen Schülers verzieh, so sehr schmeichelte ihm heute dieser Renegat. Der junge Meister – ein jämmerlicher Kerl, wie die Kameraden sagten – erwies sich übrigens für die Anfänger, für die Wagemutigen härter als die Mitglieder des Instituts und ward nur milder, wenn er die Zulassung eines Bildes durchsetzen wollte; dann war er unerschöpflich an drolligen Einfällen und Ränken und ergatterte sich die angestrebte Stimme mit der Geschmeidigkeit eines Taschenspielers. Dieses Arbeiten der Richter war eine schwere Frone, bei der selbst {{Bongrand}} seine starken Beine abnutzte. Jeden Tag wurde die Arbeit von den Saalhütern vorbereitet; es war eine endlose Reihe von großen Bildern auf die Erde gestellt, an die Schranken gelehnt, durch alle Säle des ersten Stockes laufend, rings um den ganzen Palast; jeden Nachmittag um ein Uhr begannen die vierzig Richter mit dem klingelbewehrten Präsidenten an der Spitze den Spaziergang von neuem, bis das ganze Alphabet erledigt war. Die Urteile wurden stehenden Fußes gefällt, man machte die Arbeit so rasch wie möglich fertig, die schlechtesten Bilder wurden ohne Abstimmung verworfen; doch geschah es zuweilen, daß die Gruppe durch Meinungsverschiedenheiten aufgehalten wurde, man stritt zehn Minuten und behielt sich vor, über das strittige Gemälde bei der Überprüfung am Abend zu entscheiden; zwei Männer hielten Leinen von zehn Meter Länge und zogen sie vier Schritte vor der Reihe der Gemälde straff an, um die Richter, die in der Hitze des Streites immer näher an die Bilder herandrängten, in gebührender Entfernung zu halten. Hinter ihnen kamen siebzig Saalhüter in weißen Kitteln, die unter den Befehlen eines Aufsehers arbeiteten und bei jeder Entscheidung, die ihnen durch die Schriftführer mitgeteilt wurde, die Ausmusterung vollzogen, indem sie die zugelassenen Bilder von den zurückgewiesenen sonderten, die sogleich beiseite geschafft wurden wie die Leichen nach einer Schlacht. Dieser Gang durch die Säle dauerte volle zwei Stunden ohne eine Rast, ohne daß man einen Augenblick auf einem Sessel ausruhen konnte, immer auf den müde trippelnden Beinen, im eisigen Luftzug, der selbst die am wenigsten Empfindlichen zwang, sich in ihre Pelze zu hüllen. Der Imbiß um drei Uhr war denn auch sehr willkommen; man hatte eine halbe Stunde Rast und stärkte sich an einem Büfett mit Bordeaux {{[Bordeaux]}}, Schokolade, belegten Brötchen. Hier war auch der Markt für die gegenseitigen Zugeständnisse, für den Austausch der Einflüsse und der Stimmen. Die Mehrzahl der Herren war mit kleinen Notizheftchen versehen, um niemanden zu vergessen in dem Hagel von Empfehlungen, der über sie niedergegangen war; dieses Büchlein zogen sie zu Rate und verpflichteten sich, für die Schützlinge eines Kollegen zu stimmen, wenn dieser für den ihrigen stimme. Andere wieder, die diesem Ränkespiel fremd blieben, rauchten mit strenger oder sorgloser Miene ihre Zigarette zu Ende. Dann ward die Arbeit wieder aufgenommen, aber bedächtiger in einem einzigen Saale, wo es Tische und Sessel, Tinte und Federn gab. Alle Bilder, die nicht die Höhe von anderthalb Meter erreichten, wurden hier beurteilt, kamen »auf die Staffelei«, das heißt ihrer zehn oder zwölf in einer Reihe auf eine Art Gerüst, das mit grüner Leinwand verhängt war. Viele Richter streckten sich behaglich in ihren Sessel, andere besorgten ihren Briefwechsel; der Vorsitzende mußte sich oft ereifern, um bei den Abstimmungen die nötige Mehrheit zu erlangen. Zuweilen ging ein leidenschaftlicher Zug durch die Gesellschaft; alle drängten heran, und das Abstimmen mit erhobener Hand ging in einer solchen Erregung vor sich, daß man über der bewegten Flut der Köpfe Hüte und Stöcke sah, die in der Luft geschüttelt wurden. Hier, auf der Staffelei, erschien endlich das tote Kind. {{Fage¬rolles}}, dessen Heftchen voll Notizen war, betrieb seit acht Tagen ein sehr verwickeltes Feilschen, um zugunsten Claudes Stimmen zu werben; allein die Sache ging schwer vonstatten und ließ sich nicht mit seinen anderen Verpflichtungen abmachen; er holte sich nichts als Weigerungen, sobald er nur den Namen seines Freundes aussprach; er beklagte sich, daß {{Bongrand}} ihn nicht unterstütze; dieser hatte kein Notizheft und war übrigens so ungeschickt, daß er durch unzeitgemäße Äußerungen seines Freimutes der besten Sache nur schadete. {{Fage¬rolles}} würde Claude schon zwanzigmal haben fallen lassen, hätte er nicht an dieser als unmöglich verschrienen Zulassung seine Macht erproben wollen. Man werde sehen, ob er nicht von dem Zuschnitte sei, die Richter jetzt schon unterzukriegen. Vielleicht empfand er auf dem Grunde seines Gewissens ein Gefühl der Gerechtigkeit, der geheimen Achtung vor dem Manne, dessen Talent er bestahl. Gerade an jenem Tage war Mazel sehr übel gelaunt. Bei Beginn der Sitzung war der Aufseher herbeigeeilt und meldete: »Herr Mazel, gestern ist ein Irrtum geschehen. Man hat ein Bild zurückgewiesen, das außer Wettbewerb war. Sie[[1]] erinnern sich: Nr. 2530, eine nackte Frau unter einem Baume.« &&x In der Tat hatte man gestern mit einhelliger Verachtung dieses Bild in die gemeinsame Grube geworfen, ohne zu bemerken, daß es von einem alten, klassischen Maler war, den selbst das Institut achtete. Die Bestürzung des Aufsehers, dieser gute Spaß einer unwillkürlichen Hinrichtung erheiterte die jüngeren Richter, die mit herausfordernder Miene hohnlächelten. Mazel verabscheute solche Geschichten, die – wie er sehr wohl fühlte – dem Ansehen der Kunstschule beträchtlich schaden mußten. Er machte eine zornige Gebärde und sagte: »Holen Sie[[1]] es wieder hervor und schaffen Sie[[1]] es zu den zugelassenen. Es war aber auch gestern ein unerträglicher Lärm. Wie soll man ein Bild prüfen können bei einer solchen Eile, wo es keinen Augenblick Ruhe gibt?« Er schwang wütend seine Klingel. »Vorwärts, meine[[Besitz]] Herren, wir sind bei der Arbeit; ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit.« Unglücklicherweise unterlief gleich bei den ersten Bildern, die auf die Staffelei kamen, wieder ein Mißgriff; unter anderen zog eine Leinwand seine besondere Aufmerksamkeit auf sich, so schlecht fand er sie, von einer solchen Herbheit des Tones, daß man Zähneknirschen davon bekam; da seine Augen schon schwach wurden, neigte er sich herab, um das Zeichen zu sehen, wobei er murmelte: »Wer ist denn dieses Schwein?« Doch er hob sogleich lebhaft betroffen den Kopf, weil er den Namen eines seiner Freunde gelesen hatte, eines Künstlers, der gleichfalls einer der Wälle der gesunden Kunstlehren war. In der Hoffnung, daß man ihn nicht gehört habe, rief er: »Ausgezeichnet! ... Nummer eins! Nicht wahr, meine[[Besitz]] Herren?« Man bewilligte dem Bilde die Nummer eins, die ihm das Recht verlieh, den Schranken zunächst aufgestellt zu werden; allein die Herren lachten und stießen sich mit dem Ellbogen. Das verletzte ihn sehr, und er ward ganz wild. Sie[[1]] machten es übrigens alle so; viele äußerten sich auf den ersten Blick und widerriefen dann ihre Meinung, nachdem sie den Namen gelesen hatten. Dies machte sie schließlich vorsichtig, sie beugten den Kopf vor und suchten den Namen zu erhaschen, ehe sie sich aussprachen. Wenn übrigens das Werk eines Kollegen an die Reihe kam, die verdächtige Leinwand eines der Richter, dann übte man die Vorsicht, hinter dem Rücken des betreffenden Malers einander durch Winke zu warnen: »Aufgepaßt! Keine Dummheit! Es ist von ihm!« Trotz der üblen Stimmung, die in der Sitzung herrschte, hatte {{Fage¬rolles}} schon einen ersten Erfolg errungen. Es war ein abscheuliches Porträt von einem seiner Schüler, dessen sehr reiche Familie ihn empfing. Er hatte Mazel beiseite führen müssen, um ihn durch eine empfindsame Geschichte zu rühren; das Bild sei von einem unglücklichen Vater dreier Töchter, der nicht das tägliche Brot habe. Der Präsident hatte sich lange bitten lassen; was Teufel! wenn man hungert, gibt man die Malerei auf; man dürfe nicht einen solchen Mißbrauch mit seinen drei Töchtern treiben! Indes erhob er die Hand mit {{Fage¬rolles}}. Man protestierte, ereiferte sich; selbst zwei Institutsmitglieder waren aufgebracht, als {{Fage¬rolles}} ihnen zuflüsterte: »Es ist {{Mazels}} wegen; Mazel hat mich gebeten, mit ihm zu stimmen ... Ein Anverwandter, glaube ich ... Kurz, er legt Gewicht darauf.« Die beiden Akademiker erhoben sogleich die Hand, und es fand sich eine bedeutende Mehrheit. Doch jetzt brach ein Sturm von Gelächter, Witzworten und Entrüstungsrufen los: man hatte soeben »das tote Kind« auf die Staffel gestellt. Was, sendet man ihnen jetzt gar die Leichenkammer? Die Jungen scherzten über den großen Kopf: ein Affe, der an einem großen Kürbis erstickt ist; die Alten wichen entsetzt zurück. {{Fage¬rolles}} fühlte sogleich, daß die Sache verloren sei. Zuerst versuchte er nach seiner geschickten Art die Stimmen im Scherze zu erhaschen. »Aber, meine[[Besitz]] Herren, ein alter Kämpfer! ...« Wütende Worte unterbrachen ihn. Nein, den nicht! Man kannte den alten Kämpfer! Ein Narr, der sich seit fünfzehn Jahren in seinem Eigensinn verstrickte; ein Hochmütiger, der das Genie spielte und davon gesprochen hat, den Salon zu sprengen, ohne jemals eine annehmbare Leinwand dahin zu senden. Der ganze Haß gegen die regellose Ursprünglichkeit, gegen den offenen Wettbewerb, den man fürchtete, gegen die unüberwindliche Kraft, die selbst geschlagen noch siegt, grollte in dem Ausbruch der Stimmen. Nein, nein; hinaus! Da beging {{Fage¬rolles}} den Fehler, sich auch seinerseits aufzuregen, indem er dem Unwillen darüber nachgab, daß er seinen geringen Einfluß erkannte. »Ihr seid ungerecht! Übt doch wenigstens Gerechtigkeit!« Da stieg der Tumult auf den Gipfel. Man umringte ihn, man stieß ihn, drohende Arme erhoben sich, Sätze wurden gleich Kugeln hervorgestoßen. »Mein Herr, Sie[[1]] beleidigen die Richter!« »Sie[[1]] verteidigen es nur, damit Ihr Name in die Zeitungen komme!« »Sie[[1]] verstehen es nicht!« {{Fage¬rolles}}, der außer sich war und seine sonstige höhnische Geschmeidigkeit verlor, erwiderte plump: »Ich verstehe es besser als ihr!« »So schweig doch!« sagte ein Kamerad, ein kleiner, blonder Maler, der am ärgsten schrie; »Du wirst uns doch nicht diese Steckrübe verschlucken lassen wollen!« Ja, ja, eine Steckrübe! Alle wiederholten überzeugt das Wort, das sie gewöhnlich den schlimmsten Klecksereien, der platten, kalten, blassen Malerei der Farbenschmierer hinschleuderten. »Es ist gut,« sagte {{Fage¬rolles}} endlich zähneknirschend, »ich verlange die Abstimmung.« Seitdem der Streit sich verschärfte, schwang Mazel unaufhörlich seine Glocke, sehr rot darüber, daß sein Ansehen so mißachtet wurde. » Meine[[Besitz]] Herren! ... Aber, meine[[Besitz]] Herren! Es ist doch merkwürdig, daß man sich ohne Geschrei nicht mehr verständigen kann. Meine[[Besitz]] Herren, ich bitte Sie[[1]] ...« Endlich erlangte er ein wenig Stille. Er war im Grunde kein schlechter Mensch. Warum sollte man nicht dieses kleine Bild zulassen, obgleich er es abscheulich fand? Man hat ja so viele andere zugelassen! » Meine[[Besitz]] Herren, die Abstimmung wird verlangt.« Er selbst war eben im Begriff die Hand zu erheben, als {{Bongrand}}, der bis jetzt stumm geblieben, die Wangen rot vom verhaltenen Zorne, plötzlich losbrach und seinem empörten Gewissen Luft machte. »Donnergottes! Es gibt nicht vier unter uns, die ein ähnliches Stück machen können!« Ein Gebrumme lief durch die Gesellschaft; der Keulenschlag war so wuchtig, daß niemand antwortete. » Meine[[Besitz]] Herren, man verlangt die Abstimmung«, wiederholte Mazel, der bleich geworden, mit trockener Stimme. Dieser Ton genügte. Es war der versteckte Haß, die wilde Nebenbuhlerschaft unter dem Schirm der gemütlichen Händedrücke. Selten kam es zu solchem Streit; fast immer verständigte man sich. Allein am Grunde der verletzten Eitelkeit waren ständig blutende Wunden, Zweikämpfe auf Messer, unter denen man lächelnd verblutete. {{Bongrand}} und {{Fage¬rolles}} allein erhoben die Hände; das »tote Kind« wurde abgelehnt und hatte nur noch die Hoffnung, bei der allgemeinen Überprüfung durchzukommen. &&x Diese allgemeine Überprüfung war eine furchtbare Fron. Die zwei Tage Ruhe, welche die Richter nach zwanzig ununterbrochenen Sitzungstagen sich gönnte, um den Saalhütern die Möglichkeit zu bieten, die Arbeit vorzubereiten, diese zwei Tage nützten nicht viel; nur mit Schauder erschienen die Herren an dem Nachmittag, an dem sie unter die dreitausend zurückgewiesenen Bilder gerieten, aus denen eine bestimmte Anzahl ausgewählt werden mußte, um die vorgeschriebene Ziffer von zweitausendfünfhundert zugelassenen Bildern zu vervollständigen. Ach, diese dreitausend Bilder, eines hart neben dem andern, an die Schranken gelehnt, in allen Sälen, rings um die äußere Galerie, kurz überall, selbst auf dem Fußboden, wo sie wie stille Sümpfe ausgebreitet lagen, zwischen denen man nur einen schmalen Pfad längs der Rahmen freiließ, eine Überschwemmung, eine Hochflut, die immer höher stieg und den ganzen Industriepalast zu überschwemmen drohte mit dem trüben Strom all dessen, was die Kunst an Mittelmäßigem und Törichtem dahinwälzen kann. Sie[[1]] hatten dazu nur eine Sitzung, von ein Uhr bis sieben Uhr, sechs Stunden verzweifelten Rennens durch dieses Wirrsal. Anfänglich wehrten sie sich tapfer gegen die Ermüdung und bewahrten sich den klaren Blick; doch bald schlotterten ihre Beine bei diesem Gewaltmarsch, und ihre Augen wurden gereizt durch dieses Farbengeflimmer; es galt noch immer weiter zu gehen, zu sehen und zu urteilen, bis man vor Ermüdung umsinken würde. Um vier Uhr waren die Richter in voller Auflösung gleich einer geschlagenen Armee. Weit hinten schleppten sich einige Mitglieder atemlos nach; andere folgten einzeln; sie verloren sich zwischen den Rahmen, den schmalen Pfaden und gaben die Hoffnung auf, jemals das Ende zu finden. Wie sollten sie da gerecht sein, großer Gott! Was sollten sie aus diesem schrecklichen Haufen zurücknehmen? Auf gut Glück, ohne eine Landschaft von einem Porträt zu unterscheiden, vervollständigten sie die Zahl. Zweihundert, zweihundertvierzig, noch acht, es fehlten noch acht Bilder. Dieses da? Nein, jenes dort! Welches Sie[[1]] wollen. Sieben, acht, fertig. Endlich hatten sie das Ende gefunden und hinkten frei, gerettet von dannen. Eine neuerliche Szene hatte sie in einem Saale bei dem »toten Kinde« aufgehalten, das unter anderen Trümmern am Boden lag. Allein jetzt scherzte man; ein Spaßvogel tat, als wolle er mitten auf die Leinwand treten; andere liefen auf dem schmalen Pfade hinüber, wie um die richtige Seite des Bildes zu suchen und erklärten, verkehrt sei es viel besser. Auch {{Fage¬rolles}} stimmte in den Spaß mit ein. »Ein wenig Mut, meine[[Besitz]] Herren. Prüfen Sie[[1]] in der Runde, es wird sich lohnen. Ich bitte Sie[[1]], meine[[Besitz]] Herren, seien Sie[[1]] freundlicher; nehmen Sie[[1]] das Bild an, tun Sie[[1]] ein gutes Werk.« Alle erheiterten sich an seinen Reden, aber sie weigerten sich mit ihrem grausamen Lachen noch hartnäckiger als früher. Nein, nein, niemals! »Nimmst du es auf deine Gnadenrechnung?« rief die Stimme eines Kameraden. Es war der Brauch, daß jeder Richter ein Bild aufnehmen konnte, das nicht näher geprüft wurde, und mochte es noch so schlecht sein. In der Regel machte man mit einer solchen gnadenweisen Zulassung Armen ein Geschenk. Diese vierzig, die in letzter Stunde aus dem Haufen herausgefischt wurden, waren die Bettler an der Tür, die Hungrigen, die sich an das unterste Ende der Tafel heranschleichen durften. »Für meine[[Besitz]] Gnadenrechnung?« wiederholte {{Fage¬rolles}} verlegen. Dazu habe ich ein anderes Bild in Vormerkung; ja, Blumen, von einer Dame gemalt ...« Er ward durch höhnisches Gelächter unterbrochen. War sie hübsch? Der Malerei von Frauen gegenüber waren die Herren stets zu boshaften Witzen geneigt, ohne jede Galanterie. {{Fage¬rolles}} war in arger Verwirrung, denn die in Rede stehende Dame war ein Schützling Irmas. Er zitterte bei dem Gedanken an die furchtbare Szene, die ihm diese machen werde, wenn er sein Versprechen nicht hielt. Da verfiel er auf einen Ausweg. »Und Sie[[1]], {{Bongrand}}? ... Nehmen Sie[[1]] doch dieses drollige »tote Kind« auf Ihre Gnadenrechnung!« Bekümmerten Herzens und entrüstet über einen solchen Handel fuchtelte {{Bongrand}} mit seinen großen Armen. »Ich sollte einem wahren Maler diesen Schimpf antun? Er sollte doch mehr Selbstbewußtsein haben und nichts mehr in die Ausstellung schicken!« Da die anderen noch immer hohnlachten, entschloß sich {{Fage¬rolles}} dazu, der den Sieg behalten wollte, mit stolzer Miene als kühner Junge, der nicht fürchtet bloßgestellt zu werden. »Es ist gut, ich nehme es auf meine[[Besitz]] Gnadenrechnung.« Man rief Bravo und brachte ihm spöttelnd Ehrenbezeigungen; man verbeugte sich vor ihm, drückte ihm die Hand. Ehre dem Wackern, der den Mut seiner Überzeugung hatte! Ein Saalhüter trug das arme, verhöhnte, verstoßene, verunglimpfte Bild in seinen Armen fort. So wurde ein Gemälde des Malers von »Freilicht« endlich von den Richtern angenommen. Am folgenden Morgen verständigte {{Fage¬rolles}} Claude in zwei Zeilen, daß es ihm endlich gelungen sei, das »tote Kind« in den Salon aufnehmen zu lassen, daß es aber nicht ohne Mühe geschehen sei. Trotz der Freude über diese Nachricht fühlte Claude, wie sein Herz sich zusammenschnürte: etwas Wohlwollendes, Mitleidiges, die ganze Erniedrigung dieses Geschehnisses sprach aus jedem Worte dieser kurzen Verständigung. Einen Augenblick war er unglücklich über diesen Sieg, daß er sein Werk zurücknehmen und verbergen wollte. Allein dieses Empfinden stumpfte ab, und er verfiel wieder in die Ohnmacht seines Künstlerstolzes, so sehr hatte sein menschliches Elend durch das lange Warten nach dem Erfolg gelitten. Gesehen werden, trotz allem ans Ziel gelangen! Er war ans Ende des Entsagens angekommen, sehnte die Eröffnung des Salons mit der fieberhaften Ungeduld eines Anfängers herbei und lebte in einem Wahn, der ihm sein Bild von einer Beifall rufenden Menge umdrängt sehen ließ. &&x Der »Firnistag« war in Paris allmählich in die Mode gekommen, das ist der Tag, der früher den Malern allein vorbehalten war, die kamen, um die Aufstellung ihrer Bilder noch im letzten Augenblicke zu überwachen. Jetzt war dieser Tag eine Art Erstlingsfrucht, eine jener Festlichkeiten, welche die ganze Stadt auf die Beine bringen, in dichtgedrängten Scharen herbeilocken. Seit einer Woche gehörten die Presse, die Straße, das Publikum den Künstlern. Sie[[1]] hielten Paris in Atem, es war einzig und allein von ihnen die Rede, von ihren Einsendungen, von ihren Handlungen, von ihren Gebärden, von allem, was ihre Person berührte; es war eine jener plötzlich niederfahrenden Torheiten, die mit ihrer Gewalt das Straßenpflaster aufzureißen drohen; ganze Scharen von Landleuten, Soldaten und Kindermädchen drängten sich an Tagen, wo der Eintritt freigegeben war, durch die Säle; an manchen schönen Sonntagen wurde die erschreckende Ziffer von fünfzigtausend Besuchern erreicht; eine ganze Armee, die Bataillone {{[Bataillone]}} des unwissenden kleinen Volkes, welche, den höheren Gesellschaftskreisen folgend, mit weit aufgerissenen Augen durch diesen großen Bilderladen zog. Anfänglich hatte Claude Angst vor diesem berühmten Firnistag; ihn schüchterte der Gedanke an das Gedränge vornehmer Leute ein, von denen man sprach, und er war entschlossen, den demokratischen Tag der wirklichen Eröffnung abzuwarten. Er weigerte sich, Sandoz dahin zu begleiten. Dann aber ward er von einem solchen Fieber ergriffen, daß er um acht Uhr plötzlich aufbrach, nachdem er in aller Hast[[beeilen]] ein Stück Brot und ein wenig Käse verschluckt hatte. Christine, die nicht den Mut hatte, mit ihm zu gehen, rief ihn zurück und küßte ihn noch einmal besorgt und tiefbewegt. »Vor allem, mein Liebling: gräme dich nicht, was auch geschehen mag.« Als Claude den Ehrensalon betrat, war er schier atemlos, und sein Herz pochte stürmisch; er war die große Treppe zu schnell heraufgeeilt. Draußen war ein durchsichtiger Maihimmel; die unter dem Glasdache ausgespannte Leinwand dämpfte die Sonne zu einem lebhaften, weißen Lichte; durch die benachbarten Türen, die sich auf die Gartengalerie öffneten, wehten feuchte Lüfte von einer bebenden Frische herein. Claude verschnaufte sich einen Augenblick in dieser Luft, die sich schon verdichtete und einen schwachen Firnisgeruch bewahrte, der mit dem feinen Moschusgeruch der Frauen sich mengte. Mit einem Blick übersah er die an den Wänden hängenden Bilder, geradeaus ein riesiges, bluttriefendes Gemetzel, links ein großes, blasses Heiligenbild, das der Staat bezahlt hatte, rechts die nüchterne Darstellung eines offiziellen Festes, dann Porträts, Landschaften, Familienszenen, alle in grellen Farben schimmernd, in Rahmen von allzu neuem Golde. Doch in seiner Furcht vor den Besuchern dieser Feierlichkeit lenkte er die Blicke wieder auf die allmählich angewachsene Menge. Auf dem Rundpuff, das in der Mitte des Saales stand, und von dem eine Garbe grüner Pflanzen aufstieg, saßen nur drei Damen, drei abscheulich gekleidete Ungeheuer, die es sich da bequem gemacht hatten, als wollten sie ihr Lästerstündchen halten. Hinter sich hörte er eine rauhe Stimme Silben zermalmen: es war ein Engländer in kariertem Überrock, welcher die Metzelei einer gelben Frau erklärte, die in einen Staubmantel gehüllt war. Es waren noch leere Plätze im Saale, Gruppen bildeten sich und lösten sich wieder, um sich weiterhin neuerlich zusammenzufinden. Alle Köpfe blickten in die Höhe; die Herren hatten Stöcke, ihre Überröcke über den Arm geschlagen; die Frauen wandelten mit leisen Schritten durch den Saal, blieben zuweilen stehen und ließen ein flüchtiges Profil erblicken. Sein Malerauge wurde vor allem von den Blumen ihrer Hüte festgehalten, deren Töne sich von den dunkeln Zylinderhüten scharf abhoben. Er bemerkte drei Priester, zwei Soldaten, die, Gott weiß wie, hierher verschlagen worden, eine ununterbrochene Reihe von ordengeschmückten Herren, ganze Schwärme von jungen Mädchen mit ihren Müttern, bald da, bald dort den Verkehr hemmend. Viele kannten sich, es war ein Lächeln und Grüßen von ferne, zuweilen wurde ein flüchtiger Händedruck im Vorübergehen gewechselt. Die Stimmen blieben halblaut, durch das fortdauernde Getrappel der Füße übertönt. Jetzt begann Claude sein Bild zu suchen. Er suchte sich nach dem Alphabet zu orientieren, irrte sich und ging durch die linksseitigen Säle. Alle Türen standen offen; es war ein tiefer Durchblick von Türvorhängen mit einzelnen Bilderecken, die sichtbar waren. Er ging bis zum großen Saale auf der Westseite, kam durch die andere Flucht zurück, ohne seinen Buchstaben zu finden. Als er wieder in den Ehrensalon geriet, sah er daselbst die Menge so schnell angewachsen, daß man sich nur mit Mühe fortbewegen konnte. Weil er jetzt nicht vorwärts konnte, erkannte er Maler, das Volk der Maler, das heute hier daheim war und die Ehren des Hauses erwies; besonders einer, ein ehemaliger Freund aus dem Atelier {{Boutin}}, noch jung, von einem Bedürfnis nach Öffentlichkeit verzehrt, für die Medaille arbeitend, alle Besucher von einigem Einfluß abfangend und mit Gewalt zu seinen Gemälden führend; dann den berühmten, reichen Maler, der die Besucher mit einem triumphierenden Lächeln vor seinem Werke empfing, mit einer auffälligen Galanterie gegenüber den Frauen, die einen immer wieder sich erneuernden Hof um ihn bildeten; dann die anderen, die Nebenbuhler, die einander verabscheuen und sich gegenseitig mit lauter Stimme Lobsprüche zurufen; die Wütenden, die an einer Tür stehend die Erfolge der Kameraden belauern; die Schüchternen, die nicht für ein Königreich in ihren Saal gingen; die Spötter, welche die blutende Wunde ihrer Niederlage unter einem Scherzworte verbargen; die wahren Beobachter, welche die Ausstellung studierten und im Geiste schon die Medaillen verteilten. Es waren auch die Familien der Maler da, eine junge, reizende Frau, begleitet von einem zierlich geschniegelten Kinde; eine magere, mürrische Spießbürgerin, von zwei schwarzgekleideten häßlichen Töchtern begleitet, eine dicke Hausmutter, auf einem Bänkchen gelagert und von einem Schwarm schlecht gesäuberter Kleinen umgeben; eine reife, noch schöne Dame, die mit ihrer erwachsenen Tochter eine Dirne, die Geliebte des Vaters vorüberkommen sah; die Damen waren über das Verhältnis auf dem Laufenden und tauschten ein stilles Lächeln aus; dann die Modelle, Weiber, die einander an den Armen zogen und in den Nacktheiten der Gemälde sich gegenseitig ihre Körper zeigten, laut sprechend, geschmacklos gekleidet, ihre prächtigen Leiber in Kleider gehüllt, daß sie bucklig schienen neben den gut gekleideten Puppen, den Pariserinnen, von denen, hätte man sie aus ihrer Toilette geschält, nichts übrig geblieben wäre. &&x Als Claude sich freigemacht hatte, betrat er die rechtsseitige Saalreihe. Auf dieser Seite fand sich sein Buchstabe. Er durchforschte die mit einem L bezeichneten Säle und fand nichts. Vielleicht war sein Bild verlegt oder irgendwo zur Ausfüllung einer Lücke benützt worden. Als er in dem großen östlichen Saale angekommen war, durcheilte er die hinteren, kleinen Säle, die weniger besucht, der Schrecken der Maler waren, weil daselbst die ausgestellten Bilder in langweiligem Düster verkümmerten. Auch da fand er nichts. Betroffen, verzweifelt irrte er umher, trat auf die Gartengalerie hinaus und fuhr fort zu suchen in dieser Überfülle von Nummern, die fahl und gleichsam zitternd in der grellen Beleuchtung hierher verdrängt worden waren; nachdem er noch in anderen Richtungen lange herumgeirrt, geriet er zum drittenmal in den Ehrensalon. Dort herrschte jetzt ein Gedränge zum Erdrücktwerden. Das berühmte, reiche, angebetete Paris, alles was von sich reden macht, das Genie, die Million, die Schönheit, die Meister des Romans, des Theaters und der Zeitung, die Klubmänner, die Sportmänner, die Börsenmänner, die Weiber aller Klassen, Dirnen, Schauspielerinnen, Damen der guten Gesellschaft in auffälligem Durcheinander strömten in immer wachsender Menge herauf. In dem Zorn wegen seines vergeblichen Suchens war er erstaunt über die Gewöhnlichkeit der Gesichter, die er da in Masse sah, über die Verschiedenheit der Toiletten, von denen er wenige elegante unter vielen alltäglichen bemerkte, über den Mangel an Würde[[würdig]] dieser Gesellschaft, die er anfänglich gefürchtet hatte und jetzt verachtete. Sollten diese Leute abermals seine Gemälde verhöhnen, wenn es überhaupt auffindbar wäre? Zwei kleine blonde Berichterstatter vervollständigten ihre Listen der anzuführenden Personen. Ein Kritiker machte in auf fälliger Weise Anmerkungen an den Blatträndern seines Katalogs. Ein anderer stand mitten in einer Gruppe von Anhängern und hielt ihnen Vorträge. Ein dritter stand einsam mit den Händen hinter dem Rücken und ließ auf jedes Bild die Wucht seines erhabenen Gleichmutes niedergehen. Hauptsächlich verblüffte Claude dieses Gedränge, diese Massenneugierde ohne Unbefangenheit und ohne Leidenschaft, die Herbheit der Stimmen, die Mattheit der Gesichter, ein Aussehen bösartigen Leidens. Schon war der Neid am Werke: der Herr, der bei den Damen den Geistreichen spielt; der andere, der wortlos betrachtete, furchtbar die Achseln zuckte und dann ging: die zwei Herren, die eine Viertelstunde Seite an Seite an das Brettchen der Schranken gelehnt stehen mit der Nase auf einer kleinen Leinwand, leise miteinander flüsterten und verstohlene Verschwörerblicke tauschten. Doch jetzt war {{Fage¬rolles}} erschienen. Inmitten des unablässigen Zuströmens der Gruppen sah man jetzt ihn allein mit ausgestreckter Hand, sich überall gleichzeitig zeigend, in seiner Doppelrolle eines jungen Meisters und eines einflußreichen Richters sich gebend. Mit Lobsprüchen, Danksagungen und Beschwerden überhäuft, hatte er für jeden eine Antwort, ohne etwas von seiner Liebenswürdigkeit zu verlieren. Seit dem Morgen ertrug er den Ansturm der von ihm beschützten kleinen Maler, deren Bilder etwa schlecht untergebracht waren. Es war das gewöhnliche Drängen der ersten Stunde; alle eilten herbei, um ihre Bilder aufzusuchen und ergingen sich in endlosen wütenden Beschwerden; das Bild hänge zu hoch, die Beleuchtung sei eine ungünstige: die Nachbarschaft töte die Wirkung; einige wollten ihre Bilder herunterlangen und nach Hause tragen. Besonders einer war wütend, ein langer Magerer, der {{Fage¬rolles}} von Saal zu Saal verfolgte; dieser suchte vergebens ihm seine Unschuld zu beweisen: er könne nichts dafür, man gehe in der Reihenfolge der Rangnummern vor, die Felder jeder Mauer würden zuerst auf dem Fußboden angeordnet und dann aufgehängt, ohne daß jemand begünstigt werde. Er ging in seiner Gefälligkeit soweit, ihm seine Vermittlung zu versprechen, wenn nach der Verteilung der Medaillen die Säle neu eingerichtet würden; aber es gelang ihm nicht, den langen Magern zu beruhigen; dieser fuhr fort ihn zu verfolgen. Einen Augenblick drängte er sich durch die Menge, um {{Fage¬rolles}} zu fragen, wohin er seine Leinwand getan. Allein, eine Regung des Stolzes hielt ihn zurück, als er den andern so stark umworben sah. War dieses ewige Bedürfnis nach einem andern nicht blöd und schmerzlich zugleich? Überdies bedachte er plötzlich, daß er eine ganze Flucht von Sälen auf der rechten Seite übergangen haben mußte; in der Tat hingen da noch beinahe meilenlange Reihen von Bildern. So kam er schließlich in einen Saal, wo sich die Leute in dichter Menge vor einem großen Gemälde drängten, welches das vornehmste Feld in der Mitte einnahm. Anfänglich konnte er nichts sehen, so eng standen die Leute Schulter an Schulter, ein dichter Wall von Köpfen und Hüten. In gaffender Bewunderung strömte die Menge herbei. Als er sich auf die Fußzehen stellte, bemerkte Claude endlich das Wunder; er erkannte den Vorwurf nach allem, was man ihm davon gesagt hatte. Es war das Gemälde {{Fage¬rolles}}. Er fand sein »Freilicht« wieder in diesem »Frühstück«, denselben blonden Ton, dieselbe Kunstformel, aber wie sehr gemildert, gefälscht, von einer Eleganz der Haut, mit unendlicher Geschicklichkeit für den niedrigen Geschmack des Publikums hergerichtet. {{Fage¬rolles}} hatte nicht den Fehler begangen, seine drei Frauengestalten nackt zu malen; aber in ihren gewagten Toiletten von Weltdamen hatte er sie gleichsam entkleidet; die eine zeigte die Brust unter der durchsichtigen Spitze des Leibchens, die andere enthüllte das rechte Bein bis zum Knie, während sie sich zurücklehnte, um einen Teller zu nehmen; die dritte, die nicht das kleinste Stückchen ihrer Haut sehen ließ, trug ein so enges Kleid, daß sie, mit den gespannten Lenden einer Stute von einer geradezu sinnverwirrenden Unschicklichkeit war. Die zwei Herren, für den Landaufenthalt gekleidet, galant in ihrer Haltung, verwirklichten den Traum von der Vornehmheit; in der Ferne war ein Diener zu sehen, der noch einen Korb von dem hinter den Bäumen haltenden Landauer holte. Alles: die Figuren, die Stoffe, das Naturstück des Frühstücks, hob sich sehr schön, im vollen Sonnenlicht von dem dunkeln Grün des Hintergrundes ab; die äußerste Geschicklichkeit aber lag in der schwindelhaften Kühnheit, in der verlogenen Kraft, welche die Menge gerade genug zu packen wußte, um sie vor dem Gemälde in Entzücken schwelgen zu lassen. Ein Sturm in einem Sahnetopfe. Claude, der nicht heran konnte, hörte die Bemerkungen, die ringsumher fielen. Endlich einer, der wirkliche Wahrheit malte. Er unterstrich nichts, er wußte alles auszudrücken, ohne es merken zu lassen. Die Schattierungen, die Kunst der Zweideutigkeiten, der Respekt vor dem Publikum, die Zustimmung der guten Gesellschaft! Und dabei eine Feinheit, ein Reiz, ein Geist! Das war keiner von denen, die sich ungeschickt in leidenschaftlichen Bildern voll überquellender Schöpfungskraft ausgeben; nein, wenn er drei Notizen nach der Natur genommen hatte, gab er diese drei Notizen und nicht eine mehr. Ein Zeitungsberichterstatter, der eben angekommen, war begeistert und fand den richtigen Ausdruck: das Bild sei durchaus pariserisch, meinte er. Man wiederholte dieses Wort; keiner kam vorüber, ohne das Bild durchaus pariserisch zu finden. &&x Diese fortwährend anwachsende Flut erbitterte Claude schließlich; von dem Bedürfnis ergriffen, die Köpfe zu sehen, aus denen ein Erfolg sich zusammensetzt, machte er die Runde um den Menschenhaufen und wußte es so einzurichten, daß er sich an die Schrankenleiste lehnen konnte. Hier sah er dem Publikum ins Angesicht in dem grauen Lichte, welches die an der Saaldecke angebrachte Leinwand durchließ, zugleich die Mitte des Saales verdunkelnd; das helle Licht, von den Rändern des Schirmes herabfließend, warf ein weißes Feld auf die Bilder an der Wand, wo das Gold der Rahmen den warmen Ton der Sonne annahm. Sogleich erkannte er die Leute, die ihn ehemals verhöhnt hatten; waren es nicht diese, so waren es ihre Brüder, aber ernst, begeistert, verschönt von der achtungsvollen Aufmerksamkeit. Jenes üble Aussehen der Gesichter, jene Kampfesmüdigkeit, jene Neidgalle, welche die Haut verzerrt und gelb färbt, wie er sie früher gesehen: sie waren jetzt gemildert in dem einhelligen Genuß, den dieses liebenswürdig-verlogene Werk bot. Zwei dicke Damen saßen mit offenem Munde da und gähnten vor Vergnügen. Alte Herren betrachteten das Bild mit weitgeöffneten Augen und einer Miene des Verständnisses. Ein Gatte erklärte ganz leise den Vorwurf des Bildes seiner jungen Frau, die mit einer allerliebsten Bewegung des Halses Zustimmung nickte. Man sah verblüffte, tiefe, heitere, strenge Bewunderungen, bei vielen ein unbewußtes Lächeln, bei anderen eine in Schmachten ersterbende Miene. Die schwarzen Hüte lehnten sich halb zurück; die Blumen der Frauen flössen auf ihre Nacken herab. Alle diese Gesichter waren eine Minute unbeweglich und wurden dann von anderen verdrängt und ersetzt, die ihnen immer wieder glichen. Ganz dumm angesichts dieses Triumphes vergaß sich Claude in dem Saale, der sich schon zu klein erwies, weil immer neue Scharen sich daselbst zusammendrängten. Da fand sich keine Lücke mehr wie in der ersten Stunde, man spürte nicht die aus dem Garten aufsteigende Kühle, noch auch den flüchtigen Firnisgeruch; jetzt war die Luft erhitzt und herb von dem Geruche der Toiletten. Kurz nachher herrschte hier der Geruch eines nassen Hundes. Es mußte geregnet haben, einer jener plötzlichen Wolkenbrüche niedergegangen sein, wie sie im Frühjahr nicht selten sind; denn die zuletzt Angekommenen brachten eine Feuchtigkeit mit, schwere Kleider, die zu dampfen schienen, sobald sie in die Hitze dieses Saales eintraten. In der Tat sah man seit einer Weile die Leinwand an der Saaldecke sich plötzlich verdunkeln. Claude blickte empor und erriet, daß draußen windgepeitschte Wolken dahin jagten und Wasserstürze prasselnd auf das Glasdach schlugen. Ein Schatten lief die Mauern entlang, alle Bilder verdunkelten sich, das Publikum war in Nacht getaucht, bis der Maler – nachdem die Wolken verjagt waren – die Köpfe wieder aus dem Dämmer auftauchen sah mit dem nämlichen, von blödem Entzücken gerundeten Mund und Augen. Doch Claude war noch eine andere Bitternis vorbehalten. Auf dem Wandfelde zur Linken sah er das Bild {{Bongrands}}, als Seitenstück zu dem {{Fage¬rolles}}. Vor dem Gemälde {{Bongrands}} war kein Gedränge; die Besucher gingen gleichgültig vorüber. Und doch bedeutete es die äußerste Anstrengung, der Trumpf, den der große Maler seit Jahren auszuspielen versuchte, ein letztes Werk, in dem Bedürfnis geschaffen, die Mannhaftigkeit seines Niederganges zu beweisen. Der Haß, den er gegen die »ländliche Hochzeit« hegte, gegen dieses erste Meisterwerk, mit dem man sein Arbeiterleben erdrückt, hatte ihn gedrängt als Gegenstück »das Begräbnis auf dem Lande« zu malen, den Leichenzug eines jungen Mädchens, der sich in regellosen Gruppen zwischen Hafer- und Roggenfeldern fortbewegte. Er kämpfte gegen sich selbst; man solle sehen, ob er fertig sei, ob die Erfahrung seiner sechzig Jahre nicht so viel wert sei wie das glückliche Ungestüm seiner Jugend. Die Erfahrung wurde getäuscht, das Werk sollte ein düsterer Mißerfolg werden, der dumpfe Fall eines Mannes, an dem die Besucher teilnahmslos vorübergehen. Es fehlte nicht an einzelnen meisterhaften Zügen: so der Chorknabe, der das Kreuz hielt, die Gruppe der Marien-Jungfrauen, die den Sarg trugen und deren weiße Kleider, an rötlichen Leibern klebend, einen schönen Gegensatz zu dem schwarzen Sonntagsstaate des Trauergefolges bildeten, das zwischen grünen Feldern dahinzog. Allein der Priester in seinem weißen Chorhemd, das Mädchen mit dem Muttergottes-Banner, die dem Sarge folgende Familie und übrigens das ganze Bild war von einer trockenen Mache, unangenehm in seiner Gelehrtheit, steif in seiner Beharrlichkeit. Es war eine unbewußte, verhängnisvolle Rückkehr zum gequälten Romantismus, von dem der Künstler einst ausgegangen. Dies war wohl das Schlimmste an dem Ereignisse: die Gleichgültigkeit des Publikums hatte ihren Grund in der Kunst einer andern Zeit, in der gebackenen, ein wenig matten Malerei, die es nicht zu fesseln vermochte, seitdem die in blendendem Lichte schimmernden Werke der Neuerer in der Mode waren. &&x Eben erschien {{Bongrand}} mit dem zögernden Schritt eines schüchternen Anfängers im Saale, und Claude fühlte sein Herz beklommen, als er ihn einen Blick auf sein vereinsamtes Bild werfen sah und dann einen andern Blick auf das {{Fage¬rolles}}, vor dem ein Gedränge war. In diesem Augenblicke mußte der Maler das durchbohrende Bewußtsein seines Endes haben. Wenn bisher die Furcht vor seinem langsamen Niedergange ihn verzehrt hatte, so war es nur ein Zweifel; jetzt aber hatte er die plötzliche Gewißheit, er überlebte sich selbst, sein Talent war tot; nimmermehr würde er lebendige Werke schaffen. Er wurde sehr bleich und machte eine Bewegung, wie um zu fliehen, als der Bildhauer {{Cham¬bou¬vard}}, der mit seinem gewöhnlichen Gefolge von Schülern durch die andere Türe eintrat, ihn mit seiner breiten Stimme anrief, ohne sich um die anwesenden Personen zu kümmern. »He, Spaßvogel! erwische ich Sie[[1]] dabei, wie Sie[[1]] sich bewundern!« Er selbst hatte dieses Jahr eine abscheuliche Schnitterin ausgestellt, eine jener unsinnig verpfuschten Figuren, die absonderliche Launen zu sein schienen, aus seinen mächtigen Händen hervorgegangen; aber er war deswegen nicht minder siegesstrahlend und glaubte ein neues Meisterwerk geschaffen zu haben; so schritt er mit der Unfehlbarkeit eines Gottes durch die Menge, deren Lachen er nicht hörte. Ohne zu antworten, sah ihn {{Bongrand}} mit seinen fiebernden Augen an. »Haben Sie[[1]] mein Zeug unten gesehen?« fuhr der andere fort. »Sie[[1]] sollen herankommen, die Kleinen von heute! Es gibt nichts außer uns, die wir das alte Frankreich verkörpern!« Damit setzte er seinen Weg fort, gefolgt von seinem Hofe, die erstaunte Menge grüßend. »Dummkopf!« murmelte {{Bongrand}}, vom Kummer schier erstickt und entrüstet wie über den Lärm eines Bauern in Totengemache. Er hatte Claude bemerkt und trat näher. War es nicht feig, aus diesem Saale zu fliehen? Er wollte seinen Mut, den hohen Sinn seiner Seele zeigen, die den Neid niemals gekannt. »Unser Freund {{Fage¬rolles}} hat einen Erfolg errungen. Ich würde lügen, wenn ich mich für sein Bild begeistern wollte, das mir ganz und gar nicht gefällt; aber er selbst ist wirklich ein artiger Junge ... In Ihrer Sache hat er sich sehr gut benommen.« Claude strengte sich an, ein Wort der Bewunderung für das »Leichenbegängnis« zu finden. »Der kleine Kirchhof im Hintergrunde ist so hübsch!... Ist es möglich, daß das Publikum ...« Doch {{Bongrand}} unterbrach ihn mit rauher Stimme. »Nur kein Mitleid, mein Freund! ... Ich sehe ganz klar.« In diesem Augenblicke grüßte jemand mit vertraulicher Handbewegung, und Claude erkannte {{Naudet}}, einen größer gewordenen, angeschwollenen {{Naudet}}, vergoldet durch die riesigen Geschäfte, die er jetzt machte. Der Ehrgeiz verdrehte ihm den Kopf, und er sprach davon, alle anderen Bilderhändler in den Staub zu werfen. Er hatte einen Palast bauen lassen, wo er sich als König des Marktes gebärdete, die Meisterwerke vereinigte, die großen modernen Kunstmagazine eröffnete. Im Flur seines Hauses erklangen die Millionen; er veranstaltete daselbst Ausstellungen, richtete außerhalb des Hauses Bildersammlungen ein, denen er Bilder, die er für zehntausend Franken erstanden, für vierzig- und fünfzigtausend verkaufte. Er führte einen fürstlichen Haushalt, hatte eine Gattin, Kinder, eine Geliebte, Pferde, ein Landgut in der {{Pikardie}}, wo er große Jagden veranstaltete. Seine ersten Gewinste {{[Gewinste]}} kamen von der Preissteigerung der Bilder der berühmten toten Meister, die zu ihren Lebzeiten verleugnet worden, wie {{Gourbet}}, {{Millet}}, {{Rousseau}}. Dies bestärkte ihn vollends in seiner Mißachtung gegen jedes Gemälde, das von einem noch um die Anerkennung kämpfenden Maler gezeichnet war. Indessen waren schon allerlei ungünstige Gerüchte über ihn im Umlauf. Die Zahl der bekannten Bilder war eine begrenzte, und da die der Kunstliebhaber nicht vergrößert werden konnte, kam die Zeit, wo die Geschäfte schwieriger wurden. Man sprach von einem Syndikat, von einer Abmachung mit den Bankiers zur Aufrechterhaltung der hohen Preise. Im Versteigerungshause »Saal {{Drouot}}« kam man so weit, daß man Scheinverkäufe veranstaltete, wo der Händler selbst seine Bilder für teures Geld zurückkaufte. Der Zusammenbruch drohte verhängnisvoll am Ende dieser Börsenoperationen; der Sturz in die Übertreibungen und Lügen des Agio. »Guten Tag, teurer Meister«, sagte {{Naudet}}, der sich genähert hatte. »Sie[[1]] kommen – wie alle – um meinen[[Besitz]] {{Fage¬rolles}} zu bewundern, wie?« Seine Haltung {{Bongrand}} gegenüber war nicht mehr so achtungsvoll und einschmeichelnd wie früher. Er sprach von {{Fage¬rolles}} wie von einem ihm gehörenden Maler, von einem in seinen Diensten stehenden Arbeiter, den er oft ausschelten mußte. Er hatte ihn in der {{Villiers}}-Allee eingerichtet, indem er ihn zwang, ein eigenes Hotel zu haben, ihn möblierte wie eine ausgehaltene Dirne, ihn durch Lieferungen von Teppichen und Nippsachen in Schulden stürzte, um ihn nachher in seiner Gewalt zu haben. Jetzt begann er ihn zu beschuldigen, daß er das unordentliche Leben eines leichtfertigen Burschen führe. Dieses Bild zum Beispiel! Niemals hätte ein ernster Maler es in die Ausstellung gesandt; das Bild machte allerdings Aufsehen, man sprach sogar von der Ehrenmedaille; aber es tauge nichts, wenn man hohe Preise erzielen wolle. Wer die Amerikaner haben wolle, müsse hübsch zu Hause bleiben wie ein Gott in der Tiefe seines Heiligtums. »Mein Lieber, ob Sie[[1]] mir es glauben oder nicht: ich hätte zwanzigtausend Franken aus meiner Tasche dafür gegeben, daß die blöden Zeitungen nicht soviel Lärm mit meinem diesjährigen {{Fage¬rolles}} machen.« {{Bongrand}}, der trotz seines inneren Leides mutig zuhörte, lächelte nur. »In der Tat,« sagte er, »die Blätter sind vielleicht ein wenig zu weit gegangen ... Gestern las ich einen Artikel, aus dem ich erfuhr, daß {{Fage¬rolles}} jeden Morgen zwei weiche Eier zum Frühstück genießt.« Er lachte über diesen törichten Zug der Öffentlichkeit, die seit einer Woche ganz Paris mit dem jungen Meister beschäftigte in Verfolg eines ersten Artikels über sein Gemälde, das noch niemand gesehen hatte. Die ganze Berichterstatterschar war auf den Beinen; man entkleidete den Meister, schilderte seine Kindheit, erzählte von seinem Vater, dem Fabrikanten von Zinkgegenständen, von seinen Studien; man erzählte, wo er wohnte, wie er lebte; man schilderte die Farbe seiner Strümpfe und seine Gewohnheit, an seiner Nasenspitze zu zupfen. Er war die Leidenschaft des Augenblicks, der junge Meister nach dem Geschmack des Tages, der so glücklich war, den Preis von Rom nicht zu bekommen und mit der Schule zu brechen, deren Methode er aber beibehielt; es war das Glück einer Jahreszeit, das der Wind bringt und wieder entführt, eine nervöse Laune dieser großen, verrückten Stadt, ein Erfolg des Beiläufigen, der halb verhüllten Kühnheit, des Zufalls, der am Morgen die Menge in Aufruhr bringt, um sich des Abends in der Gleichgültigkeit aller zu verlieren. Doch {{Naudet}} bemerkte jetzt das »Leichenbegängnis«. »Das ist Ihr Bild! ... Sie[[1]] wollten also ein Seitenstück zur ›Ländlichen Hochzeit‹ machen? Ich würde Ihnen abgeraten haben ... Ach, &&c=8 die ländliche Hochzeit &&c=0 !« &&x {{Bongrand}} hörte ihm Hoch immer lächelnd zu; nur eine schmerzliche Falte durchschnitt seine zitternden Lippen. Er vergaß seine Meisterwerke, die seinem Namen gesicherte Unsterblichkeit; er sah nur den unmittelbaren, ohne Anstrengung erlangten Erfolg dieses grünen Jungen, der nicht wert war, ihm die Palette zu reinigen, und ihn vergessen ließ, ihn, der zehn Jahre gekämpft hatte, bis sein Name bekannt wurde. Wenn dieses neue Geschlecht, das die Alten begräbt, wüßte, welche blutige Zähren es den Sterbenden erpreßt! Als er schwieg, ergriff ihn die Furcht, daß er sein geheimes Leid habe erraten lassen. Sollte er zur Niedrigkeit des Neides herabsinken? Ein Zorn gegen sich selbst richtete ihn wieder empor; man müsse aufrecht stehend zu sterben wissen. Anstatt der heftigen Antwort, die sich ihm auf die Lippen drängte, sagte er in vertraulichem Tone: »Sie[[1]] haben recht, {{Naudet}}; an dem Tage, da ich den Einfall hatte, dieses Bild zu malen, hätte ich besser getan, schlafen zu gehen.« »Ach, da ist er! Verzeihen Sie[[1]]!« rief der Kaufmann und entschlüpfte ihm. Es war {{Fage¬rolles}} am Eingang des Saales. Er trat nicht ein, verhielt sich bescheiden, lächelnd, trug sein Glück mit dem Anstande eines geistvollen Jungen. Er schien jemand zu suchen, winkte einem jungen Manne und gab ihm eine Auskunft, ohne Zweifel eine günstige, denn der junge Mann floß von Danksagungen über. Zwei andere eilten herbei, um ihn zu beglückwünschen; eine Dame hielt ihn zurück und zeigte ihm mit den Gebärden einer Märtyrerin ein Bild – ein Naturstück darstellend – das sehr ungünstig, in einem dunkeln Winkel untergebracht war. Dann verschwand er, nicht ohne vorher das vor seinem Gemälde sich begeisternde Volk in einen einzigen Blick einzuhüllen. Claude, der es gesehen und gehört hatte, fühlte sein Herz in Traurigkeit versinken. Das Gedränge nahm immer mehr zu; er hatte vor sich nur gaffende, in der unerträglichen Hitze schwitzende Gesichter. Hinter den Schultern waren noch andere Schultern, bis zur Tür, wo alle, die nichts sehen konnten, sich mit ihren wassertriefenden Regenschirmen das Gemälde zeigten. {{Bongrand}} blieb da, stolz und aufrecht in seiner Niederlage, fest auf seinen alten Kämpferbeinen, die hellen Augen auf das undankbare Paris gerichtet. Als tapferer Mann von allumfassender Güte wollte er reden. Claude, der zu ihm sprach, ohne eine Antwort zu erhalten, sah sehr wohl, daß hinter diesem ruhigen und heiteren Antlitze die Seele abwesend war, in Trauer verloren, blutend in furchtbarer Qual; von Schreck und Ehrfurcht ergriffen, drang er nicht länger in ihn und ging fort, ohne daß {{Bongrand}} mit seinen hohl blickenden Augen es bemerkte. Von neuem jagte ein Gedanke Claude durch die Menge. Er war erstaunt, sein Bild nicht gefunden zu haben. Und doch war nichts einfacher. Gab es denn nicht einen Saal, wo man lachte, einen Winkel, wo gespottet und gelärmt wurde, eine Ansammlung von höhnendem Publikum, das ein Bild schmähte? Dieses Bild war sicherlich das seine. Noch hatte er das Gelächter aus dem ehemaligen Salon der Zurückgewiesenen in den Ohren; er lauschte jetzt bei jeder Tür, ob man ihn nicht dort verhöhne. Doch als er sich wieder im östlichen Saale befand, in dieser Halle, wo die hohe Kunst schlummerte, in der Niederlage, wo die ernsten, kühlen, geschichtlichen und Heiligenbilder angehäuft waren, fuhr er plötzlich zusammen und blieb unbeweglich stehen, die Augen in die Höhe gerichtet. Er war schon zweimal durch diesen Saal gekommen! Das dort oben war ja sein Bild, so hoch, so hoch, daß er es nicht erkennen konnte, ganz klein wie eine Schwalbe neben der Ecke des gewaltigen Rahmens eines Riesengemäldes von zehn Metern, welches die Sintflut darstellte, das Gewühl eines gelben Volkes im Todeskampfe mit einer schmutzigen Flut von der Farbe der Weinhefe. Links hing das Vollbild eines aschfarbenen Generals, rechts eine kolossale Nymphe in einer Mondlandschaft, der blutlose Leichnam einer Ermordeten, der im Grase verwest; ringsumher überall rötliche, violette Sachen, traurige Bilder, selbst eine komische Szene: Mönche, die sich betrinken, dann eine Eröffnung der Abgeordnetenkammer, mit einem beschriebenen Blatte in vergoldetem Zierrahmen, wo die Köpfe der bekannten Abgeordneten in bloßen Strichen wiedergegeben waren, begleitet von ihren Namen. Das kleine Bild dort oben, umgeben von bleichen Nachbarschaften, stach grell ab, gleich der schmerzlichen Grimasse eines Unholdes. Das tote Kind, die mitleiderregende, kleine Leiche, die in dieser Entfernung nichts mehr war als eine verschwimmende Fleischmasse, das hingefallene Aas irgendeines unförmigen Tieres! War es ein Schädel, war es ein Bauch, dieser ungeheuerliche, aufgedunsene, weiße Kopf? Und diese armen Hände, auf dem Bettlinnen gekrümmt wie die verzerrten Füße eines erfrorenen Vogels! Und das Bett selbst, diese Fahle der Tücher unter der Fahle der Glieder, all das trübselige Weiß, ein Verblassen des Tons, das letzte Ende! Dann unterschied man die hellen, starren Augen und erkannte einen Kinderkopf, den Fall irgendeiner Gehirnkrankheit, scheußlich und tief mitleiderregend zugleich. Claude näherte sich und trat wieder zurück, um besser zu sehen. Das Licht war so schlecht, daß von überall her Reflexe auf dem Bilde tanzten. Sein kleiner Hans – wie hatte man ihn da untergebracht! Ohne Zweifel aus Mißachtung oder vielmehr aus Scham, um sich seiner trübseligen Häßlichkeit zu entledigen. Er aber erinnerte sich seiner: zuerst auf dem Lande war er frisch und rosig und wälzte sich im Grase; in der {{Douai}}-Straße verblaßte und verblödete er allmählich, in der {{Tour¬laque}}-Straße konnte er die Stirne nicht mehr tragen und starb in einer Nacht einsam, während die Mutter schlief; er sah auch sie wieder, die Mutter, das traurige Weib, das zu Hause geblieben war, ohne Zweifel um zu weinen, wie sie jetzt ganze Tage weinte. Sie[[1]] hatte wohl daran getan, nicht zu kommen: es war ein gar zu trauriger Anblick, ihr kleiner Hans, schon kalt in seinem Bette, beiseite geworfen wie ein Paria, in einem so grellen Lichte, daß das Antlitz greulich zu lachen schien. &&x Claude litt noch mehr durch die Verlassenheit seines Werkes. Erstaunt und enttäuscht suchte er mit den Augen die Menge, das erwartete Gedränge. Warum verhöhnte man ihn nicht? Die ehemaligen Beschimpfungen, Ausrufe des Hohnes und der Entrüstung hatten ihm ins Herz geschnitten, aber er lebte dabei! Jetzt nichts mehr, nicht ein Ausspeien im Vorübergehen: das war der Tod. Von einem Frösteln der Langeweile ergriffen, beeilte sich das Publikum, diesen Saal zu verlassen. Es standen Besucher nur vor der »Eröffnung der Kammer«; da erneuerte sich die Gruppe unaufhörlich, man las die Namensliste und zeigte sich die Köpfe der Abgeordneten. Als er plötzlich hinter sich lachen hörte, wandte er sich um; aber es war kein Spottgelächter, man belustigte sich bloß über die zechenden Mönche, den Heiterkeitserfolg des Salons, den die Herren den Damen erklärten, das Bild als überaus geistreich bezeichnend. Alle diese Leute gingen unter dem kleinen Hans vorüber; kein einziger erhob den Kopf, kein einziger wußte auch nur, daß er da oben sei. Der Maler hatte indes eine letzte Hoffnung. Auf dem Puff in der Mitte des Saales saßen zwei Personen, ein dicker Herr und ein magerer Herr, beide mit dem Bändchen der Ehrenlegion; auf die Samtlehne gestützt, plauderten sie, die Augen auf die Bilder gerichtet. Er trat näher und hörte ihnen zu. »Ich bin ihnen gefolgt«, erzählte der Dicke. »Sie[[1]] haben die Honoriusstraße eingeschlagen, sind dann durch die Rochusstraße die Chaussee nach {{Antin}}, die {{La Fayette}}-Straße gegangen ...« »Und Sie[[1]] haben sie schließlich angesprochen?« fragte der Magere mit einer Miene tiefen Interesses. »Nein, ich fürchtete in Zorn zu geraten.« Claude ging und kam mit erregt pochendem Herzen dreimal wieder, wenn irgendein Besucher sich hierher verirrte und die Blicke langsam von den Schranken bis zur Saaldecke schweifen ließ. Ihn beherrschte ein krankhaftes Bedürfnis, ein Wort zu hören, ein einziges Wort. Wozu stellte er aus? Wie konnte er da ein Urteil erfahren? Alles lieber als diese Marter des Stillschweigens! Er drohte zu ersticken, als er ein junges Ehepaar sich nähern sah, der Mann hübsch, mit einem kleinen, blonden Schnurrbart, die Frau entzückend, zart und zierlich, wie eine Schäferin aus sächsischem Porzellan. Sie[[1]] hatte das Bild bemerkt und fragte ihren Gatten, was es bedeute, weil sie zu ihrem Erstaunen nichts davon begriff; als der Gatte im Kataloge blätternd den Titel gefunden hatte: »das tote Kind« – da zog sie ihn erschauernd, mit dem Schreckensrufe hinweg: »Wie kann die Polizei eine solche Scheußlichkeit gestatten?« Claude blieb stehen, unbewußt, wie unter einem Banne, in die Luft starrend, inmitten des fortwährenden Getrappels der Menge, die gleichgültig hindurcheilte ohne einen Blick nach dieser einzigen, heiligen, für ihn allein sichtbaren Sache. Hier in diesem Gedränge erkannte ihn Sandoz schließlich. Auch er schlenderte allein durch die Ausstellungssäle; seine Frau war bei seiner kranken Mutter geblieben. Er hatte die kleine Leinwand zufällig erblickt und war mit beklommenem Herzen unter ihr stehen geblieben. Welchen Ekel flößte dieses elende Leben ihm ein! Mit einem Schlage durchlebte er ihre Jugend, die Schule zu Plassans, die langen Ausflüge am Ufer der Viorne, das Herumstreifen in sengender Sonnenhitze, das Aufflammen ihres jungen Ehrgeizes; er erinnerte sich aus ihren spätem gemeinsamen Leben ihrer Anstrengungen, ihrer Ruhmeszuversicht, ihres maßlosen Hungers, der ganz Paris auf einen Bissen verschlucken wollte. Wie oft hatte er zu jener Zeit in Claude den großen Mann gesehen, dessen zügelloses Genie das Talent der anderen weit hinter sich lassen sollte! Zuerst das Atelier im {{Bourdonnais}}-Sackgäßchen, später das Atelier am Bourbonufer, Träume von riesigen Bildern, Entwürfe, die den Louvre sprengen sollten. Es war ein unaufhörlicher Kampf, zehn Stunden Arbeit täglich, eine vollständige Hingabe seines Wesens. Und dann, was? Nach zwanzig Jahren leidenschaftlichen Ringens damit zu enden, mit diesem armseligen, traurigen, unbemerkten Ding, von einer herzergreifenden Trostlosigkeit in seiner Vereinsamung, als bringe es die Pest! So viele Hoffnungen, so viele Leiden, ein Leben in harter Schaffensarbeit verbracht und als Frucht – das, nichts als das! Großer Gott! Sandoz erkannte jetzt den neben ihm stehenden Claude. Seine Stimme erbebte in brüderlicher Rührung. »Wie, du bist's? Warum hast du mich nicht abholen wollen?« Der Maler entschuldigte sich nicht. Er schien sehr ermüdet, keineswegs empört, in einer leisen, erstarrenden Betäubung. »Komm', bleib' nicht hier. Mittag ist vorüber, du frühstückst mit mir. Mich erwarten Leute bei {{Ledoyen}}, aber ich gehe nicht hin; laß uns das Büfett aufsuchen. Es wird uns erfrischen, meinst du nicht?« Sandoz führte ihn hinweg Arm in Arm, drückte ihn an sich, suchte ihn aufzumuntern, aus seinem düstern Schweigen zu ziehen ... »Du darfst dich nicht so härmen! Haben Sie[[1]] dein Bild auch schlecht untergebracht, so ist es doch prächtig, ein famoses Stück Malerei! ... Ich weiß, du hast etwas anderes erträumt; aber zum Teufel, du bist noch nicht tot, es wird schon kommen! ... Du solltest stolz sein, denn du bist heuer der wirkliche Sieger des Salons. Nicht {{Fage¬rolles}} allein plündert dich; alle ahmen dir jetzt nach; du hast sie in Aufruhr gebracht mit deinem »Freilicht«, über das sie soviel gelacht haben ... Da ist wieder einer vom Freilicht, und da noch einer, und dort noch einer, alle, alle!« &&x Wie sie die Säle durchschritten, zeigte er mit der Hand nach einzelnen Bildern. Die Helle, die in die Malerei allmählich eingeführt worden, machte in der Tat sich endlich geltend. Der ehemalige schwarze, wie in Erdpech gekochte Salon hatte einem sonnenhellen, frühlingsfrohen Salon Platz gemacht. Es war die Morgenröte, der neue Tag, der ehemals im Salon der Zurückgewiesenen aufgegangen war und jetzt immer höher heraufzog, die Werke in einem feinen, weit ausgegossenen, in unendliche Schattierungen aufgelösten Lichte verjüngend. Überall fand dieser bläuliche Schein sich wieder, selbst in den Porträts und Genreszenen, die sich zu den Ausmaßen und dem Ernste von Geschichtsbildern erhoben. Auch sie, die alten akademischen Stoffe mit den immer wieder aufgekochten Säften der Überlieferung waren verschwunden, als habe die verurteilte Lehre ihr Schattenvolk mitgenommen; die Einfälle und Erfindungen waren selten: die leichenhaften Nacktheiten der Mythologien und des Katholizismus, die Legenden ohne Glauben, die Anekdoten ohne Leben, der ganze Trödelkram der Schule, durch Generationen von Schlauköpfen und Tölpeln abgenützt; bei den hartnäckigen Anhängern der alten Formeln, selbst bei den alten Meistern war der Einfluß augenscheinlich, die Sonne hatte da hineingeschienen. Aus der Ferne, bei jedem Schritte sah man ein Bild die Mauer durchlöchern, ein Fenster nach außen öffnen. Bald sollten die Mauern fallen und die große Natur ihren Einzug halten, denn die Bresche war breit, der Ansturm hatte die Wache weggefegt in diesem frischen, fröhlichen Krieg, den Kühnheit und Jugend führten. »Dein Anteil ist schön,« fuhr Sandoz fort; »die Kunst des morgenden Tages ist die deine; du hast sie alle gemacht.« Da öffnete Claude endlich den Mund und sagte leise und düster: »Was nützt es mir, sie gemacht zu haben, wenn ich mich selbst nicht gemacht habe? Die Aufgabe war für mich zu schwer, und das erstickt mich.« Mit einer Gebärde vervollständigte er seinen Gedanken, seine Ohnmacht, das Genie der Formel zu sein, die er in der Kunst aufgestellt, seine Qual eines Vorläufers, der den Gedanken sät, ohne den Ruhm zu ernten, seine Trostlosigkeit darüber, sich von Stümpern bestohlen und aufgezehrt zu sehen von einer ganzen Schar von Kerlen, die ihre Anstrengungen verzetteln, die neue Kunst verhunzen, noch bevor er oder ein anderer das Kunstwerk geschaffen hätte, das ein Denkmal dieser Jahrhundertneige werden sollte. Sandoz protestierte; die Zukunft bleibe frei. Um ihn zu zerstreuen, hielt er ihn zurück, als sie eben durch den Ehrensaal kamen. »Schau die Dame in Blau vor jenem Porträt! Welchen Hieb versetzt die Natur zuweilen der Malerei. Du erinnerst dich, wie wir ehemals das Publikum beobachteten, die Toiletten, das Leben in den Sälen. Nicht ein Gemälde hielt den Vergleich aus. Heute sind manche von ihnen nicht so übel... Dort drüben habe ich eine Landschaft bemerkt, deren gelbe Tonbeschaffenheit die Frauen, die sich ihr näherten, vollständig in den Schatten stellte. Doch Claude erschauerte in unsagbarem Leid. »Ich bitte dich, laß uns gehen. Führe mich hinweg, ich kann nicht weiter.« Am Büfett hatten sie schwere Mühe, einen freien Tisch zu finden. Es herrschte ein furchtbares Drängen und Stoßen in dem weiten, dunkeln Raum, den Vorhänge von brauner Serge unter dem hohen Eisengebälk gegen die Sonne schützten. Im Hintergrunde halb im Schatten standen drei Anrichtetische, auf deren stufenförmig angeordneten Brettern Näpfe mit eingemachten Früchten gleichmäßig aufgereiht waren, während weiter vorn zwei Damen, eine Blonde und eine Braune, an Zahlpulten mit soldatisch strengen Blicken das Gewühl überwachten. Aus den dunklen Tiefen dieser Höhle ergoß sich eine Flut von eng zusammengerückten Marmortischchen und Sesseln; eine Flut, die immer mehr anschwoll und sich bis in den Garten ausbreitete in dem fahlen Lichte, das durch die Scheiben hereinfiel. Endlich sah Sandoz einige Personen ihre Plätze verlassen; er stürzte hinzu und eroberte den Tisch nach hartem Kampfe inmitten der Menge. »Da sind wir ... Was willst du essen?« Claude machte eine gleichgültige Gebärde. Das Frühstück war übrigens abscheulich: eine Forelle, durch die polnische Brühe ganz weich gemacht, ein ausgedörrtes Filet und Spargel, der nach feuchtem Linnen roch; es kostete ordentliche Schlachten, wenn man bedient werden wollte, denn die Kellner hatten den Kopf verloren und konnten in den schmalen, durch Sessel verrammelten Gängen nicht hin und nicht her. Hinter dem linksseitigen Vorhang hörte man ein Geräusch von Schüsseln und Geschirr; dort war die Küche aufgeschlagen auf dem Sandboden wie die Garküchen der Kirchweihfeste, deren Kessel im Freien auf den Landstraßen aufgestellt werden. Sandoz und Claude aßen, zwischen zwei andere Gesellschaften eingeklemmt, deren Ellbogen fast in ihre Teller reichten; sooft ein Kellner vorüberkam, erschütterte er die Sessel mit einem heftigen Stoß der Hüfte. Doch dieser Zwang und die abscheuliche Nahrung erheiterten die Leute. Man scherzte über die Speisen; eine Vertraulichkeit entwickelte sich von Tisch zu Tisch in dem gemeinsamen Mißgeschick, das sich allmählich in einen Spaß verwandelte. Unbekannte wurden schließlich bekannt miteinander, Freunde führten Unterhaltungen über drei Tischreihen hinweg mit zurückgewandtem Kopf und über die Schultern der Nachbarn hinweg gestikulierend. Besonders die Frauen, die anfänglich unruhig waren in dieser bunten Menge, wurden allmählich lebhafter, zogen die Handschuhe aus, schlugen den Schleier zurück und lachten nach dem ersten Schlückchen Wein. Die Würze des Firnistages war eben dieses bunte Durcheinander, wo alle Gesellschaftskreise dicht zusammengedrängt waren, Dirnen, Bürgerfrauen, große Künstler, arme Tröpfe, ein zufälliges Zusammentreffen, ein Gemengsel, das mit seinen verdächtigen, unvorhergesehenen Wechselfällen selbst die Anständigsten heiter stimmte. Sandoz, der darauf verzichtet hatte, sein Fleisch aufzuessen, erhob laut die Stimme inmitten des furchtbaren Lärms der Unterhaltungen und der Bedienung. »Ein Stück Käse!... Und nachher Kaffee!« Claude starrte vor sich hin und hörte nichts. Er schaute in den Garten und sah von seinem Platze aus das Dickicht im Mittelpunkte, große Palmen, die sich von den braunen Vorhängen abhoben, mit denen der ganze Rundweg geziert war. Da war ein Kreis von Statuen: eine Faunin mit geschwollener Lende, das hübsche Gesicht eines jungen Mädchens, die Rundung einer Wange, die Knospe einer kleinen, harten Brust; das Antlitz eines Galliers in Bronze, eine kolossale Gestalt, abstechend durch ihren blöden Patriotismus, der milchweiße Bauch einer an den Handknöcheln aufgehängten Frau, irgendeine Andromeda aus dem Pigalle-Stadtviertel; und noch andere und wieder andere, ganze Reihen von Schultern und Hüften längs der gewundenen Gartenwege, ein Aufblinken von Weiß aus dem Grün, Köpfe, Brüste, Beine, Arme durcheinander und in der Entfernung sich verlierend; links stand eine Reihe von Büsten, die mit ihrer langen Zeile von Nasen einen überaus komischen Eindruck machte: ein Priester mit ungeheurer, spitziger Nase, ein Stubenkätzchen mit einem Stumpfnäschen, eine Italienerin aus dem fünfzehnten Jahrhundert mit einer klassischen Nase, ein Matrose mit einer Phantasienase, alle Nasen, die Richternase, die Fabrikantennase, die Nase des Ordensritters, eine endlose Reihe von unbeweglichen Nasen. &&x Aber Claude sah nichts; es waren nur graue Flecke in dem trüben und grauen Lichte. Seine Betäubung dauerte fort; er hatte nur eine einzige Empfindung: den großen Luxus der Toiletten, die er in dem Gedränge der Säle obenhin beobachtet hatte, und der sich hier frei entwickelte wie auf dem Kies des Wintergartens eines Schlosses. Die ganze elegante Welt von Paris zog vorüber; die Frauen, die gekommen waren, um sich zu zeigen, in sorgfältig berechneten Toiletten, um am nächsten Tage in den Zeitungen geschildert zu werden. Viel betrachtet wurde eine Schauspielerin, die mit den Schritten einer Königin einherwandelte am Arme eines Herrn, der die leutseligen Mienen eines Prinzgemahls aufsteckte. Die Damen der guten Gesellschaft nahmen die Haltung von Dirnen an, schauten einander an mit jenem langsamen Blick, mit dem sie sich gegenseitig gleichsam entkleiden, die Seide abschätzend, die Spitzen nachmessend, alles prüfend von der Spitze des Stiefelchens bis zur Feder des Hutes. Es war gleichsam ein neutraler Salon; Damen rückten ihre Sessel zusammen wie in den {{Tuilerien}} und beschäftigten sich einzig mit den vorübergehenden Frauen. Zwei Freundinnen eilten lachend durch den Garten. Eine andere wandelte einsam und stumm mit finsterem Blicke umher. Noch andere, die sich verloren hatten, fanden sich wieder und tauschten laut ihre Bemerkungen über das Abenteuer aus. Die wimmelnde, dunkle Masse der Herren stockte zuweilen, setzte sich dann wieder in Bewegung, hielt vor einer Marmorstatue an, um wieder zu einer Bronzebüste zurückzufluten, während unter den wenigen Bürgern, die sich hierher verirrt hatten, die Träger berühmter Namen kreisten, alles, was Paris an Berühmtheiten zählte, der Name eines vielgenannten Mannes sich mit einem schlecht gekleideten, dicken Herrn kreuzend, der geflügelte Name eines Dichters neben einem bleichen Manne, der das glatte Gesicht eines Pförtners hatte. Eine lebende Woge stieg aus dieser Menge auf in dem gleichmäßigen und farblosen Lichte, als plötzlich hinter dem Gewölk eines letzten Regengusses ein Sonnenstrahl die hohen Fenster aufflammen ließ, daß die Scheiben erglänzten und das Licht wie ein Goldregen durch die unbewegliche Luft herniederfloß. Alles erwärmte sich: der Schnee der Statuen in dem schimmernden Grün, die zarten Rasenplätze, welche der gelbe Sand der Gehwege durchschnitt, die reichen Toiletten mit dem lebhaften Schimmern des Samtes und der Perlen; selbst die Stimmen, deren lautes, nervöses, heiteres Gebrumme zu prasseln schien wie ein lustiges Weinrebenfeuer. Gärtner, die das Setzen von Blumenkörben eben beendeten, öffneten die Hähne der Wasserschläuche und führten die Spritzen herum, deren Regen von dem bewässerten Rasen gleichsam einen warmen Rauch aufsteigen ließ. Ein dreister Spatz, der trotz der vielen Leute von dem Gebälk herabgeflogen war, pickte im Sande vor dem Büfett die Brosamen auf, die eine junge Frau ihm hinstreute. Von all dem Lärm hörte Claude nichts als die rollende Bewegung des Publikums in den Sälen oben – gleich fernem Meeresbrausen. Er erinnerte sich jenes Lärms, der wie ein Sturm vor seinem Gemälde getobt hatte. Jetzt lachte man nicht mehr: {{Fage¬rolles}} war's, der oben von dem Riesenatem von Paris bejubelt wurde. »Schau {{Fage¬rolles}}!« sagte Sandoz, der sich umgewandt hatte, eben zu Claude. In der Tat hatten {{Fage¬rolles}} und Jory, ohne die beiden zu sehen, sich eines benachbarten Tisches bemächtigt. Der letztere sagte, eine begonnene Unterhaltung mit seiner lauten Stimme fortsetzend: »Ja, ich habe sein krepiertes Kind gesehen! Ach, der arme Kerl, welches Ende!« {{Fage¬rolles}} stieß ihn mit der Schulter an; und der andere, nachdem er die beiden Kameraden bemerkt, fügte hinzu: »Ach, Claude! ... Wie geht es denn noch immer? Ich habe dein Bild nicht gesehen, aber man sagt, es sei ausgezeichnet.« »Ganz ausgezeichnet!« bekräftigte {{Fage¬rolles}}. Dann rief er erstaunt: »Ihr habt hier gegessen? Welch ein Einfall. Man ißt hier so schlecht ... Wir kommen von {{Ledoyen}}. Dort gibt's Leute, ein Gedränge, eine Lebenslust! ... Rückt doch euren Tisch näher, damit wir ein wenig plaudern.« Man vereinigte die beiden Tische; doch schon war der junge triumphierende Meister wieder von Schmeichlern und Gunstwerbern umgeben. Drei Freunde erhoben sich und grüßten ihn geräuschvoll von fern. Eine Dame begann ihn lächelnd zu betrachten, als ihr Gatte ihn ihr flüsternd genannt hatte. Der große Magere, dessen Bild schlecht untergebracht worden und der ihn seit dem Morgen verfolgte, verließ jetzt einen Tisch im Hintergrunde, wo er gesessen, und eilte abermals herbei, beklagte sich und forderte, daß sein Bild sogleich vor den Schranken angebracht werde. »Lassen Sie[[1]] mich in Frieden!« rief {{Fage¬rolles}} schließlich, dessen Freundlichkeit und Geduld zu Ende ging. Als der andere sich unter halblauten Drohungen entfernt hatte, rief er: »Es ist wirklich wahr! Man mag noch so verbindlich sein, die Leute machen einen wütend! ... Alle wollen vor den Schranken sein; es müßte ganze Meilen von Schranken geben ... Es ist wirklich gräßlich, den Richtern anzugehören! Man läuft sich die Beine ab und hat nichts als Haß zum Lohne dafür.« Claude sah ihn mit seiner traurigen Miene an. Er schien einen Augenblick zu erwachen und murmelte mit schwerer Zunge: »Ich habe dir geschrieben; ich wollte dich besuchen, um dir zu danken ... {{Bongrand}} hat mir erzählt, welche Mühe du meinetwegen hattest. Also noch einmal Dank!« Doch {{Fage¬rolles}} unterbrach ihn lebhaft. »Ich war es unserer alten Freundschaft schuldig ... Es freut mich sehr, dir dieses Vergnügen bereitet zu haben.« Er geriet in jene Verlegenheit, die ihn immer wieder überkam, wenn er sich vor dem uneingestandenen Meister seiner Jugend befand, jene unüberwindliche Erniedrigung dem Manne gegenüber, dessen stumme Verachtung in diesem Augenblicke genügte, ihm seinen Triumph zu verderben. »Dein Bild ist sehr hübsch,« fügte Claude langsam hinzu, um gut und mutig zu sein. Dieses einfache Lob schwellte das Herz {{Fage¬rolles}} mit einer überschwänglichen, unwiderstehlichen, er wußte nicht woher kommenden Freude; und dieser Junge, der an nichts glaubte, in allen Schwänken gerieben war, konnte mit zitternder Stimme nur erwidern: »Es ist hübsch von dir, daß du mir das sagst.« Sandoz hatte endlich zwei Tassen Kaffee errungen. Da der Kellner den Zucker vergessen hatte, mußte er sich mit Stückchen begnügen, die eine Familie auf einem Nachbartische zurückgelassen. Einige Tische wurden leer; aber die Ungezwungenheit hatte zugenommen, eine Frau lachte so laut, daß alle Köpfe sich umwandten. Man rauchte; ein träger, blauer Dunst schwebte über den zerknüllten, weinfleckigen, mit fettigem Geschirr bedeckten Tafeltüchern. Als es auch {{Fage¬rolles}} gelungen war, ein Gläschen Likör zu erhalten, begann er mit Sandoz zu plaudern, den er schonte, weil er in ihm eine Macht ahnte. Jory hingegen bemächtigte sich Claudes, der wieder schweigsam und finster dasaß. »Mein Lieber, ich habe dir keine Einladung zu meiner Hochzeit gesandt ... Aus Rücksicht auf unsere Lage haben wir die Sache in aller Stille abgemacht, ohne Gäste herbeizuziehen ... Immerhin hätte ich dich gern benachrichtigen mögen. Du verzeihst mir, nicht wahr?« Er zeigte sich gesprächig, gab Einzelheiten zum besten, freute sich des Lebens in selbstsüchtiger Genugtuung über seinen Ruhm und sein Wohlergehen diesem unterlegenen armen Teufel gegenüber. »Alles gelinge ihm,« sagte er. Er hatte das Artikelschreiben aufgegeben, weil er die Notwendigkeit fühlte, sein Leben ernsthaft zu gestalten; dann hatte er sich zur Leitung eines großen Kunstblattes aufgeschwungen; und man versicherte, daß er dreißigtausend Franken jährlich beziehe, die geheimen Gewinne ungerechnet, die er beim Verkaufe von Kunstsammlungen einstreiche. Die spießbürgerliche Habgier, die er von seinem Vater geerbt, diese angeborne Gewinnsucht, die ihn nach den ersten gewonnenen {{Sous}} in geheime, schmutzige Spekulationen gestürzt hatte, breitete sich heute aus und machte aus ihm einen furchtbaren Menschen, der den Künstlern und Kunstliebhabern, die ihm in die Hände fielen, das Blut bis auf den letzten Tropfen abzapfte. &&x In dieser seiner Glückslage wußte die allmächtig gewordene Mathilde ihn dahin zu bringen, daß er sie unter Tränen anflehte, seine Gattin zu werden, was sie sechs Monate hindurch stolz zurückgewiesen hatte. »Wenn man zusammenlebt« fuhr er fort, »bleibt es doch das Beste, die Lage zu regeln. Du weißt ja davon zu erzählen, mein Lieber, da du denselben Weg gewandelt bist ... Ich muß dir sagen: sie wollte nicht; ja! aus Furcht, daß sie falsch beurteilt werden und mir schaden könne. Eine Seelengröße, eine Zartheit! ... Man hat keine Ahnung von den Vorzügen dieser Frau. Sie[[1]] ist ergeben, stets um mich besorgt, sparsam, klug, weiß guten Rat ... Es ist für mich ein großes Glück, Mathilde getroffen zu haben! Ich unternehme nichts mehr ohne sie, ich lasse sie schalten und walten, sie hat alles in ihrer Hand.« Die Wahrheit war, daß Mathilde ihn schließlich gehorsam wie einen kleinen Knaben gemacht hatte, den die bloße Drohung, kein Zuckerobst zu bekommen, artig sein läßt. Aus der ehemaligen schamlosen Dirne war eine gebieterische, achtungheischende Gattin geworden, verzehrt von Ehr- und Gewinnsucht. Sie[[1]] betrog ihn nicht, war tugendhaft gleich einer ehrbaren Frau, hatte das Tun von ehemals aufgegeben und auf ihn allein beschränkt, um aus ihm sich das eheliche Werkzeug ihrer Macht zu schaffen. Man erzählte, man habe sie beide in der Kirche unserer lieben Frau von Loretto zum heiligen Abendmahl gehen sehen. Sie[[1]] küßten sich in Gegenwart anderer und gaben sich gegenseitig Kosenamen. Allein des Abends mußte er ihr erzählen, wie er seinen Tag zugebracht, und wenn die Verwendung einer einzigen Stunde verdächtig blieb, wenn er die erworbenen Summen nicht auf Heller und Pfennig heimbrachte, bereitete sie ihm durch Androhung schwerer Krankheiten und durch fromme Verweigerung der ehelichen Zärtlichkeiten eine so böse Nacht, daß er ihre Verzeihung jedesmal teurer erkaufte. »So haben wir denn,« wiederholte Jory, sich in seiner Erzählung gefallend »den Tod meines Vaters abgewartet, und dann habe ich sie geheiratet.« Claude, der im Geist weitab war und nur mit dem Kopfe nickte, ohne zuzuhören, hatte nur den letzten Satz aufgefangen. »Wie? Du hast sie geheiratet? ... Mathilde!« In diesen Ausruf legte er sein Erstaunen über dieses Abenteuer, alle die Erinnerungen an den Laden {{Mahou¬deaus}}. Noch hörte er Jory in Worten des Abscheus von ihr reden; er erinnerte sich, wie jener eines Morgens auf der Straße ihm von romantisch klingenden Gelagen, von Scheußlichkeiten erzählte, deren Schauplatz das Hinterstübchen des von scharfen Gerüchen durchtränkten Kräuterladens war. Die ganze Schar war daran gekommen, er hatte sich noch scheußlicher benommen als die anderen und – heiratete sie! Fürwahr, ein Mann ist töricht, wenn er schlecht von einer Geliebten spricht, und sei es selbst die niedrigste; denn er weiß niemals, ob er sie nicht eines Tages heiratet. »Ja, ja, Mathilde!« antwortete der andere lächelnd. »Laß gut sein: die alten Geliebten werden die besten Ehefrauen.« Er war ganz ruhig und heiter, die Erinnerung erstorben ohne eine Anspielung, ohne eine Verlegenheit unter den Blicken der Kameraden. Sie[[1]] schien übrigens zu kommen, und er wollte sie ihnen vorstellen, als hätten sie sie nicht ebensogut gekannt wie er. Sandoz, der mit einem Ohr dieser Unterhaltung folgte, und den dieser Fall lebhaft interessierte, rief, als sie schwiegen: »Laßt uns gehen? ... Meine[[Besitz]] Beine sind ganz steif.« Doch in diesem Augenblicke erschien Irma {{Bécot}} und blieb vor dem Büfett stehen. Sie[[1]] war heute als Schönheit erschienen, die Haare frisch vergoldet in dem trügerischen Glanze einer rotblonden Kurtisane, die aus einem alten Rahmen der Renaissance herabgestiegen. Sie[[1]] trug eine Tunika aus blaßblauem Brokat auf einem Rock von Samt, mit {{Alençon}}-Spitzen besetzt von einem solchen Reichtum, daß ein Gefolge von Herren sie begleitete. Als sie Claude unter den übrigen bemerkte, zögerte sie einen Augenblick, von feiger Scham ergriffen angesichts dieses schlecht gekleideten, häßlichen, verachteten, armen Menschen. Dann erwachte ihr alter launenhafter Mut, und sie reichte ihm zuerst die Hand mitten unter allen den fein gekleideten Herren, die überrascht die Augen aufrissen. Sie[[1]] lachte mit zärtlicher Miene und einem Zug freundschaftlichen Spottes, der ihre Mundwinkel ein wenig in die Höhe richtete. »Keinen Groll!« sagte sie heiter. Dieses Wort, das sie allein verstanden, brachte sie von neuem zum Lachen. Das war ihre ganze Geschichte: dieser arme Junge, dem sie Gewalt angetan, und der dabei keinerlei Vergnügen gehabt. {{Fage¬rolles}} zahlte die zwei Gläschen Likör und entfernte sich mit Irma, der auch Jory zu folgen sich entschloß. Claude blickte den dreien nach, wie sie von dannen gingen, Irma zwischen den beiden Männern, königlich durch die Menge schreitend, von allen Seiten bewundert und gegrüßt. »Man sieht, daß Mathilde nicht da ist,« begnügte sich Sandoz zu sagen. »Was für Ohrfeigen würde er bei der Heimkehr empfangen!« Jetzt ließ auch er sich die Rechnung geben. Alle Tische leerten sich; Knochen und Brotrinden bedeckten die Wahlstatt. Zwei Kellner reinigten die Marmorplatten mit dem Schwamm, während ein dritter, mit einer Harke den mit Speichel beschmutzten und mit Brotkrumen bestreuten Sand glättete. Hinter dem Vorhang von brauner Serge {{[Serge]}} frühstückte jetzt das Personal; man hörte das Arbeiten der Kinnladen, ein Gelächter mit vollem Munde, die ganze geräuschvolle Kautätigkeit eines Zigeunerlagers, das die Kochtöpfe bis auf das letzte Restchen leerfegt. &&x Claude und Sandoz machten einen Rundgang durch den Garten und entdeckten eine Figur von {{Mahou¬deau}}, die in einem Winkel neben dem östlichen Eingang sehr schlecht untergebracht war. Es war endlich die aufrechtstehende Badende, aber noch mehr verkleinert, kaum so groß wie ein Mädchen von zehn Jahren, von einer reizenden Eleganz, mit feinen Schenkeln, ganz kleinen Brüstchen, deren Knospen ein köstliches Zögern in der Entwicklung zeigten. Ein Duft ging von der Figur aus, die Anmut, die nichts zu geben vermag, die dort blüht, wo sie will, die unüberwindliche, hartnäckige, lebendige Anmut, die immer wieder hervorsproß unter seinen plumpen Arbeiterfingern, die so lange Zeit ihr eigenes Genie verkannt hatten. Sandoz konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Wenn man bedenkt, daß dieser Bursche alles getan hat, um sein Talent zu verderben! ... Wenn er besser untergebracht wäre, müßte er einen großen Erfolg haben.« »Ja, einen großen Erfolg,« wiederholte Claude. »Es ist sehr hübsch.« Sie[[1]] bemerkten eben {{Mahou¬deau}} im Flur, auf die Treppe zugehend. Sie[[1]] riefen ihn an, eilten hinzu und plauderten einige Minuten. Die Galerie des Erdgeschosses lag ganz leer da, säuberlich mit Sand bestreut, in einer fahlen Helle, die durch die großen runden Fenster eindrang. Man hätte glauben mögen, daß man sich unter einer Eisenbahnbrücke befand: starke Pfeiler stützten das eiserne Gebälk, eine eisige Kälte strömte von der Höhe herab und durchfeuchtete den Boden, wo die Füße im Sande versanken. In der Ferne waren hinter einem zerrissenen Vorhang Statuen in langer Reihe zu sehen: die zurückgewiesenen Werke von Bildhauern, Gipsmodelle, welche die armen Urheber nicht wieder holen ließen, um die Kosten zu ersparen. Es war eine fahle Leichenkammer von trostloser Verlassenheit. Doch ließ überrascht in die Höhe blicken das fortwährende Getöse, das ungeheure Getrappel des Publikums auf dem Fußboden der Ausstellungssäle. Hier unten ward man davon schier betäubt, es war ein ins Maßlose gesteigertes, donnerartiges Rollen, als ob mit vollem Dampfe dahin jagende, endlose Eisenbahnzüge die eisernen Balken erschütterten. Als sie {{Mahou¬deau}} beglückwünscht hatten, sagte dieser zu Claude, er habe vergebens seine Leinwand gesucht; in welches Loch habe man sie denn gesteckt? In zarter Erinnerung an die Vergangenheit erkundigte er sich nach {{Gagnière}} und Dubuche. Wo waren die Ausstellungen von einst, als die ganze Schar der Freunde hinkam und sich toll in den Sälen tummelte wie in Feindesland! Dann das heftige Schimpfen beim Verlassen der Ausstellung, die Auseinandersetzungen, welche die Zungen schwellten und die Schädel leerten! Dubuche war nicht mehr zu sehen. {{Gagnière}} kam zwei-dreimal des Monats aus {{Melun}} in aller Eile, um ein Konzert zu hören; er interessierte sich so wenig für die Malerei, daß er nicht einmal in die Ausstellung gekommen war, obgleich seine {{Seine}}-Landschaft da war, die er seit fünfzehn Jahren einsandte, eine Landschaft in hübschem, grauem Ton, sehr gewissenhaft und fein gemalt, daß das Publikum sie noch niemals bemerkt hatte. »Ich wollte soeben hinaufgehen,« sagte {{Mahou¬deau}}. »Kommt ihr mit hinauf?« Claude blickte jede Sekunde in die Höhe; ein Unbehagen hatte seine Wangen entfärbt. Dieses furchtbare Rollen, dieses verzehrende Eilen des Ungeheuers, dessen Erschütterung er in allen Gliedern fühlte! Er reichte ihnen wortlos die Hand. »Du verläßt uns?« rief Sandoz. »Mache doch noch einen Rundgang mit uns; dann wollen wir zusammen weggehen.« Doch ein Mitleid beklemmte ihm das Herz, als er ihn so müde sah. Er fühlte, daß jener mit seinem Mute zu Ende war und sich nach Einsamkeit sehnte, um sein Leid zu verbergen. »Dann lebe wohl, alter Freund ... Morgen komme ich zu dir.« Wankenden Schrittes, verfolgt von dem Getümmel da oben, verschwand Claude hinter den Bäumen des Gartens. Als Sandoz zwei Stunden später im östlichen Saale {{Mahou¬deau}}, den er verloren hatte, mit Jory und {{Fage¬rolles}} wiederfand, bemerkte er Claude vor seiner Leinwand auf demselben Fleck, wo er ihn zuerst getroffen. Indem Augenblicke, da er die Ausstellung hatte verlassen wollen, war der Unglückliche wieder hinaufgegangen, unwillkürlich angezogen, unter einem Banne handelnd. In den Sälen herrschte jetzt die erstickende Hitze der fünften Nachmittagsstunde, wenn die Menge, erschöpft von der Wanderung durch die Säle, von dem Schwindel der in einen Pferch losgelassenen Herden ergriffen, in wilder Hast[[beeilen]] durcheinanderdrängt, ohne den Ausgang zu finden. Seit der Kühle des Morgens hatte die Wärme der Körper und der Ausatmungen die Luft mit einem rötlichen Dunste erfüllt; und der fliegende Staub der Parkette stieg als ein feiner Nebel auf in dieser Ausdünstung menschlicher Streu. Einige Leute führten ihre Bekannten noch vor einzelne Gemälde, deren Vorwürfe allein das Publikum anzogen und fesselten. Man ging fort, man kam wieder, man trippelte endlos herum. Die Frauen hielten am längsten aus, sie wollten bleiben, bis die Saalhüter sie hinausdrängten, was mit dem Glockenschlage sechs geschah. Einige dicke Damen waren kraftlos auf die Sitzbänke hingesunken; andere, die nicht das kleinste Plätzchen entdecken konnten, stützten sich fest auf ihre Sonnenschirme und hielten stand, obgleich sie umzusinken drohten. Aller Augen suchten angstvoll und flehend die mit Leuten überladenen Bänke. Diese Köpfe zeigten die äußerste Ermüdung, welche die Beine schlotterig machte, die Gesichter verzog, die Stirnen mit der Migräne marterte, mit der eigentümlichen Ausstellungsmigräne, die aus dem unaufhörlichen Zurückbeugen des Nackens und dem blendenden Tanze der Farben entstand. &&x Die zwei ordengeschmückten Herren, die sich seit Mittag ihre Geschichten erzählten, saßen noch immer auf dem Puff in ruhigem Gespräch, mit ihrem Gedanken weit abwesend. Vielleicht waren sie zurückgekommen, vielleicht auch hatten sie sich nicht vom Platze gerührt. »Sie[[1]] sind also eingetreten,« sagte der Dicke, »und taten, als begriffen Sie[[1]] nichts von der Sache?« »Ganz richtig,« erwiderte der Magere. »Ich habe sie betrachtet und habe meinen[[Besitz]] Hut abgenommen ... Es war klar! ...« »Erstaunlich! Sie[[1]] sind erstaunlich, lieber Freund.« Aber Claude hörte nichts als die dumpfen Schläge seines Herzens, sah nichts als das »tote Kind« dort oben, nahe an der Saaldecke. Er ließ es nicht mehr aus den Augen; er stand unter der Macht eines Zaubers, der ihn hier willenlos festnagelte. Müde und abgespannt kreiste die Menge um ihn her; viele traten ihn auf die Füße; er ward gestoßen, fortgerissen; wie eine träge Masse ergab er sich, pendelte hin und her, kehrte immer wieder auf denselben Platz zurück, ohne das Haupt zu beugen, nicht wissend, was unten geschah, nur dort oben lebend mit seinem Werke, mit seinem im Tode aufgedunsenen kleinen Hans. Zwei schwere Tränen hingen unbeweglich zwischen seinen Wimpern und hinderten ihn, klar zu sehen. Ihm war, als solle er nie Zeit genug haben zu sehen. Sandoz in seinem tiefen Mitleide tat, als habe er seinen alten Freund nicht bemerkt und wolle ihn auf dem Grabe seines verfehlten Lebens allein lassen. Abermals kam die Gruppe der Kameraden vorbei, {{Fage¬rolles}} und Jory voraus; da {{Mahou¬deau}} eben an Sandoz die Frage richtete, wo Claudes Bild sei, gab jener eine ausweichende Antwort und führte den Freund hinweg. Alle verließen die Ausstellung. Am Abend konnte Christine von Claude nur knappe Antworten bekommen; alles gehe gut, das Publikum sei nicht böse gewesen, das Bild habe einen guten Eindruck gemacht, hänge nur ein wenig zu hoch. Trotz dieser kühlen Ruhe war er so eigentümlich, daß sie von Angst ergriffen ward. Als sie nach dem Essen die Teller nach der Küche brachte und zurückkehrte, fand sie Claude nicht mehr bei Tische. Er hatte ein Fenster geöffnet, das auf einen leeren Grund ging; er lag so weit hinausgebeugt, daß sie ihn nicht sah. Entsetzt stürzte sie hinzu und riß ihn heftig bei der Jacke zurück. »Claude! Claude! Was machst du?« Als er sich umwandte, fand sie ihn bleich wie sein Hemd mit irren Augen. »Ich sehe hinaus,« sagte er. Sie[[1]] schloß mit zitternden Händen das Fenster und blieb infolge dieser Szene dermaßen geängstigt, daß sie die ganze Nacht nicht schlafen konnte. &&x &&ns &&am &&g="Elftes_Kapitel." &&fa Elftes Kapitel. &&fe &&ax &&lg=x Am folgenden Tage hatte sich Claude wieder an die Arbeit gemacht; die Tage flössen dahin, der Sommer ging in schwüler Ruhe vorüber. Er hatte eine Beschäftigung gefunden: kleine Blumenstücke für England; das dadurch erworbene Geld genügte für die täglichen Bedürfnisse. Alle seine freien Stunden waren abermals seiner großen Leinwand gewidmet; es erfolgten dabei nicht mehr die früheren Zornesausbrüche, er schien sich in diese ewige Arbeit gefügt zu haben mit ruhiger Miene, beharrlichem, hoffnungslosem Fleiße. Seine Augen jedoch behielten den irren Ausdruck; man sah in ihnen gleichsam das Licht erstorben, wenn sie starr auf das verfehlte Werk seines Lebens gerichtet waren. Um jene Zeit wurde auch Sandoz von einem schweren Kummer heimgesucht. Seine Mutter starb, und sein ganzes Leben ward dadurch verstört, dieses so gemütliche Leben zu dreien, das nur wenigen Freunden zugänglich war. Das Gartenhäuschen in der {{Nollet}}-Straße war ihm fortan verhaßt. Übrigens war in dem bisher schwierigen Verkauf seiner Bücher ein plötzlicher Erfolg eingetreten, und das Ehepaar Sandoz hatte dank dem ihm gewordenen Reichtum in der Londoner Straße eine große Wohnung gemietet, deren Einrichtung sie monatelang beschäftigte. Seine Trauer hatte Sandoz noch mehr seinem Freunde Claude genähert, mit dem er den Ekel gegen alle Dinge teilte. Nach dem furchtbaren Schlage im Salon war der Schriftsteller um seinen alten Kameraden besorgt geworden; er vermutete in ihm einen nicht wiedergutzumachenden Riß, eine Wunde, durch welche das Leben unsichtbar entfloh. Als er ihn aber so kühl und so ruhig sah, beruhigte er sich schließlich ein wenig. Sandoz kam oft nach der {{Tour¬laque}}-Straße, und wenn er zufällig Christine allein zu Hause traf, fragte er sie aus; denn er begriff, daß auch sie in dem Schrecken vor einem Unglück lebe, von dem sie niemals sprach. Sie[[1]] hatte das gequälte Antlitz, das nervöse Erbeben einer Mutter, die über ihr Kind wacht und bei dem leisesten Geräusche zittert, daß der Tod kommen könne. An einem Julimorgen fragte er sie: »Sind Sie[[1]] zufrieden? Claude ist ruhig und arbeitet wacker.« Sie[[1]] warf ihren gewohnten Blick voll Haß und Schrecken auf das Bild und antwortete: »Ja, ja, er arbeitet ... Er will alles Übrige beendigen, bevor er die weibliche Figur wieder in Angriff nimmt. Ohne die Furcht zu gestehen, die sie in ihrer Gewalt hielt, setzte sie leise hinzu: »Aber seine Augen ... Haben Sie[[1]] seine Augen bemerkt? ... Er hat noch immer seine bösen Augen. Ich weiß sehr wohl, daß seine ruhige Miene nur geheuchelt ist ... Ich bitte Sie[[1]], holen Sie[[1]] ihn zuweilen ab, führen Sie[[1]] ihn hinweg, um ihn zu zerstreuen. Er hat niemanden außer Ihnen; helfen Sie[[1]] mir; ach, helfen Sie[[1]] mir!« &&x Fortan ersann Sandoz allerlei Vorwände zu Spaziergängen, kam am Morgen zu Claude und entführte ihn gewaltsam der Arbeit. Fast immer mußte man ihn von der Leiter reißen, auf der er sitzen blieb, selbst dann, wenn er nicht arbeitete. Es kam zuweilen eine Müdigkeit über ihn, die ihn in der Arbeit innehalten ließ, eine Erstarrung, die ihn minutenlang gefangen hielt, so daß er keinen Pinselstrich machen konnte. In solchen Augenblicken stummer Betrachtung kehrte sein Blick mit einer Art frommen Eifers zu der weiblichen Figur zurück, die er jetzt nicht berührte; es war wie das brennende Verlangen einer tödlichen Wollust, die unendliche Zärtlichkeit und die heilige Scheu einer Liebe, die er sich versagte in der Gewißheit, daß er das Leben dabei lasse. Dann machte er sich von neuem an die anderen Figuren, an den Hintergrund des Gemäldes, wußte sie dennoch stets gegenwärtig, mit flimmerndem Auge, und bezwang, wenn er ihr begegnete, nur so lange seinen Taumel, als er nicht zu ihrem Fleische zurückkehren wollte und sie nicht die Arme um ihn schloß. Christine, die jetzt im Hause Sandoz' empfangen wurde und keinen Donnerstag fehlte in der Hoffnung, dort ihr großes, krankes Künstlerkind aufgeheitert zu sehen, nahm eines Abends den Herrn des Hauses beiseite und bat ihn, am nächsten Morgen zu ihnen zu kommen. Sandoz, der auf der andern Seite der Höhen von Montmartre eben Notizen für einen Roman suchte, überfiel Claude, führte ihn hinweg und trieb sich mit ihm bis zum sinkenden Abend herum. Als sie an jenem Tage zum Tor von {{Clignaucourt}} hinabstiegen, wo ein ständiger Jahrmarkt war mit Ringelspielen, Bolzenschießständen, fliegenden Schänken, sahen sie zu ihrem maßlosen Erstaunen plötzlich {{Chaine}} vor sich, der mitten in einer großen reich ausgestatteten Bude saß. Es war eine Art bunt ausgeschmückter Kapelle; darin waren vier Ringelspiele, deren Mittelpfosten reich mit allerlei Tand von Glas und Porzellan behängt waren, mit Spielzeugen, deren Firnis und Vergoldung grell schimmerten und die ein helles Geklingel vernehmen ließen, wenn ein Spieler seine Wurfscheibe hinüberschleuderte. Selbst ein lebendes Kaninchen war da – als Haupttreffer – mit rosa Bändchen; das Tierchen in seinem tollen Schreck, tanzte und kreiste ohne Ende herum. Den Rahmen dieser Reichtümer bildeten rote Vorhänge und Teppiche, hinter denen im Hintergrunde der Bude wie im Allerheiligsten drei Bilder hingen, die drei Meisterwerke {{Chaines}}; diese folgten ihm von Markt zu Markt, von einem Ende der Hauptstadt bis zum andern; in der Mitte hing die Ehebrecherin, links die Kopie von {{Mantegna}}, rechts der Ofen {{Mahou¬deaus}}. Wenn am Abend die Petroleumlampen angezündet wurden und die Ringelspiele wie Sterne erstrahlten, war nichts schöner als diese Gemälde mitten in dem blutigen Purpur der Stoffe, und das Volk sammelte sich gaffend davor an. Dieser Anblick erpreßte Claude den Ausruf: »Aber, mein Gott! die Bilder sind ganz gut! sie waren dazu gemacht!« Besonders der {{Mantegna}} mit seiner so kindlichen Trockenheit sah aus wie ein entfärbtes Bild von Epinal {{[Epinal]}}, das zum Vergnügen der einfältigen Leute hier angebracht wäre, während der mit so genauer Sorgfalt gemalte, aber schief aufgefaßte Ofen als Seitenstück zu dem Lebkuchen-Christus einen unvermutet heitern Anblick bot. Doch {{Chaine}}, der die beiden Freunde bemerkt hatte, reichte ihnen die Hand, als habe er sie gestern verlassen. Er war ruhig, ohne Stolz und ohne Scheu wegen seiner Bude; er war nicht gealtert, noch derselbe hartgegerbte Kerl, dessen Nase zwischen den beiden Wangen vollständig verschwand, dessen Mund schweigsam im Barte sich verlor. »Man trifft sich doch wieder!« rief Sandoz heiter. »Ihre Bilder machen einen prächtigen Eindruck.« »Der Spaßvogel hat seine kleine Ausstellung für sich allein,« setzte Claude hinzu; »das ist sehr schlau.« Das Antlitz {{Chaines}} erstrahlte, und er sprach sein gewohntes Wort: »Ganz sicher!« In einem Wiedererwachen seines Künstlerstolzes ließ er, von dem man sonst nur ein Grunzen hören konnte, jetzt einen ganzen Satz los. »Ganz sicher ist, daß ich gleich euch ans Ziel gekommen wäre, wenn ich Geld gehabt hätte wie ihr.« Dies war seine Überzeugung. Niemals hatte er Zweifel in sein Talent gesetzt, er hatte das Spiel einfach aufgegeben, weil es seinen Mann nicht nährte. Wenn er im Louvre vor den Meisterwerken stand, war er innerlich überzeugt, daß man nur Zeit brauche, um ähnliche zu schaffen. »Ach, Sie[[1]] müssen es nicht bedauern,« sagte jetzt Claude, der wieder ernster geworden war; »Sie[[1]] allein haben einen Erfolg ... Das Geschäft geht, nicht wahr?« Doch {{Chaine}} brummte bittere Worte. Nichts wolle gehen, selbst die Ringelspiele nicht. Das Volk spiele nicht mehr, alles Geld wandere in die Wirtshäuser. Vergebens kaufe er wohlfeile Ladenhüter als Gewinste, vergebens auch wende er allerlei kleine Kniffe an, damit die bessern Stücke nicht gewonnen werden: er verdiene kaum das Wasser; als einige Leute sich näherten, schrie er mit einer lauten Stimme, welche die beiden andern an ihm gar nicht kannten, und die sie daher in helle Verwunderung versetzte: »Herbei, herbei, meine[[Besitz]] Herren! jeder Zug gewinnt.« Ein Arbeiter, der ein kleines, kränkliches Mädchen mit gierigen Augen auf den Armen hatte, wagte zwei Züge. Die Rundplatte setzte sich in kreisende Bewegung, die Spielzeuge tanzten in einem blendenden Schimmer, das Kaninchen kreiste so schnell, daß es nur mehr wie ein runder, weißer Fleck aussah. Die Aufregung war groß, das kleine Mädchen hatte fast gewonnen. Die beiden Freunde drückten dem noch zitternden {{Chaine}} die Hand und entfernten sich. »Er ist glücklich,« sagte Claude, nachdem sie eine Strecke still nebeneinander hingegangen waren. »Er?« rief Sandoz, »er glaubt, er werde sicher ins Institut gelangt sein, und an diesem Kummer geht er zugrunde.« &&x Einige Zeit hernach ersann um die Mitte des Monats August Sandoz die Zerstreuung einer wirklichen Reise, einen Ausflug, der einen ganzen Tag in Anspruch nehmen sollte. Er hatte Dubuche getroffen, einen düstern, leidenden Dubuche, der sich freundschaftlich und kläglich gestimmt zeigte, von der Vergangenheit zu sprechen begann und die beiden alten Freunde zu einem Frühstück auf dem Landgute {{Richaudière}} einlud, wo er mit seinen zwei Kindern für vierzehn Tage allein war. Warum sollte man ihm nicht einen Besuch machen, da er so sehr verlangte, die alte Freundschaft wieder anzuknüpfen? Doch vergebens wiederholte ihm Sandoz, daß jener ihm das Versprechen abgenommen habe, auch den alten Freund Claude mitzubringen; dieser lehnte beharrlich ab, als sei er von Furcht ergriffen bei dem Gedanken, {{Benne¬court}} wiederzusehen, die {{Seine}} und die Inseln, jene ganze Landschaft, wo glückliche Jahre eingesargt waren. Christine mußte sich einmengen, und er gab schließlich widerstrebend nach. Am Abend vor dem vereinbarten Tage hatte er, von einem fieberhaften Eifer ergriffen, lange an seinem Gemälde gearbeitet. Darum ging er am folgenden Tage, einem Sonntag, von verzehrender Arbeitslust zurückgehalten, nur ungern fort. Es war geradezu ein schmerzliches Losreißen. Was frommte es, dorthin zurückzukehren? Es war tot, existierte nicht mehr. Nichts existierte als Paris und in Paris nichts als ein Horizont, die Spitze der Altstadt, jenes Bild, das ihn immer und überall gefangen hielt, jener einzige Winkel, wo er sein Herz ließ. Im Eisenbahnwagen war Claude nervös und wandte kein Auge von dem Fenster, als solle er für viele Jahre die Stadt verlassen, die immer kleiner wurde und sich im Nebel verlor. Sandoz suchte ihn zu zerstreuen und erzählte ihm, was er von der wirklichen Lage Dubuches wußte. Anfänglich hatte der Vater {{Margaillan}}, stolz auf den dekorierten Schwiegersohn, ihn überall herumgeführt und als Gesellschafter und Nachfolger vorgestellt. Das ist einer, der versteht, die Geschäfte zu führen, und baut wohlfeiler und schöner; denn der Junge hat was Rechtes gelernt! Allein, der erste Gedanke Dubuches mißlang; er ersann einen Ziegelofen und errichtete ihn in der {{Bourgogne}} auf einer Besitzung seines Schwiegervaters, aber unter so unglücklichen Bedingungen und nach einem so mangelhaften Plane, daß der Versuch mit einem Verluste von rund zweimalhunderttausend Franken endete. Dann warf er sich wieder auf die Bauten, bei denen er seine eigenen Ansichten anwenden zu wollen vorgab, ein wohldurchdachtes Ganze, das die Baukunst umgestalten sollte. Es waren die alten Ansichten, die er von den umstürzlerischen Kameraden seiner Jugend hatte, alles, was er zu verwirklichen verheißen hatte, wenn er einst frei sein werde, aber schlecht verdaut, zur Unzeit angewandt und mit der Schwerfälligkeit eines fleißigen Schülers ohne schöpferische Begeisterung: die Verzierungen von Terrakotta und Halbporzellan, die großen, glasgedeckten Seitenausgänge, vor allem die Anwendung des Eisens, eiserne Balken, eiserne Treppen, eiserne Dächer. Da diese Materialien die Baukosten vergrößerten, hatte er abermals eine Katastrophe heraufbeschworen, umsomehr, als er nichts von der Verwaltung verstand und seit der glücklichen Wendung in seinem Leben den Kopf verloren hatte. Das Geld hatte ihn noch schwerfälliger gemacht, noch mehr verdorben, aus der Richtung gebracht, so daß er es in der Arbeit nicht anzuwenden wußte. Diesmal wurde Vater {{Margaillan}} zornig, der seit dreißig Jahren Bauflächen kaufte, Häuser baute und verkaufte, mit einem Blick die Kostenanschläge der Zinshäuser festzustellen wußte: soviele Meter Bau zu so und so viel der Meter, müssen so und soviele Wohnungen mit so und sovielem Zinserträgnis liefern. Wer hat ihm diesen Kerl auf den Hals geladen, der sich irrt in der Berechnung des Kalkes, der Ziegel, der Steine, der Eichenholz verwendet, wo weiches Holz genügen muß, der sich nicht damit begnügt, ein Stockwerk – wie eine geweihte Oblate – in so viele kleine Vierecke zu zerlegen, wie notwendig ist! Nein, nein, das war nicht mehr sein Fall! Er war empört gegen die Kunst, nachdem er den Ehrgeiz gehabt, ein wenig davon in seine Mache einzuführen, um einen lang gehegten Wunsch zu befriedigen, den er als Unwissender hatte. Seither gingen die Dinge immer schlechter; es gab furchtbares Gezänk zwischen Schwiegersohn und Schwiegervater; der eine verschanzte sich voll Verachtung hinter seiner Wissenschaft; der andere schrie, der letzte Handlanger verstehe mehr als ein Baumeister. Die Millionen nahmen ab, {{Margaillan}} warf Dubuche eines Tages aus seinen Büros hinaus und verbot ihm, einen Fuß dahin zu setzen, da er nicht einmal dazu tauge, einen Werkplatz mit vier Arbeitern zu leiten. Es war ein jämmerlicher Zusammenbruch, der Bankrott der Schule vor einem Maurer! Claude hatte aufgehorcht und diese Erzählung angehört. »Was treibt Dubuche jetzt?« fragte er. »Ich weiß nicht; er macht wohl gar nichts. Er sagte mir, daß der Gesundheitszustand seiner Kinder ihn beunruhige und daß er sie überwache. Frau {{Margaillan}}, die bleiche, hagere Frau, war tot; ein Lungenleiden hatte sie hinweggerafft. Es war das Erbübel, die Entartung; ihre Tochter Regine hustete ebenfalls seit ihrer Verheiratung; in diesem Augenblick machte sie eine Kur in den Heilbädern von {{Mont-Dore}} durch, wohin sie ihre Kinder mitzunehmen nicht gewagt hatte, weil diese im vorangegangenen Sommer in der dortigen, für ihre schwächliche Beschaffenheit zu starken Luft sich nicht wohlbefunden hatten. Dies erklärte die Zerstreuung der Familie; die Mutter war im Heilbade, bloß von einem Kammermädchen begleitet; der Großvater in Paris, wo er seine großen Arbeiten wieder aufgenommen hatte, sich unter seinen vierhundert Arbeitern abmühte, die trägen und unfähigen Leute mit seiner Verachtung strafend. Der Vater hatte in der {{Richaudière}} Zuflucht gefunden, mit der Beaufsichtigung seiner Tochter und seines Sohnes betraut, seit dem ersten Kampfe mit dem Schwiegervater hierher verbannt wie ein Invalide des Lebens. In einem Augenblicke der Mitteilsamkeit hatte Dubuche sogar durchblicken lassen, daß, nachdem seine Frau bei der zweiten Entbindung fast das Leben eingebüßt und überdies bei der geringsten lebhafteren Berührung ohnmächtig zu werden drohte, er es sich zur Pflicht gemacht habe, allen ehelichen Verkehr mit ihr abzubrechen. Nicht einmal diese Zerstreuung hatte er. »Eine schöne Ehe!« sagte Sandoz zum Schluß. Es war zehn Uhr, als die zwei Freunde am Gartengitter der {{Richaudière}} läuteten. Die Besitzung, die sie bisher nicht gekannt hatten, erregte ihre Bewunderung: ein prächtiger Wald, ein französischer Garten mit Rampen und Perrons {{[Perrons]}}, drei riesige Gewächshäuser, ein kolossaler, künstlich zugeleiteter Wasserfall über künstlich aufgebauten Felsen; der Wasserfall hatte ein Vermögen verschlungen, es war eben eine Laune des ehemaligen Maurers. Noch mehr überraschte sie die traurige Verlassenheit dieses Herrensitzes; auf den sauber geglätteten Wegen war keine Spur von Schritten; der weite Garten war menschenleer, nur selten ein Gärtner zu sehen; das Haus war wie ausgestorben, alle Fenster geschlossen mit Ausnahme von zweien, die man auch nur zur Hälfte geöffnet hatte. Ein Kammerdiener, der endlich erschien, fragte die Herren; als er erfuhr, daß sie zu dem Herrn kamen, war er unverschämt und erwiderte, der Herr sei auf dem Turnplatze hinter dem Hause. Dann kehrte er ins Haus zurück. &&x Sandoz und Claude durchschritten eine Allee, die sie zu einem Rasenplatze führte. Was sie da sahen, ließ sie einen Augenblick innehalten. Dubuche stand vor einem Trapez mit erhobenen Armen, um daselbst seinen Sohn Gaston festzuhalten, ein armes, schwächliches Wesen, das mit zehn Jahren noch die kleinen, weichen Glieder der ersten Kindheit hatte; während das Mädchen, Alice[[1]], in einem Wägelchen wartete, bis an sie die Reihe komme. Die Kleine war vorzeitig zur Welt gekommen, so wenig entwickelt, daß sie mit sechs Jahren noch nicht gehen konnte. In seine Arbeit versunken, fuhr der Vater fort, die schwachen Glieder des kleinen Jungen zu stärken, schaukelte ihn, suchte vergebens ihn zu bewegen, daß er sich auf den Handknöcheln erhebe; nachdem diese geringe Anstrengung genügt hatte, den Knaben in Schweiß zu versetzen, trug er ihn fort und wickelte ihn in eine Decke: alles still und einsam unter dem weiten Himmel, ein Bild des Jammers inmitten dieses schönen Parkes. »Wie, ihr seid es? ... An einem Sonntag und ohne mich vorher benachrichtigt zu haben!« Er hatte dies mit einer trostlosen Gebärde gesagt und erklärte sogleich, daß am Sonntag die Kammerfrau, die einzige, der er die Kinder anzuvertrauen wage, nach Paris gehe, und daß es ihm dann unmöglich sei, Gaston und Alice[[1]] auch nur einen Augenblick zu verlassen. »Ich wette, ihr seid zum Frühstück gekommen?« Auf einen flehenden Blick Claudes beeilte sich Sandoz zu antworten: »Nein, nein. Wir konnten nur knapp soviel Zeit erübrigen, um dir in aller Eile guten Tag zu sagen ... Claude hat Geschäfte halber in diese Gegend kommen müssen. Du weißt ja, er hat in {{Benne¬court}} gelebt. Da ich ihn begleitet habe, sind wir auf den Einfall gekommen, dich aufzusuchen. Aber wir werden erwartet; lasse dich nicht weiter stören.« Dubuche atmete erleichtert auf; doch machte er den Versuch, die alten Freunde zurückzuhalten. Sie[[1]] würden doch eine Stunde Zeit haben! So plauderten die drei ein wenig. Claude betrachtete Dubuche und war erstaunt, ihn so alt wiederzufinden; das aufgedunsene Gesicht hatte sich gerunzelt, war gelb, mit roten Adern durchzogen, als sei die Haut von der Galle gefleckt, während Haupt- und Barthaare schon grau wurden. Der Körper schien überdies sich gesetzt zu haben, eine dumpfe Mattigkeit lastete auf jeder Gebärde. Die Mißerfolge des Geldes waren also ebenso drückend wie die der Kunst? Die Stimme, der Blick, alles kündete bei diesem Besiegten die schimpfliche Abhängigkeit, in der er leben mußte, den Zusammenbruch seiner Zukunft, den man ihm ins Gesicht schleuderte, den ewigen Vorwurf, daß er in den Ehevertrag ein Talent gesetzt habe, das er nicht besaß, das Geld, das er heute der Familie stahl, was er aß, die Kleider, die er trug, das Taschengeld, das er haben mußte, kurz, das ewige Gnadenbrot, das er genoß wie ein gemeiner Betrüger, dessen man sich nicht entledigen konnte. »Erwartet mich, ich habe noch fünf Minuten mit dem andern armen Püppchen zu tun; dann gehen wir ins Haus.« Sachte mit der unendlichen Vorsicht einer Mutter nahm er die kleine Alice[[1]] aus dem Wägelchen, hob sie zum Trapez empor; hier redete er ihr zu; machte allerlei Spaße, um sie zu erheitern und zu ermutigen; er ließ sie da zwei Minuten hängen, um ihre Muskeln zu stärken, doch folgte er mit offenen Armen jeder ihrer Bewegungen, aus Furcht, daß sie sich zerschmettern könne, wenn ihre dünnen, wachsgelben Händchen ermüdeten und das Trapez losließen. Sie[[1]] sagte nichts, sie hatte große, blasse Augen, gehorchte trotz ihres Schreckens vor dieser Übung; sie war so erbärmlich leicht, daß sie die Stränge nicht zur Spannung brachte, gleich einem jener schwindsüchtigen Vöglein, die von den Zweigen fallen, ohne sie auch nur zu beugen. Dubuche, der einen Blick auf Gaston geworfen hatte, schrie jetzt entsetzt auf; er hatte bemerkt, daß die Decke herabgeglitten war und die Beine des Kindes entblößt waren. »Mein Gott! mein Gott! er wird sich in dem Grase erkälten! Und ich kann mich jetzt nicht vom Fleck rühren! ... Gaston, mein Püppchen! Jeden Tag treibst du es so; du wartest nur, bis ich mit deiner Schwester beschäftigt bin ... Sandoz, ich bitte dich, bedecke ihn! So, danke; schlage die Decke noch etwas tiefer herab.« Das hatte seine schöne Ehe aus dem Fleische seines Fleisches gemacht, diese beiden unfertigen, wankenden Wesen, die das leiseste Lüftchen zu töten drohte gleich Fliegen. Von seinem erheirateten Glück war ihm nichts geblieben, als der ewige Kummer, sein Blut verkümmern zu sehen in diesen erbarmungswürdigen Kindern, die der schlimmsten Entartung der Skrofel {{[Skrofel]}} und der Schwindsucht verfielen. Aus diesem plumpen, eigennützigen Jungen war ein wunderbarer Vater geworden mit einem Herzen, das in einer einzigen Leidenschaft entbrannte. Er hatte nur mehr den einen Willen, seine Kinder am Leben zu erhalten; er kämpfte Stunde um Stunde, rettete sie jeden Morgen in der Furcht, sie jeden Abend zu verlieren. Jetzt existierten sie allein für ihn inmitten seines verfehlten Daseins unter den bitteren, schimpflichen Vorwürfen seines Schwiegervaters, den mürrischen Tagen und eisigen Nächten, die sein trübseliges Weib ihm bereitete; und er rieb sich dabei auf, durch immer neue Wunder der Zärtlichkeit diese Kinder dem Leben zu erhalten. »So, mein Püppchen; es ist genug, nicht wahr? Du sollst sehen, wie groß und schön du wirst!« Er setzte Alice[[1]] wieder in das Wägelchen, nahm den eingehüllten Gaston auf einen Arm; als seine Freunde ihm beistehen wollten, lehnte er dies ab und schob das kleine Mädchen mit seiner frei gebliebenen Hand. »Ich danke euch, ich bin schon gewöhnt daran. Die lieben Kleinen sind nicht schwer; auf die Diener aber ist kein Verlaß.« Als sie das Haus betraten, sahen Sandoz und Claude den Kammerdiener wieder, der sich ihnen gegenüber unverschämt benommen hatte; sie bemerkten, daß Dubuche vor ihm zitterte. Das Dienstgesinde teilte die Verachtung des Schwiegervaters, der den Haushalt bestritt, und behandelte den Gatten der Hausfrau wie einen aus Mitleid geduldeten Bettler. Bei jedem Hemde, das für ihn hergerichtet wurde, bei jedem zweiten Stück Brot, das er zu verlangen wagte, fühlte er das Almosen in den unhöflichen Gebärden der Dienstboten. »Lebe wohl, wir verlassen dich«, sagte Sandoz, dem all dies wehe tat. »Nein, nein, wartet einen Augenblick! ... Die Kinder werden frühstücken, hernach will ich mit ihnen euch das Geleit geben; sie müssen ihren Spaziergang machen.« So war jeder Tag Stunde für Stunde geregelt. Am Morgen die Dusche, das Bad, das Turnen, dann das Frühstück, das eine wichtige Angelegenheit war, denn sie mußten eine besondere, reiflich besprochene und abgewogene Nahrung bekommen; man ging so weit, selbst ihr mit Rotwein gemengtes Wasser lauwarm machen zu lassen aus Furcht, daß ein allzu kalter Tropfen sie verschnupft machen könne. Heute bekamen sie eine Kraftbrühe mit einem Eidotter darin und ein Kotelett, das der Vater ihnen ganz klein schnitt. Dann kam der Spaziergang vor dem Mittagsschläfchen. &&x Draußen auf den breiten Gartenwegen fanden sich die drei wieder zusammen; Dubuche schob das Wägelchen der kleinen Alice[[1]], während Gaston jetzt neben seinem Vater herging. Die Herren sprachen von dem Landgute, während sie ihre Schritte nach dem Gitter lenkten. Der Herr des Hauses warf scheue, unruhige Blicke auf den weiten Park, als fühle er sich nicht zu Hause. Übrigens wußte er nichts, kümmerte sich um nichts. Er schien alles vergessen zu haben, selbst seinen Baumeisterberuf, den er – wie man ihn beschuldigte – niemals gekannt hatte; er war völlig aus dem Geleise, durch den Müßiggang zugrunde gerichtet. »Wie geht es deinen Eltern?« fragte Sandoz. Eine Flamme leuchtete in den erloschenen Augen Dubuches auf. » Meine[[Besitz]] Eltern sind glücklich. Ich habe ihnen ein Häuschen gekauft, wo sie die Rente verzehren, die ich ihnen im Ehevertrage sichergestellt habe ... Meine[[Besitz]] Mutter hat genug für meine[[Besitz]] Ausbildung geopfert; ich mußte ihr alles zurückerstatten, wie ich es versprochen. Das kann ich sagen: meine[[Besitz]] Eltern haben mir keinen Vorwurf zu machen.« Man war am Gartengitter angekommen und stand da noch eine Weile. Endlich drückte Dubuche mit trauriger Miene seinen alten Kameraden die Hände; dann hielt er die Claudes einen Augenblick fest und schloß ohne Zorn, gleichsam, um eine Wahrheit festzustellen: »Lebe wohl!! Trachte, davon loszukommen... Ich habe mein Leben verfehlt.« Sie[[1]] sahen ihn zurückkehren, Alice[[1]] schiebend, den schon wankenden Gaston stützend, er selbst mit gekrümmtem Rücken und dem schweren Gange eines Greises. Es schlug ein Uhr; die beiden Freunde eilten traurig und hungrig nach {{Benne¬court}} hinab. Dort harrten ihrer noch andere Betrübnisse, ein mörderischer Wind war hier hindurchgezogen: die {{Faucheur}}, Mann und Frau, Vater {{Poirette}} – sie waren tot; die Herberge, der blöden {{Melie}} in die Hände gefallen, war ekelhaft unsauber und ungastlich geworden. Ein abscheuliches Frühstück wurde ihnen vorgesetzt, Haare im Pfannkuchen, Koteletten, die nach Ruß rochen; durch die weit offene Tür des Gastzimmers drang der Gestank des Misthaufens herein; das Gastzimmer selbst war dermaßen voll Fliegen, daß die Tische davon ganz schwarz waren. Mit dem Gestank drang auch die sengende Augusthitze ein; sie hatten nicht den Mut, Kaffee zu bestellen, und flüchteten. »Wo ist die Zeit, als du die Pfannkuchen der Mutter {{Faucheur}} rühmtest!« sagte Sandoz. »Aus ist's mit der Herberge... Wollen wir noch einen Spaziergang machen?« Claude wollte zuerst ablehnen. Schon seit dem Morgen drängte es ihn, rascher zu gehen, als kürze jeder Schritt seine Frone ab und bringe ihn Paris näher. Sein Herz, sein Kopf, sein ganzes Wesen war dort geblieben. Er schaute weder rechts noch links, schritt rasch dahin, ohne einen Blick auf die Felder, auf die Bäume zu werfen, mit der einen fixen Idee im Kopf, von einem solchen Wahn gefangen, daß zuweilen und für Augenblicke die Spitze der Altstadt vor ihm aus der weitgedehnten Landschaft sich aufzurichten und ihn herbeizurufen schien. Indes hatte der Vorschlag Sandoz' Erinnerungen in ihm geweckt; eine Wehmut überkam ihn, und er erwiderte: »Ja, meinetwegen!« Doch in dem Maße, als er am Flußufer fortging, ward er eine Beute schmerzlicher Empörung. Er erkannte die Gegend kaum wieder. Man hatte eine Brücke gebaut, um {{Bonnières}} mit {{Benne¬court}} zu verbinden; eine Brücke, mein Gott, an Stelle der alten Fähre, die, wenn sie an der Kette knarrend über den Strom schwamm, mit ihrer schwarzen Farbe sich so schön vom Wasser abhob! Überdies war durch den weiter unten bei {{Port-Villez}} errichteten Damm die Wasserfläche des Flusses gehoben worden; infolgedessen war die Mehrzahl der Inseln überflutet, die kleinen Arme waren breiter geworden. Weg waren die schönen Winkel, die beweglichen Gäßchen, wo man sich verlieren konnte! Ein wahres Unglück; er hätte alle Stromingenieure erwürgen mögen! »Jenes Weidendickicht, das links noch aus dem Wasser hervorragt, war die {{Barreux}}-Insel, wo wir im Grase plauderten. Erinnerst du dich noch? Ach, die Elenden!« Sandoz, der keinen Baum fällen sehen konnte, ohne dem Köhler die Faust zu zeigen, war ebenfalls bleich vor Zorn und Entrüstung darüber, daß man die Natur so zu schänden gemacht. &&x Als Claude sich seinem ehemaligen Wohnhause näherte, ward er stumm und preßte die Zähne zusammen. Das Haus war an Bürgersleute verkauft worden, die es mit einem eisernen Gitter umgeben hatten, an welches Claude sein Antlitz preßte. Die Rosenstöcke waren erstorben, die Aprikosenbäume verdorrt; der sehr sauber gehaltene Garten mit seinen schmalen Wegen und seinen mit Buchs eingesäumten Blumen- und Gemüsebeeten spiegelte sich in einer großen gebrochenen Glaskugel, die mitten im Garten auf einem Pfosten saß; und das frisch getünchte Haus, an den Ecken und Einfassungen mit einer Nachahmung von behauenen Steinen bemalt, zeigte eine plumpe Ausschmückung im Geschmack eines emporgekommenen Bauern, die den Maler zur Verzweiflung brachte. Nein, nein, nichts war von ihm da geblieben, nichts von Christine, nichts von ihrer großen Jugendliebe. Er wollte noch mehr sehen, stieg hinter dem Hause den Hügel hinan, suchte das kleine Eichengehölz, dieses grüne Nest, wo sie das lebendige Beben ihrer ersten Umarmung zurückgelassen; doch das Gehölz war tot wie alles andere, gefällt, verkauft, verbrannt. Da machte er eine Gebärde des Fluches, schleuderte seinen Kummer über diese ganze so veränderte Landschaft, wo er keine Spur ihres Daseins wiederfinden konnte. Einige Jahre hatten also genügt, den Platz auszulöschen, wo man gearbeitet, genossen und gelitten hatte! Was nützt alles eitle Streben, wenn der Wind hinter uns her alles hinwegfegt, selbst die Spuren unserer Schritte verwischt? Er habe gefühlt, daß er nicht habe wiederkommen sollen; denn die Vergangenheit sei nichts als der Kirchhof unserer Träume; man läuft Gefahr, an Gräbern die Beine zu brechen. »Fort, rasch fort von hier!« rief er. »Es ist blöd, sich so das Herz schwer zu machen.« Als sie auf der neuen Brücke angekommen waren, suchte Sandoz ihn zu beruhigen, indem er ihm ein Motiv zeigte, das ehemals nicht dagewesen war: den Strom der breiter gewordenen {{Seine}}, die bis zu den Ufern randvoll mit majestätischer Langsamkeit dahinrollte. Allein dieses Wasser interessierte Claude nicht mehr; er hatte dabei nur einen Gedanken: es war das nämliche Wasser, das in Paris die Ufer der Altstadt bespült hatte; fortan fesselte es seine Aufmerksamkeit, er beugte sich einen Augenblick hinab und glaubte daselbst herrliche Bilder zu bemerken, die Türme der Liebfrauenkirche und den Blitzableiter auf der heiligen Kapelle, Bilder, welche der Strom nach dem Meer entführte. Die beiden Freunde versäumten den Drei-Uhr-Zug. Es war eine Marter für sie, in dieser Landschaft, die so schwer auf ihrem Gemüte lastete, noch zwei Stunden zu verbringen. Glücklicherweise hatten sie ihre Familien verständigt, daß sie mit einem Nachtzuge heimkehren würden, falls man sie in der {{Richaudière}} zurückhalte. Sie[[1]] beschlossen daher, als Junggesellen in einem Restaurant auf dem {{Havre}}-Platze zu essen, um beim Nachtisch plaudernd – wie sie es ehemals getan – sich von der Reise zu erholen. Als Claude den Bahnhof verließ und die Füße wieder auf das Pariser Pflaster setzte, hatte seine nervöse Aufregung ein Ende; er fühlte sich endlich wieder zu Hause. Er hörte mit der kühlen, nachdenklichen Miene, die er jetzt gewöhnlich annahm, das Geschwätz an, womit ihn Sandoz aufheitern wollte. Dieser behandelte ihn wie eine Geliebte, die er betäuben wollte; er ließ feine, gewürzte Speisen und starke Weine kommen. Allein die Heiterkeit versagte, Sandoz selbst ward schließlich ernst. Diese undankbare Landschaft, dieses teure und vergeßliche {{Benne¬court}}, wo sie nicht einen Stein gefunden hatten, der ihr Andenken bewahrt, erschütterte in ihm alle Hoffnungen auf Unsterblichkeit. Wenn die Dinge, welche die Ewigkeit haben, so schnell vergessen werden, konnte man da auch nur eine Stunde auf das Gedächtnis der Menschen zählen? »Siehst du, das treibt mir zuweilen den kalten Schweiß auf die Stirn... Hast[[Besitz]] du jemals daran gedacht, daß die Nachwelt vielleicht nicht jene unfehlbare Richterin ist, von der wir träumen? Man tröstet sich, wenn man beschimpft und verleugnet wird; man rechnet auf die Gerechtigkeit kommender Jahrhunderte; man ist wie der Gläubige, der den Jammer dieser Erde erträgt in dem festen Glauben an ein anderes Leben, wo jeder nach seinem Verdienste behandelt wird. Wenn es für den Künstler ebensowenig ein Paradies geben sollte wie für den Katholiken; wenn die künftigen Geschlechter sich irren sollten wie die zeitgenössischen, das Mißverständnis fortsetzen und den starken Werken die kleinen, liebenswürdigen Torheiten vorziehen sollten?... Welch ein Hohn! Welch ein Sträflingsdasein, an die Arbeit gefesselt für einen Wahn! Merke es dir: es ist schließlich sehr wohl möglich. Es gibt durch die Überlieferung geheiligte Gegenstände der Bewunderung, für die ich nicht zwei Heller geben würde. Natürlich; der klassische Unterricht hat alles aus der Form gebracht, hat uns feine und leichte Kerle als Genies aufgehalst, Kerle, denen man die freien Temperamente, die stets gleichmäßig schaffen und den Gelehrten allein bekannt sind, vorziehen könnte. Sollte die Unsterblichkeit dem Durchschnittsbürgertum gehören, jenen, die man uns gewaltsam in den Schädel treibt zu einer Zeit, wo wir uns noch nicht wehren können?... Nein, nein; man sollte sich so etwas nicht sagen; ich erschrecke davor. Würde[[werden]] ich bei solchen Gedanken den Mut zur Arbeit bewahren; würde ich die Beschimpfungen ertragen, wenn ich nicht den tröstenden Wahn hätte, eines Tages geliebt zu werden?« Claude hatte ihm mit seiner traurigen Miene zugehört; dann sagte er mit einer Gebärde bittern Gleichmutes: »Was liegt daran?... Es gibt gar nichts... Wir sind noch törichter als die Schwachköpfe, die sich für eine Frau töten. Wenn die Erde im Räume platzt wie eine taube Nuß, dann werden unsere Werke ihrem Staube nicht ein Atom hinzufügen.« »Das ist wahr«, schloß Sandoz sehr bleich. »Was nützt es, den klaffenden Abgrund des Nichts ausfüllen zu wollen? Wenn man bedenkt, daß wir es wußten und daß unser Stolz nicht ablassen will!...« &&x Sie[[1]] verließen das Restaurant, irrten in den Straßen umher und machten schließlich wieder bei einem Kaffeehause halt. Sie[[1]] philosophierten, sie waren zu den Erinnerungen ihrer Kinderzeit zurückgekehrt, was ihr Herz vollends mit Traurigkeit erfüllte. Es schlug ein Uhr nach Mitternacht, als sie sich entschlossen heimzukehren. Allein Sandoz sprach davon, Claude bis zur {{Tour¬laque}}-Straße zu begleiten. Die Augustnacht war herrlich, warm, sternenhell. Als sie auf einem Umwege durch das Europaviertel hinanstiegen, kamen sie bei dem ehemaligen Café {{Baudequin}} auf der {{Batignolles}}-Promenade vorüber. Es hatte seither dreimal den Eigentümer gewechselt; der Saal war nicht mehr derselbe, frisch gemalt, anders eingerichtet, mit zwei {{Billards}} auf der rechten Seite. Neue Gäste waren daselbst einander gefolgt, die einen bedeckten die anderen, so daß die alten vollständig verschwunden waren wie vergrabene Völker. Die Neugier und die Erregung über alle toten Dinge, die sie zusammen aufgerüttelt hatten, bewogen sie, quer über die Promenade zu gehen, um durch die weit offene Tür einen Blick in das Kaffeehaus zu werfen. Sie[[1]] wollten ihren ehemaligen Stammtisch im Hintergrunde links wiedersehen. »Oh, schau!« sagte Sandoz betroffen. »{{Gagnière}}!« murmelte Claude. Es war in der Tat {{Gagnière}} ganz allein an jenem Tische im Hintergrunde des leeren Saales. Er mußte aus {{Melun}} gekommen sein, um ein Sonntagskonzert anzuhören, – ein Vergnügen, das er sich seit langer Zeit gönnte. Als er am Abend in Paris nichts anzufangen wußte, hatten ihn seine Füße – gleichsam in alter Gewohnheit – nach dem Café {{Baudequin}} getragen. Kein einziger der Kameraden setzte mehr einen Fuß in dieses Kaffeehaus; er aber, der Zeuge einer andern Zeit, ließ sich in seinem Eigensinn hier einsam nieder. Noch hatte er seinen Schoppen nicht berührt; er betrachtete ihn in Gedanken, während die Kellner schon die Sessel auf die Tische zu stellen begannen, um den Saal für den folgenden Tag reinzukehren, ohne daß er sich bewegte. Die beiden Freunde eilten hinweg, geängstigt durch dieses ausdruckslose Gesicht, von kindischer Gespensterfurcht ergriffen. In der {{Tour¬laque}}-Straße trennten sie sich. »Dieser trübselige Dubuche hat uns den Tag verdorben«, sagte Sandoz, während er Claude die Hand drückte. Als im November alle Freunde wieder nach Paris zurückgekehrt waren, wollte Sandoz sie bei einem seiner Donnerstagessen vereinigen, deren Gewohnheit er beibehalten hatte. Es war noch immer seine schönste Freude; der Absatz seiner Bücher nahm immer mehr zu und bereicherte ihn. Die Wohnung in der Londoner Straße war sehr prächtig eingerichtet im Vergleiche zu der spießbürgerlichen Behausung in {{Batignolles}}. Sandoz aber blieb unveränderlich derselbe. In seiner Gutmütigkeit plante er übrigens diesmal für Claude eine Überraschung, die diesen sicher zerstreuen sollte; die Freunde sollten zu einem der lieben, frohen Abende von ehemals versammelt werden. Er selbst überwachte die Einladungen: Claude und Christine natürlich; Jory und seine Frau, die man empfangen mußte, seitdem sie geheiratet hatten; ferner Dubuche, der stets allein kam; {{Fage¬rolles}}, {{Mahou¬deau}} und {{Gagnière}}. Eine Gesellschaft von zehn Personen, nur Kameraden der alten Schar, kein Fremder, damit das Einvernehmen und die Fröhlichkeit vollständig seien. Henriette, bedächtiger als er, zögerte, als sie diese Liste festgestellt hatten. »{{Fage¬rolles}}! Du glaubst: {{Fage¬rolles}} mit den übrigen? Sie[[1]] lieben ihn nicht... Auch Claude nicht; ich glaubte, eine gewisse Kälte zu bemerken...« Doch er unterbrach sie, wollte es nicht zugeben. »Wie? Eine gewisse Kälte? Es ist drollig: die Frauen können nicht begreifen, daß Freunde untereinander Spaß treiben und dennoch das Herz auf dem rechten Flecke haben.« An jenem Donnerstag wollte Henriette selbst den Küchenzettel überwachen. Sie[[1]] hatte jetzt ein kleines Gesinde zu leiten: eine Köchin und einen Diener; wenngleich sie selbst jetzt nicht mehr kochte, führte sie dennoch eine sehr feine Küche aus Liebe für ihren Mann, dessen Leckerheit sein einziges Laster war. Sie[[1]] begleitete die Köchin in die Halle und ging selbst zu den Kaufleuten. Das Ehepaar liebte Besonderheiten im Essen, die aus aller Herren Länder kamen. Diesesmal entschloß man sich zu einer Rindfleischbrühe, geschmorten Meerbarben {{[Meer¬bar¬ben]}}, einem Filet mit Schwämmen, Ravioli nach italienischer Art zubereitet, russischen Haselhühnern, Trüffelsalat, ungerechnet den Kaviar und Kilkis {{[Kilkis]}} als Vorspeisen, Fruchteis, einen feinen ungarischen Käse von smaragdgrüner Farbe, Früchte, Gebäck. Als Getränk: alter Bordeaux vom Fasse, zum Braten Chambertin, zum Nachtisch einen schäumenden Moselwein anstatt des Champagners, den man gewöhnlich fand. &&x Um sieben Uhr erwarteten Sandoz und Henriette ihre Gäste, er in einfachem Jackett, sie sehr elegant in einem glatten Kleide aus schwarzem Samt. Man kam zu ihnen im Leibrock ganz ungezwungen. In dem Salon, dessen Einrichtung sie eben erst beendet hatten, stand eine Menge alter Möbel und Teppiche, Kunstsachen aller Völker und aller Zeiten; sie hatten die Sammlung noch in {{Batignolles}} mit einem alten {{Rouener}} Topfe begonnen, den sie ihm einmal zu seinem Namensfeste geschenkt hatte. Sie[[1]] suchten zusammen alle Trödler ab in frohem Eifer, solche Seltsamkeiten anzukaufen. Er befriedigte alte Wünsche seiner Jugend, einen romantischen Ehrgeiz, der noch aus der Zeit stammte, als er seine ersten Bücher gelesen; so daß dieser durch und durch moderne Schriftsteller mitten in dem wurmstichigen Mittelalter wohnte, das er mit fünfzehn Jahren erträumt. Er entschuldigte es lachend damit, daß die schönen Möbeln von heute zu teuer seien, während man mit alten Sachen, selbst gewöhnlichen, sogleich Farbe und Vornehmheit in einen Salon bringe. Er hatte nichts vom Sammler; er war ganz für die Ausschmückung, für die Gesamtwirkung. Beleuchtet durch zwei Lampen von altem Delft, zeigte der Salon in der Tat verblaßte Töne von sehr milder und warmer Wirkung: das matte Gold der frisch aufgelegten Dalmatiken {{[Dal¬ma¬ti¬ken]}} auf den Sesseln, die vergilbte Einlegearbeit der italienischen Kabinettstücke und der holländischen Glasschränke, die verschwommenen Farben der orientalischen Vorhangteppiche, die hundert kleinen Töne der Elfenbein-, Halbporzellan- und Emaillegegenstände, die verblaßt durch das Alter von dem Dunkelrot der Tapete des Gemaches sich abhoben. Claude und Christine kamen zuerst. Die letztere hatte ihr einziges Kleid von schwarzer Seide angelegt, ein abgetragenes Stück, das sie für ähnliche Gelegenheiten mit außerordentlicher Sorgfalt instandhielt. Henriette ergriff sogleich ihre beiden Hände und zog sie auf ein Sofa. Sie[[1]] liebte sie sehr und befragte sie sogleich, als sie Christine so eigentümlich aussehend fand, die Augen so unruhig in dem rührend blassen Gesichte. Was hatte sie denn? War sie leidend? Nein, nein; sie erwiderte, sie sei sehr heiter und glücklich, daß sie habe kommen können. Ihre Blicke wanderten jeden Augenblick zu Claude, wie um ihn zu prüfen, und wandten sich dann wieder weg. Er schien fieberhaft erregt in Worten und Gebärden, wie er es seit mehreren Monaten nicht gezeigt. Allein zuweilen verschwand für Augenblicke diese Erregung, und er blieb still, mit offenen Augen in die Leere starrend auf etwas, das ihn zu rufen schien: »Lieber Freund,« sagte er zu Sandoz, »ich habe heute nacht dein Buch beendet. Es ist gewaltig, du hast ihnen diesmal den Schnabel vernagelt.« Sie[[1]] plauderten vor dem Kamin, wo die Klötze lustig flackerten. Der Schriftsteller hatte in der Tat soeben einen neuen Roman beendigt; obgleich die Kritik noch immer nicht die Waffen streckte, hatte endlich das letzte Buch jenen Ruf des Erfolges errungen, der einen Mann unter den beharrlichen Angriffen seiner Gegner in die Höhe bringt. Er gab sich übrigens keinem Wahn hin; er wußte sehr wohl, daß die gewonnene Schlacht mit jedem seiner Bücher neu beginnen werde. Das große Werk seines Lebens schritt fort, jene Romanreihe, jene Bände, die er Stück für Stück mit beharrlichem und regelmäßigem Wurf auf den Büchermarkt schleuderte, indem er geradeaus auf das Ziel losging, das er sich gesteckt, ohne sich besiegen zu lassen, der Hindernisse, der Mühsal, der Schmähungen nicht achtend. »Es ist wahr, sie werden schwächer«, sagte er heiter. »Einer unter ihnen gibt sogar zu, daß ich ein ehrlicher Mann sei. So legt sich alles. Doch sei ruhig, sie werden das Versäumte nachholen. Ich kenne unter ihnen einige, deren Schädel zu sehr verschieden ist von dem meinen[[Besitz]], als daß sie jemals meine[[Besitz]] literarische Formel annehmen, die Kühnheit meiner Sprache, meine[[Besitz]] menschlichen Figuren, die sich unter dem Einflüsse ihrer Umgebung entwickeln; ich spreche da von den Kollegen, die sich gegenseitig achten, und lasse die Schwachköpfe und Schurken ganz beiseite. Um tüchtig zu arbeiten, ist das beste, weder guten Glauben noch Gerechtigkeit zu erwarten. Man muß erst sterben, um recht zu behalten.« Claudes Blicke richteten sich plötzlich nach einem Winkel des Salons; sie durchbohrten die Mauer und eilten in die Ferne, wo etwas sie zu rufen schien. Dann trübten sich diese Blicke und kehrten zurück, während er sagte: »Du sprichst für dich. Wenn ich krepiere, werde ich unrecht haben ... Gleichviel, dein Buch hat ein riesiges Feuer in mir entzündet. Ich wollte heute malen, es war unmöglich! Es ist gut, daß ich auf dich nicht eifersüchtig sein kann, du würdest mich sonst zu unglücklich machen.« Doch die Tür hatte sich geöffnet; Mathilde trat ein und hinter ihr Jory. Sie[[1]] trug eine reiche Toilette, eine Tunika von kapuzinerbraunem Samt auf einem Rock von strohgelbem Satin mit Brillanten in den Ohren und einem großen Rosenstrauß am Leibchen. Claude war erstaunt, daß er sie nicht wiedererkannte; sie war eine sehr dicke, runde, blonde Person geworden aus einer mageren, schwarzen, die sie gewesen. Ihre beunruhigende Häßlichkeit einer Dirne löste sich in eine spießbürgerliche Anschwellung des Gesichtes auf, ihr Mund mit den schwarzen Löchern zeigte jetzt allzu weiße Zähne, wenn sie mit einem verächtlichen Verziehen der Lippen lächeln wollte. Sie[[1]] gab sich ein übertrieben achtbares Aussehen; ihre fünfundvierzig Jahre verliehen ihr Bedeutung neben dem jüngeren Gatten, der ihr Neffe zu sein schien. Das einzige, das sie aus der Vergangenheit behalten hatte, waren ihre aufdringlichen Parfüms; sie übergoß sich mit den stärksten Wässern, als wolle sie aus ihrer Haut die Gerüche des Kräuterladens vertreiben; doch die Bitterkeit des Rhabarbers, die Herbheit des Wachholders, die Schärfe der Pfefferminze – sie dauerten fort, und der Salon füllte sich, als sie ihn durchschritt, mit einem unerklärlichen Apothekengeruch, gemildert durch einen scharfen Zug von Moschus. Henriette hatte sich erhoben und ließ sie gegenüber Christine Platz nehmen. »Die Damen kennen sich, nicht wahr? Sie[[1]] müssen sich hier schon getroffen haben.« Mathilde warf einen kühlen Blick auf die bescheidene Toilette dieser Frau, die – wie man sagte – lange Zeit mit einem Manne gelebt hatte, ehe sie geheiratet. Sie[[1]] war in diesem Punkte äußerst streng, seitdem sie selbst dank der Duldsamkeit der literarischen und künstlerischen Kreise in einigen Salons empfangen wurde. Henriette, die sie verabscheute, setzte übrigens nach dem Austausche der unerläßlichen Höflichkeiten ihre Unterhaltung mit Christine fort. Jory hatte inzwischen Claude und Sandoz die Hände gedrückt. Er stand mit ihnen vor dem Kamin und entschuldigte sich bei Sandoz wegen eines Artikels, der in seiner Zeitschrift gerade an diesem Tage erschienen war, und in dem der neue Roman des Schriftstellers sehr schlecht wegkam. »Du weißt ja, mein Lieber, man ist zu Hause niemals der Herr ... Ich müßte alles selbst machen, aber ich habe so wenig Zeit! Denke dir: ich habe den Artikel gar nicht gelesen, sondern den Angaben vertraut, die man mir darüber gemacht. Du begreifst denn auch meinen[[Besitz]] Zorn, als ich vorhin rasch den Artikel las. Ich bin trostlos, trostlos ...« »Sei ruhig; es ist ganz in der Ordnung«, erwiderte Sandoz freundlich. » Meine[[Besitz]] Feinde loben mich jetzt, also müssen meine[[Besitz]] Freunde mich angreifen.« &&x Von neuem öffnete sich die Tür, und {{Gagnière}} schlüpfte herein mit seiner verschwommenen Miene eines schwankenden Schattens. Er kam geradeswegs von {{Melun}} ganz allein; denn er zeigte seine Frau niemandem. Wenn er zum Essen kam, behielt er den Provinzstaub auf seinen Schuhen, den er an demselben Abend auf der Rückfahrt mit dem Nachtzuge wieder mitnahm. Er veränderte sich übrigens nicht; die Jahre schienen ihn zu verjüngen, mit zunehmendem Alter ward er blond. »{{Gagnière}} ist da!« rief Sandoz. Während {{Gagnière}} die Damen begrüßte, kam auch {{Mahou¬deau}}. Er war schon weiß geworden mit seinem hohlen, rauhen Gesichte, aus dem zwei Kinderaugen blickten. Er trug noch ein zu kurzes Beinkleid und einen schlecht sitzenden Leibrock, trotzdem er jetzt Geld verdiente. Der Bronzehändler, für den er arbeitete, hatte reizende Statuetten von ihm in die Mode gebracht, die man allmählich auf den Kaminsimsen und Konsolen der Bürgerhäuser zu sehen bekam. Sandoz und Claude hatten sich umgewandt, um die Begegnung {{Mahou¬deaus}} mit Mathilden und Jory zu sehen. Allein die Sache ging sehr einfach vor sich. Der Bildhauer verneigte sich respektvoll vor ihr, als der Gatte mit seiner ruhig- unbewußten Miene sie ihm vorstellen zu sollen glaubte – vielleicht zum zwanzigsten Male. »Das ist meine[[Besitz]] Frau, Kamerad! Reicht euch die Hände!« Sehr ernst reichten sich als Leute von Welt, die man zu einer allzu raschen Vertraulichkeit nötigt, Mathilde und {{Mahou¬deau}} die Hände. Allein sobald dieser es überstanden und {{Gagnière}} in einer Ecke des Salons wiedergefunden hatte, begannen beide spöttisch zu lächeln und sich der Scheußlichkeiten von einst zu erinnern! Was! jetzt hatte sie gar Zähne, die ehemals nicht beißen konnte – glücklicherweise! Man erwartete Dubuche, denn er hatte in aller Form versprochen, zu dem Essen zu erscheinen. »Ja,« erklärte Henriette laut, »wir werden nur unser Neun sein. {{Fage¬rolles}} hat uns heute morgen geschrieben und sich entschuldigt; er müsse an einem offiziellen Essen teilnehmen, werde aber gegen elf Uhr kommen.« In diesem Augenblicke brachte man eine Depesche. Dubuche telegraphierte: »Unmöglich zu kommen; Alice[[1]] hustet in beunruhigender Weise.« »Gut wir werden nur unser Acht sein«, sagte Henriette mit der betrübten Ergebung einer Hausfrau, die ihre Gäste immer weniger werden sieht. Als der Diener eben die Tür des Speisezimmers öffnete, um zu melden, daß das Essen angerichtet sei, setzte sie hinzu: »Wir sind alle beisammen ... Claude, reichen Sie[[1]] mir den Arm.« Sandoz hatte den Mathildens genommen, Jory führte Christine, {{Mahou¬deau}} und {{Gagnière}} folgten unter derben Scherzen über das, was sie die frische Auspolsterung der schönen Kräuterhändlerin nannten. Der Speisesaal, den man betrat, war sehr groß und im Vergleich zur gedämpften Helle des Salons sehr lebhaft beleuchtet. Die mit alten Fayencen bedeckten Wände boten den frohen Farbenreichtum Epinalscher {{[Epinalscher]}} Bilder. Zwei Schränke – der eine für Glasgeschirr, der andere für Silberzeug – funkelten wie Juwelenkästen. In der Mitte des Gemaches schimmerte der Tisch wie eine beleuchtete Kapelle unter der mit Kerzen besteckten Lampe mit dem schneeweißen Tafeltuch, von dem sich die schön geordneten Gedecke abhoben, die bemalten Teller, die geschnittenen Gläser, die weißen und roten Weinkaraffen, die gleichmäßig aufgestellten Zwischengerichte, die rings um den in der Mitte stehenden Rosenkorb geordnet waren. Man setzte sich zu Tische, Henriette zwischen Claude und {{Mahou¬deau}}, Sandoz zwischen Mathilde und Christine, Jory und {{Gagnière}} an den beiden Enden des Tisches. Der Diener hatte soeben die Suppe verteilt, als Frau Jory einen unglückseligen Satz losließ. Um liebenswürdig zu sein und weil sie die Entschuldigungen ihres Gatten nicht gehört hatte, sagte sie dem Herrn des Hauses: »Sie[[1]] waren doch wohl zufrieden mit dem Artikel von heut abend. Eduard selbst hat mit großer Sorgfalt die Korrektur gelesen.« Jory stammelte in arger Verlegenheit: »Aber nein, aber nein, der Artikel ist sehr schlecht; du weißt, daß er neulich in meiner Abwesenheit ins Blatt gelangt ist.« An dem verlegenen Schweigen, das jetzt entstand, merkte sie ihren Mißgriff. Doch sie verschlimmerte die Lage noch; sie warf ihm einen scharfen Blick zu und sagte sehr laut, um ihn zu beschuldigen und sich selbst zu entlasten: »Wieder eine deiner Lügen! Ich wiederhole, was du mir gesagt hast ... Ich will nicht, daß du mich lächerlich machst; verstehst du?« Diese Szene brachte eine eisige Stimmung in den Beginn des Essens. Vergebens empfahl Henriette die Kilkis; Christine allein fand sie sehr gut. Sandoz, dem die Verlegenheit Jorys Spaß machte, erinnerte ihn fröhlich, als die geschmorten Barben erschienen, an ein Frühstück, das sie ehemals zusammen in Marseille eingenommen. Marseille! die einzige Stadt, wo man zu essen versteht! Claude, der eine Weile nachdenklich dagesessen, schien jetzt aus einem Traume zu erwachen und fragte ohne jeden Übergang: »Ist's entschieden? Sind die Künstler für die Ausschmückung des Rathauses schon gewählt?« »Nein,« sagte {{Mahou¬deau}}; »das wird erst geschehen ... Ich bekomme nichts, denn ich kenne niemanden ... Auch {{Fage¬rolles}} ist sehr besorgt. Wenn er heute nicht da ist, beweist es, daß die Sache nicht recht geht ... Seine Glanzzeit ist vorüber; die Malerei, die Millionen eingetragen, scheint im Niedergange zu sein!« Er ließ ein Lachen endlich befriedigten Grolls vernehmen, und {{Gagnière}}, am andern Ende der Tafel, grinste ebenfalls. Sie[[1]] machten nun ihrem Herzen in bösen Worten Luft; sie freuten sich des Zusammenbruches, der die Welt der jungen Meister in Bestürzung versetzte. Es war fatal; die vorausgesagten Zeiten kamen, die übertrieben hohen Bilderpreise endeten mit einer Katastrophe. Seitdem die Panik unter den Kunstliebhabern eingerissen, die von der Kopflosigkeit der Börsenmänner bei einem Preissturz ergriffen wurden, gingen die Preise von Tag zu Tag zurück, man konnte nichts mehr verkaufen. Man mußte den berühmten {{Naudet}} in diesem Krach sehen! Anfänglich hatte er standgehalten, hatte den Kniff mit dem Amerikaner ersonnen. Er verbarg ein einziges Gemälde in der Tiefe einer Galerie, einsam wie einen Gott, ein Gemälde, dessen Preis er nicht angeben wollte mit der verächtlichen Gewißheit, daß er keinen Mann finden werde, der reich genug sei, dieses Bild zu kaufen. Schließlich verkaufte er das Bild um zwei-dreimalhunderttausend Franken an einen Schweinehändler aus Neuyork, der stolz darauf war, das teuerste Bild des Jahres erstanden zu haben. Allein solche Kniffe wiederholten sich nicht, und {{Naudet}}, dessen Ausgaben mit seinen Gewinsten gestiegen waren, den die wahnsinnige Bewegung, die sein eigenes Werk war, mit sich fortriß und verschlang, hörte jetzt seinen königlichen Palast in allen Fugen krachen und mußte ihn gegen den Ansturm der Gerichtsvollzieher verteidigen. &&x »{{Mahou¬deau}}, nehmen Sie[[1]] noch ein Filet mit Schwämmen?« unterbrach Henriette freundlich. Der Diener bot das Filet an; man aß, man leerte die Weinkaraffen; allein die Verstimmung war derart, daß die guten Sachen vorübergingen, ohne recht gewürdigt zu werden, was die Frau und den Herrn des Hauses trostlos machte. »Wie? Filet mit Schwämmen?« wiederholte der Bildhauer schließlich. »Nein, ich danke.« Dann fuhr er fort. »Das Drolligste ist, daß {{Naudet}} jetzt {{Fage¬rolles}} verfolgt. Ja, ja; er ist dabei, ihn pfänden zu lassen ... Mir macht das vielen Spaß! Wir werden das Schauspiel erleben, daß alle kleinen Maler, die ihre Häuser in der {{Villiers}}-Allee haben, hinweggefegt werden. {{Fage¬rolles}}' Haus wird im Frühjahr für einen Pappenstiel zu haben sein. {{Naudet}} also, der {{Fage¬rolles}} gezwungen hat zu bauen und ihn eingerichtet hat wie eine ausgehaltene Dirne, wollte seine Kunstsachen und Teppiche zurücknehmen. Allein der andere scheint Geld darauf entlehnt zu haben. Sie[[1]] begreifen die Geschichte: der Kaufmann beschuldigt ihn, sein Geschäft dadurch verdorben zu haben, daß er als eitler, unbesonnener Mensch die Ausstellung beschickte; der Künstler antwortet darauf, daß er nicht länger bestohlen werden will; und sie werden einander auffressen, wie ich hoffe.« Jetzt ließ die Stimme {{Gagnières}} sich vernehmen, die unerbittliche, sanfte Stimme eines erwachten Träumers. »{{Fage¬rolles}} ist fertig! ... Er hat übrigens niemals Erfolg gehabt.« Dem wurde widersprochen. Er habe jährlich Bilder für hunderttausend Franken verkauft und habe Medaillen und das Kreuz der Ehrenlegion. Doch er blieb hartnäckig, lächelte geheimnisvoll, als vermöchten die Tatsachen nichts gegen seine Überzeugung, die er aus dem Reich der Träume geholt. Er schüttelte voll Verachtung das Haupt. »Laßt mich in Frieden. Niemals wußte er die Werte in der Malerei abzuschätzen.« Jory wollte das Talent {{Fage¬rolles}}' verteidigen, den er als sein Werk betrachtete, als Henriette um ein wenig Aufmerksamkeit für die Ravioli bat. Es trat eine kurze Ruhe ein, und man vernahm das kristallhelle Klirren der Gläser und das leichte Klappern der Gabeln. Die Tafel, deren schöne Gleichmäßigkeit schon einigermaßen gelitten hatte, schien sich in dem hitzigen Streit belebt zu haben. Sandoz war unruhig und erstaunt; was hatten sie denn, daß sie so hart über {{Fage¬rolles}} herfielen? Hatte man denn nicht zusammen begonnen? Mußte man nicht zum nämlichen Siege gelangen? Zum erstenmal trübte ein Unbehagen seinen Traum von der Ewigkeit, diese Freude seiner Donnerstage, die er einander folgen sah, alle gleich, alle glücklich bis in die fernsten Zeiten. Doch es war nur ein Frösteln auf der flachen Haut. Er sagte lachend: »Claude, spare deinen Appetit auf, da sind die Haselhühner. He, Claude, wo bist du?« Seitdem Stille eingetreten, war Claude mit verlorenen Blicken wieder in seinen Traum versunken; er nahm immer wieder von den Ravioli, ohne zu wissen, was er tat. Christine, die nichts sprach, traurig und liebreizend dasaß, ließ ihn nicht aus den Augen. Er fuhr jetzt auf, nahm Schenkel aus der Schüssel mit Hühnern, deren würziger Dampf das Gemach mit einem Harzgeruch erfüllte. »Riecht Ihr das?« rief Sandoz heiter. »Man glaubt alle Wälder Rußlands zu verschlucken.« Doch Claude kam wieder auf den Gegenstand seines Nachdenkens zurück. »Ihr sagt also, {{Fage¬rolles}} werde den großen Saal des Gemeinderates bekommen?« Dieses Wort genügte, {{Mahou¬deau}} und {{Gagnière}}, wieder auf die Spur gebracht, brachen von neuem los. Das wäre eine schöne Tünche mit klarem Wasser, wenn man ihm diesen Saal überlasse! Er treibe übrigens häßliche Sachen genug, um ihn zu erlangen. Ehemals habe er getan, als gebe er nichts auf die Bestellungen als großer Künstler, den die Kunstliebhaber schier zerreißen, und jetzt bestürme er die Regierung in gemeiner Weise, seitdem seine Bilder keinen Absatz mehr fanden. Gab es etwas Gemeineres als einen Maler, der vor einem Beamten in Bücklingen und feigen Zugeständnissen sich erschöpfe? Diese Abhängigkeit der Kunst von der blöden Willkür eines Ministers sei eine Schmach, eine Schule der Knechtschaft! {{Fage¬rolles}} sei bei diesem offiziellen Diner sicherlich dabei, irgendeinem Amtsvorstande, einem Tölpel zum Ausstopfen, gewissenhaft die Stiefel abzulecken! »Mein Gott,« sagte Jory, »er betreibt seine Angelegenheiten und hat recht ... Ihr bezahlt seine Schulden nicht.« »Habe ich etwa Schulden, trotzdem ich gehungert habe?« rief {{Mahou¬deau}} unwirsch. »Darf man einen Palast bauen, darf man Geliebte halten wie diese Irma, die ihn ruiniert?« {{Gagnière}} unterbrach ihn von neuem mit seiner eigentümlich gebrochenen, wie von fernher kommenden Orakelstimme. »Irma? Aber sie bezahlt ihn doch!« Man scherzte und ereiferte sich, der Name Irmas flog über den Tisch hin und her, als Mathilde, die bisher still und zurückhaltend dagesessen hatte, um ein gutes Benehmen zu bekunden, sehr entrüstet tat und mit dem Unwillen einer genotzüchtigten Betschwester ausrief: »Aber, meine[[Besitz]] Herren, um des Himmels willen! Sprechen Sie[[1]] nicht in unserer Gegenwart von dieser Dirne!« &&x Jetzt sahen Sandoz und Henriette betroffen, wie ihr schönes Essen in die Brüche ging. Der Trüffelsalat, das Fruchteis, der Nachtisch, alles wurde ohne Freude verschlungen in der steigenden Erregung des Gezänks; der Chambertin, der Moselwein wurden hinabgegossen wie reines Wasser. Vergebens lächelte sie, vergebens bemühte er sich in seiner Gemütlichkeit, Ruhe zu stiften, indem er die menschlichen Schwächen betonte. Keiner wollte nachgeben; ein Wort genügte, um sie von neuem aufeinander losstürzen zu lassen. Es war heute nicht die schleichende Langeweile, die schläfrige Sattheit, die ehemals zuweilen einen trübseligen Ton in diese Zusammenkünfte brachte; es war die Wildheit des Kampfes, das Bedürfnis, sich gegenseitig zu vernichten. Die Leuchter der Lampe brannten sehr hoch; die Fayencen an den Wänden schimmerten in der Farbenpracht ihrer Blumen; der Tisch schien sich entzündet zu haben in dem Zusammenbruch des Gedecks, in der Heftigkeit der Unterhaltung, in dieser Schlacht, die sie seit zwei Stunden in fieberhafter Aufregung hielt. Mitten in dem Lärm sagte in dem Augenblicke, als Henriette sich erhob, um die Herren zu beruhigen, Claude schließlich: »Wenn ich das Rathaus bekäme und wenn ich könnte! ... Das war mein Traum, die Mauern von Paris bedecken!« Man kehrte nach dem Salon zurück, wo der kleine Hängeleuchter angezündet worden. Man fror daselbst fast nach dem Schwitzbade, aus dem man eben gekommen, und der Kaffee beruhigte einen Augenblick die Gäste. Außer {{Fage¬rolles}} wurde niemand mehr erwartet. Es war ein sehr verschlossener Salon; das Ehepaar Sandoz versammelte daselbst keine literarischen Gäste, suchte nicht die Presse durch Einladungen zu ködern. Die Frau wollte keine Gesellschaft; der Gatte sagte oft lachend, sie brauche zehn Jahre, um jemanden liebzugewinnen, dann liebe sie ihn immer. War das nicht das unerreichbar scheinende Glück? Einige zuverlässige Freundschaften, ein trauliches Familiennest. Es wurde daselbst niemals Musik gemacht, niemals Literatur getrieben. In der dumpfen Gereiztheit, die an jenem Donnerstag herrschte, schien der Abend lang. Die Damen hatten vor dem erlöschenden Kaminfeuer eine Unterhaltung angeknüpft, als der Diener, nachdem er den Tisch abgeräumt, die Tür zum Eßzimmer wieder öffnete, blieben sie allein, weil die Männer hinübergingen, um zu rauchen und Bier zu trinken. Sandoz und Claude, die nicht rauchten, kamen bald wieder zurück und nahmen Seite an Seite auf einem Sofa neben der Tür Platz. Glücklich darüber, seinen alten Freund angeregt und gesprächig zu sehen, erinnerte ihn Sandoz an Plassans. Anlaß dazu bot eine gestern vernommene Nachricht: {{Pouillaud}}, der ehemalige Spaßvogel im Schlafsaale der Schule, der ein so ernster Advokat geworden, hatte Verdrießlichkeiten, weil man ihn mit kleinen Gassenmädchen von zwölf Jahren erwischt hatte. Dieser Teufelskerl {{Pouillaud}}! Aber Claude antwortete nicht; er hatte im Speisezimmer seinen Namen nennen hören und spitzte die Ohren, um zu verstehen. Jory, {{Mahou¬deau}} und {{Gagnière}} hatten ungesättigt mit langen Zähnen den Streit wieder aufgenommen. Ihre zuerst flüsternden Stimmen waren allmählich lauter geworden, und zuletzt schrien sie. »Ich überlasse euch den Mann, er taugt nicht viel«, sagte Jory, von {{Fage¬rolles}} sprechend. »Er hat euch alle plattgedrückt, indem er mit euch brach und auf eurem Rücken sich einen Erfolg aufbaute. Ihr wäret aber auch wenig schlau!« {{Mahou¬deau}} erwiderte wütend: »Meiner Treu! Es genügte, mit Claude zu sein, um überall vor die Tür gesetzt zu werden.« »Ja, Claude hat uns umgebracht«, bekräftigte {{Gagnière}} rundheraus. Sie[[1]] fuhren fort, ließen {{Fage¬rolles}} fallen, dem sie seine Kriecherei vor den Zeitungen, seine Verbindung mit ihren Feinden, seine Schöntuerei vor alten Baroninnen vorwarfen, und hieben fortan auf Claude los, der der große Sünder geworden. Mein Gott! der andere war einfach eine Dirne, wie es unter den Künstlern so viele gibt, die das Publikum an den Straßenecken anhalten, die Kameraden verlassen und zerreißen, um die Spießbürger an sich zu locken. Aber Claude, dieser verfehlte große Maler, dieser Unvermögende, der trotz seines Stolzes nicht fähig war, eine Figur auf die Beine zu stellen, hatte sie bloßgestellt, ordentlich eingetunkt. Ach ja, im Bruche mit Claude lag der Erfolg. Hätten sie von neuem beginnen können, sie würden sich nicht eigensinnig mit unmöglichen Geschichten aufgehalten haben! Sie[[1]] beschuldigten ihn, sie lahmgelegt und ausgebeutet, jawohl ausgebeutet zu haben, und dies mit einer so ungeschickten, schwerfälligen Hand, daß er selbst keinen Vorteil davon hatte. »Hat er mich nicht einen Augenblick ganz blöd gemacht?« hub {{Mahou¬deau}} wieder an. »Wenn ich daran denke, greife ich mir an den Puls und verstehe nicht, weshalb ich mich an ihn hängte. Gleiche ich ihm denn? Gab es etwas Gemeinsames zwischen uns? Es ist zum Verzweifeln, wenn man dessen so spät inne wird!« »Mir«, fuhr {{Gagnière}} fort, »hat er meine[[Besitz]] Eigenart gestohlen! Glaubt ihr, es mache mir Vergnügen, seit fünfzehn Jahren bei jedem meiner Bilder hinter meinem Rücken wiederholen zu hören: Das ist ein Claude! ... Nein, ich bin dessen satt und will lieber nichts mehr machen! ... Hätte ich ehemals klar gesehen, ich hätte seine Gesellschaft gemieden.« &&x Es war die allgemeine Flucht, das Zerreißen der letzten Bande in der Verblüffung darüber, nach einer langen, in Brüderlichkeit vollbrachten Jugend plötzlich fremd und feindselig einander gegenüberzustehen. Auf dem Lebenswege waren sie zerstreut worden, die tiefgehenden Verschiedenheiten kamen zum Vorschein; sie behielten nichts in der Kehle als die Bitternis ihres ehemaligen begeisterten Traumes, die Hoffnung, zusammen zu kämpfen und zu siegen, die jetzt ihren Groll nur noch verschärfte. »Tatsache ist,« höhnte Jory, »daß sich {{Fage¬rolles}} nicht plündern ließ wie ein Einfaltspinsel.« Doch {{Mahou¬deau}} war dadurch verletzt. »Du tust unrecht zu lachen, denn du bist gerade so ein falscher Freund ... Ja, du sagtest uns immer, daß du uns unterstützen würdest, wenn du erst ein eigenes Blatt hättest. »Erlaube ...« Doch {{Gagnière}} kam {{Mahou¬deau}} zu Hilfe. »Es ist wahr! Du kannst uns jetzt nicht mehr erzählen, daß man dir wegstreicht, was du über uns schreibst; du bist ja der Herr ... Aber ein Wort; in deinem letzten Ausstellungsberichte hast du uns nicht einmal erwähnt.« Jory stammelte verlegen und ereiferte sich auch seinerseits. »Das ist die Schuld dieses {{Claudel}} ... Ich habe keine Lust, meine[[Besitz]] Abonnenten zu verlieren, bloß um euch angenehm zu sein. Ihr seid unmöglich, versteht ihr? Du, {{Mahou¬deau}}, kannst dich aufreiben, kleine reizende Sachen zu bilden; dir, {{Gagnière}}, nützt es nicht, wenn du fortan nichts mehr machst: Ihr habt einen Zettel auf dem Rücken, und es bedarf zehn Jahre Anstrengung, um ihn fortzubringen – wenn es euch überhaupt gelingt. Das Publikum lacht, damit ihr's nur wißt; ihr allein glaubtet an das Genie dieses lächerlichen Narren, den man über kurz oder lang sicher ins Irrenhaus stecken wird.« Jetzt ward der Streit furchtbar; alle drei redeten zugleich, erhoben abscheuliche Vorwürfe mit so wütenden Stimmen, wobei sie den Mund so weit aufrissen, als wollten sie einander verschlingen. Sandoz auf seinem Sofa mußte, gestört in den frohen Erinnerungen, die er erweckt, bei dem Lärm, der durch die offene Tür hereindrang, selbst aufhorchen. »Du hörst es, wie sie mich zurichten«, sagte Claude leise mit schmerzlichem Lächeln. »Nein, nein, bleibe da; ich will nicht, daß du sie zum Schweigen bringst. Ich habe es verdient, da ich keinen Erfolg habe.« Erbleichend fuhr Sandoz fort, diesen wütenden Kampf um das Leben mit anzuhören, diesen Groll der aneinander geratenen Persönlichkeiten, der seinen Traum von ewiger Freundschaft hinwegführte. Glücklicherweise war Henriette wegen der lauten Stimmen unruhig geworden. Sie[[1]] erhob sich und machte den Tabak rauchenden Herren Vorwürfe, weil sie die Damen im Stiche ließen, um miteinander zu zanken. Alle kehrten in den Salon zurück, schwitzend, keuchend, noch völlig erschüttert von ihrer Wut. Als die Hausfrau mit einem Blick auf die Uhr bemerkte, {{Fage¬rolles}} werde heut' wohl kaum mehr kommen, begannen sie von neuem zu lächeln und Blicke auszutauschen. Der hatte eine gute Nase; den werde man nicht mit alten Freunden sehen, die ihm unbequem geworden, und die er verabscheute. In der Tat kam {{Fage¬rolles}} nicht. Der Abend verfloß in sehr peinlicher Stimmung. Man war in das Eßzimmer zurückgekehrt, wo Tee[[2]] bereit stand auf einem russischen Tafeltuche, das in roter Stickerei eine Hirschjagd zeigte. Die Kerzen waren wieder angezündet, und man sah auf dem Tische einen Kuchen, Zuckerwerk, kleines Gebäck, eine Anzahl Liköre, Whisky, Wachholder, Kümmel, Raki. Der Diener brachte noch Punsch und ordnete eifrig den Tisch, während die Hausfrau am dampfenden Samowar die Teekanne füllte. Allein, dieses Wohlbehagen, diese Augenweide, der feine Duft des Tees: sie vermochten die Herzen nicht mehr zu beruhigen. Das Gespräch drehte sich wieder um den Erfolg der einen und das Mißgeschick der anderen. Diese Medaillen, diese Kreuze, alle diese Belohnungen, die die Kunst entehrten, weil sie an die unrechten Leute verteilt wurden – waren sie nicht eine Schande? Sollten sie denn ewig Schulknaben bleiben? Alle Plattheiten kamen daher, von diesem Gehorsam und dieser Feigheit vor den Aufsehern, um gut angeschrieben zu werden. &&x Als sie wieder in den Salon zurückgekehrt waren und der trostlose Sandoz nichts sehnlicher wünschte, als seine Gäste aufbrechen zu sehen, bemerkte er Mathilde und {{Gagnière}} beisammen auf einem Sofa sitzen und mit schmachtenden Mienen über Musik sprechen inmitten der anderen, die erschöpft, mit trockenen Lippen dasaßen. {{Gagnière}} war begeistert, philosophierte und erging sich in poetischer Schwärmerei. Mathilde, diese alte, feist gewordene Schlampe, die einen verdächtigen Apothekengeruch verbreitete, verdrehte die Augen und verging schier wie unter dem Gekitzel eines unsichtbaren Flügels. Sie[[1]] hatten sich am letzten Sonntag im Konzert gesehen und teilten sich nun ihre genußreichen Eindrücke in abwechselnden, flüchtig hingehauchten Redensarten mit. »Ach, mein Herr, dieser Meyerbeer! Diese Ouvertüre zu &&c=8 Struensee {{[Struensee]}}, &&c=0 dieser Totentanz, dann der fröhliche, farbenreiche Tanz der Bauern und abermals der Totensatz, das Dur der Violoncellen! ... Ach, mein Herr, die Violoncellen ...« »Und Berlioz, Gnädigste, der Festgesang aus &&c=8 Romeo &&c=0 ... Ach, das Solo der Klarinetten, der ›geliebten Frauen‹, mit der Harfenbegleitung! Ein Entzücken, ein weißer Schimmer, der emporsteigt ... Das Fest erstrahlt, ein Bild von {{Veronese}}, die geräuschvolle Pracht der Hochzeit zu Kana; und der Liebesgesang beginnt von neuem, so lieblich, und lauter, immer lauter ...« »Und haben Sie[[1]], mein Herr, in Beethovens A-Moll-Symphonie das Totenläuten gehört, das immer wiederkehrt und einem gleichsam ans Herz pocht? ... Ja, ich sehe es wohl, Sie[[1]] fühlen wie ich: die Musik ist eine Kommunion ... Beethoven! Mein Gott, wie traurig und wie schön ist es, wenn in dem Verständnis seiner Musik zwei sich vereinigen und in Wonne schier vergehen ...« »Und Schumann, Gnädigste; und Wagner ... Die Träumerei von Schumann, nichts als die Saiteninstrumente, ein feiner, warmer Regen auf Akazienblätter, ein Strahl trocknet sie wieder, kaum eine Träne im unendlichen Räume ... Wagner, ach, Wagner! Die Ouvertüre zum »Fliegenden Holländer«! Sie[[1]] lieben sie; sagen Sie[[1]], daß Sie[[1]] sie lieben! Mich schmettert es nieder. Es gibt nichts mehr, nichts mehr; man stirbt daran ...« Ihre Stimmen erstarben; sie sahen einander an, saßen Ellbogen an Ellbogen wie im Nichts aufgegangen, das wonnetrunkene Gesicht nach oben gekehrt. Sandoz fragte sich überrascht, woher Mathilde dieses Kauderwelsch genommen. Vielleicht aus einem Artikel Jorys. Er hatte übrigens die Bemerkung gemacht, daß die Frauen sehr gut über Musik zu sprechen wissen, selbst wenn sie nicht eine Note kennen. Und er, den die Mißstimmung der anderen nur betrübt hatte, war entrüstet wegen dieser schmachtenden Miene. Nein, nein, es war genug; daß sie sich gegenseitig zerfleischten, mochte noch hingehen, aber diese alte Metze, die sich mit Beethoven und Schumann kitzelte und girrte, verdarb ihm den Rest des Abends. Glücklicherweise erhob sich {{Gagnière}} plötzlich. Seine Begeisterung ließ ihn die Abfahrtsstunde nicht vergessen; er wußte, daß er knapp noch Zeit habe, den Nachtzug zu erreichen. Nachdem er stumme, weiche Händedrücke ausgeteilt, fuhr er nach {{Melun}} schlafen. »Welch ein Verfehlter!« brummte {{Mahou¬deau}}. »Die Musik hat die Malerei totgeschlagen. Nie mehr wird er etwas machen.« Auch er mußte fort, und kaum hatte die Tür sich hinter ihm geschlossen, als Jory erklärte: »Haben Sie[[1]] seinen letzten Briefbeschwerer gesehen? Er wird schließlich noch Manschettenknöpfe schnitzen ... Das ist einer, der hart an der Mache vorübergegangen!« Doch schon hatte Mathilde sich erhoben, grüßte Christine mit einer kurzen, trockenen Gebärde, heuchelte eine vornehme Vertraulichkeit gegenüber Henriette und führte ihren Gatten hinweg, der sie im Vorzimmer in ihren Mantel hüllte, untertänig und erschreckt durch die strengen Augen, mit denen sie ihn ansah, weil sie eine Rechnung mit ihm zu ordnen hatte. Als sie fort waren, rief Sandoz außer sich: »Das ist das Ende! Unglücklicherweise ist es der Journalist, der die anderen als verfehlte Leute behandelt, dieser Artikelschreiber, der die öffentliche Dummheit ausbeutet! ... Mathilde als Vergelterin!« Es waren nur mehr Claude und Christine da. Seitdem der Salon sich leerte, saß Claude in einem Lehnsessel zurückgesunken und sprach nicht mehr; ihn hatte jener magnetische Schlummer wieder ergriffen, der ihn erstarrte, die Augen blickten stier in nebelhafte Ferne jenseits der Mauern. Sein Antlitz spannte sich, eine krampfhafte Aufmerksamkeit riß es vorwärts: er sah sicherlich das Unsichtbare, er hörte aus der Stille einen Ruf. Christine hatte sich ebenfalls erhoben und entschuldigte sich, daß sie als die letzten gingen. Henriette hatte ihre Hände ergriffen und wiederholte ihr, wie sehr sie sie liebe; sie bat sie, oft zu kommen, sie als ihre Schwester zu betrachten. Die betrübte Frau mit dem schmerzlichen Reiz in ihrem schwarzen Kleide schüttelte nur mit einem matten Lächeln den Kopf. »Sie[[1]] müssen nicht so verzweifelt sein«, flüsterte ihr Sandoz ins Ohr, nachdem er einen Blick auf Claude geworfen ... Er hat viel gesprochen und war heute heiterer. Es geht ganz gut.« Doch sie erwiderte im Tone des Schreckens: »Nein, nein, schauen Sie[[1]] seine Augen ... Solange er solche Augen hat, zittere ich ... Sie[[1]] haben getan, was Sie[[1]] konnten; ich danke Ihnen. Was Sie[[1]] nicht tun konnten, wird niemand zu tun vermögen. Wie leide ich dadurch, daß ich nicht mehr zähle, nichts mehr vermag!« Dann sagte sie laut: »Claude, kommst du?« Zweimal mußte sie diese Aufforderung wiederholen. Er hörte sie nicht; schließlich fuhr er zusammen, stand auf und sagte, gleichsam auf einen aus weiter Ferne kommenden Ruf antwortend: »Ja, ich komme, ich komme.« &&x Als Sandoz und seine Frau sich in dem Salon mit der erstickenden, überhitzten, nach dem häßlichen Gezänk gleichsam in der trüben Stille schwerer gewordenen Luft endlich allein befanden, sahen sich beide an und ließen die Arme sinken in ihrem Kummer über den unglückselig verfehlten Abend. Die Gattin suchte indes die Sache ins Heitere zu ziehen und erklärte lächelnd: »Ich habe dich gewarnt; ich hatte die Lage wohl begriffen ...« Doch er unterbrach sie abermals mit einer verzweifelten Gebärde. Ei was! Sollte dies das Ende seines langen Wahnes sein, dieses Traumes von der Ewigkeit, der ihn das Glück in einigen Freundschaften suchen ließ, die er in der Kindheit erkoren hatte und bis in das späteste Alter genießen wollte. Die traurige Schar! Welch ein tiefgehender Bruch, welche bedauerliche Bilanz nach diesem Herzens-Bankrott! Er war erstaunt, längs seines Lebensweges so viele Freunde verstreut, so viele Zuneigung verloren zu haben; er war erstaunt über die ewige Veränderung der anderen rings um sein Wesen, das er sich nicht ändern sah. Seine armen Donnerstagempfänge erfüllten ihn mit Erbarmen: so viele trauernde Erinnerungen! Ein langsames Hinsterben all dessen, was man geliebt hat! Sollten sie – er und seine Frau – sich entschließen müssen, in der Wüste zu leben, eingemauert in ihrem Hasse gegen die Welt? Sollten sie ihre Tür der Flut der Unbekannten und Gleichgültigen öffnen? Allmählich bildete sich eine Gewißheit auf dem Grunde seines Kummers: Alles endete im Leben, ohne wiederzubeginnen. Er schien sich dieser offenkundigen Wahrheit zu fügen und sagte mit einem tiefen Seufzer: »Du hattest recht ... Wir werden sie nicht mehr zusammen zum Essen einladen; sie würden einander verschlingen.« Draußen auf dem Dreifaltigkeitsplatze ließ Claude den Arm Christines fahren. Er habe einen Gang zu machen, sagte er, und sie möge allein nach Hause gehen. Sie[[1]] fühlte ihn am ganzen Körper zusammenschauern und ward von Überraschung und Schrecken erfaßt. Einen Gang zu dieser Stunde nach Mitternacht! Wohin? Wozu? Er wandte ihr den Rücken und wollte davoneilen; doch sie holte ihn ein und bat ihn, indem sie Furcht vorschützte, sie nicht allein in so später Nacht zum Montmartre hinaufsteigen zu lassen. Diese Erwägung allein schien ihn zurückzuführen. Er nahm ihren Arm wieder, sie stiegen die Weiße Straße und die {{Lepic}}-Straße hinan und erreichten endlich die {{Tour¬laque}}-Straße. Hier, vor ihrer Haustür, verließ er sie wieder, nachdem er angeläutet. »Du bist jetzt zu Hause; ich will meinen[[Besitz]] Gang machen.« Schon eilte er mit langen Schritten davon, gestikulierend wie ein Verrückter. Die Tür hatte sich geöffnet; aber sie schloß sie nicht wieder, sondern stürzte ihm nach, um ihm zu folgen. In der {{Lepic}}-Straße holte sie ihn ein; allein in ihrer Furcht, ihn noch mehr aufzuregen, begnügte sie sich, ihn fortan nicht aus den Augen zu lassen, ging etwa dreißig Meter hinter ihm, ohne daß er wußte, daß sie ihm auf den Fersen folge. Aus der {{Lepic}}-Straße stieg er die Weiße Straße wieder hinab, dann durcheilte er die Chaussee nach {{Antin}} und die Straße des vierten September, bis zur Richelieustraße. Als sie ihn in die letztere einbiegen sah, ward sie von tödlicher Kälte erfaßt: er ging zur {{Seine}}. Dies war die furchtbare Angst, die sie nachts keinen Schlaf finden ließ. Mein Gott, was sollte sie machen? Sollte sie mit ihm gehen und sich dort unten an seinen Hals hängen? Sie[[1]] kam nur mehr wankend vorwärts und fühlte bei jedem Schritte, der sie dem Flusse näher brachte, immer mehr das Leben aus ihren Gliedern schwinden. Ja, er begab sich geradesweges dorthin über den Theaterplatz und Karusselplatz zur Brücke der heiligen Väter. Auf dieser ging er eine Weile fort, dann näherte er sich dem Geländer und beugte sich über das Wasser; sie glaubte, er wolle sich hinabstürzen, und ein furchtbarer Schrei erstickte in ihrer gepreßten Brust. Doch nein, er blieb unbeweglich stehen. War es denn nicht die Altstadt dort gegenüber, die ihn in ihrem Banne erhielt, dieses Herz von Paris, dessen Zauber er überallhin mit sich nahm, das er mit seinen starren Augen selbst durch die Mauern suchte, das ihm selbst in meilenweiter Entfernung seinen Ruf zusandte, für ihn allein hörbar? Sie[[1]] wagte es noch nicht zu hoffen; sie war weiter hinten stehen geblieben, überwachte ihn in furchtbarer Unruhe; jeden Augenblick glaubte sie seinen furchtbaren Sprung zu sehen, widerstand aber dem Bedürfnis, sich zu nähern, weil sie die Katastrophe zu beschleunigen fürchtete, wenn sie sich zeigte. Mein Gott! da zu sein mit ihrer zerstörten Liebe, mit ihrer blutenden mütterlichen Zärtlichkeit; da zu sein, alles mitanzusehen, ohne eine Bewegung wagen zu dürfen, um ihn zurückzuhalten! Er stand noch immer auf der Brücke, sehr groß, unbeweglich, in die Nacht hinausstarrend. &&x Es war eine Winternacht mit trübem, rußschwarzem Himmel; vom Westen her blies ein eisig kalter Wind. Das beleuchtete Paris war zur Ruhe gegangen; es brannten in den Straßen nur noch die Gaslaternen, runde, flimmernde Flecke, die immer kleiner wurden, um sich in der Ferne zu fixen Sternen zu zerstäuben. Zunächst dehnten sich die Ufer dahin, mit ihrer Doppelreihe von leuchtenden Perlen, deren Widerschein die im Vordergrunde stehenden Häuser beleuchtete, links die des Louvre-Ufers, rechts zwei Flügel des Instituts, verschwommene Massen von Denkmälern und Bauten, die sich dann in noch dichterer, von fernen Pünktchen durchbrochenen Finsternis verloren. Diese schier endlosen Zeilen waren durch die hellen Gerippe der Brücken verbunden, je ferner, desto dünner, jede einen Zug von Lichtern bildend, Gruppe auf Gruppe, gleichsam in der Luft schwebend. Vorn in der {{Seine}} erstrahlte der nächtliche Glanz des im Bereiche der Städte lebendigen Stromes; jede Gaslaterne spiegelte ihre Flamme wieder: ein Kern, der sich in einem Kometenschweif verlängerte. Die nächsten schwammen ineinander und entzündeten den Fluß in breiten, regelmäßigen Lichtfächern; die entfernteren unter den Brücken waren nur kleine, unbewegliche Feuerpunkte. Die langen Lichtschweife aber lebten und bewegten sich in dem Maße, wie sie sich ausbreiteten, schwarz und golden, in einem fortwährenden schuppenartigen Zittern, das den unendlichen Fluß des Wassers verriet. Die ganze {{Seine}} war davon erhellt wie von einem geheimnisvollen, tief unter dem Wasser gefeierten Feste, bei dem die tanzenden Paare sich hinter den rötlich schimmernden Fenstern des Flusses im Walzer drehten. Oberhalb dieses Brandes und oberhalb der gestirnten Ufer zog am sternenlosen Himmel ein rotes Gewölk dahin, die heiße, phosphoreszierende Aushauchung, die jede Nacht – wie der Kamm eines Vulkans – über der schlafenden Stadt schwebt. Der Wind blies scharf, und Christine fröstelte; ihre Augen füllten sich mit Tränen; sie hatte das Gefühl, als drehe sich die Brücke unter ihren Füßen und reiße sie in einem Zusammenbruch des ganzen Horizontes mit sich. Hatte Claude sich nicht bewegt? Hatte er nicht einen Fuß über das Geländer gesetzt? Nein; alles ward immer wieder unbeweglich, sie fand ihn auf dem nämlichen Platze in seiner dauernden Starrheit, die Augen auf die Spitze der Altstadt gerichtet, die er doch nicht sehen konnte. Er war gekommen, gerufen von »ihr«, und sah sie nicht in der Tiefe der Finsternis. Er sah nur die Brücken, ihr feines Gerippe, das sich schwarz über dem schillernden Wasser abhob. Darüber hinaus verschwamm alles, die Insel versank im Nichts; er würde nicht einmal ihre Stelle wiedergefunden haben, wenn nicht von Zeit zu Zeit verspätete Droschken die Fünkchen ihrer Laternen im Fluge über die Neue Brücke geführt hätten, den Funken gleichend, die noch über die erlöschende Kohle huschen. Eine rote Laterne am Schlagbaum bei der Münze warf einen blutigen Strich in das Wasser. Irgendein ungeheuerliches, schwarzes Ding, ein im Strome treibender Körper, ohne Zweifel ein vom Anker losgelöster Kahn, schwamm langsam inmitten der Lichtreflexe hinab, zuweilen auftauchend und gleich wieder im Dunkel verschwindend. Wo war denn die siegesstolze Insel untergegangen? War's in der Tiefe dieser flammenden Fluten? Er schaute noch immer, allmählich völlig gefangengenommen von dem mächtigen Dahinströmen des Flusses in der Nacht. Er neigte sich über diesen breiten Graben, aus dem die Kühle eines Abgrundes aufstieg, und wo diese Flammen geheimnisvoll tanzten. Christine fühlte an einem Ruck ihres Herzens, daß er jetzt den furchtbaren Gedanken hatte. Sie[[1]] streckte die bebenden Hände aus, die der Nachtwind peitschte. Allein Claude war stehen geblieben; er kämpfte gegen die Süßigkeit des Sterbens; so stand er noch eine Stunde unbeweglich, ohne Bewußtsein von der Zeit, die Blicke immer nach der Altstadt gerichtet, als ob durch ein Wunder seine Augen Helle verbreiten und ihr Bild heraufzaubern könnten, um sie wiederzusehen. Als Claude endlich strauchelnd die Brücke verließ, mußte Christine ihm laufend vorauseilen, um vor ihm zu Hause zu sein. &&x &&ns &&am &&g="Zwölftes_Kapitel." &&fa Zwölftes Kapitel. &&fe &&ax &&lg=x In jener Nacht, da der schneidende Novemberwind durch ihre Stube und das geräumige Atelier blies, war es bald drei Uhr, als sie zu Bett gingen. Noch keuchend von ihrem Laufe war Christine rasch unter die Bettdecke geschlüpft, um zu verheimlichen, daß sie ihm gefolgt war; Claude hatte in tiefer Niedergeschlagenheit, ohne ein Wort zu sprechen, seine Kleider – eines nach dem andern – abgelegt. Ihr Lager blieb seit Monaten schon eisig kalt; sie streckten sich wie Freunde nebeneinander aus, nachdem die Bande des Fleisches zwischen ihnen sich langsam gelöst hatten; es war eine freiwillige Enthaltsamkeit, eine Keuschheit, zu der er endlich gelangen mußte, um seiner Malerei seine ganze Mannhaftigkeit zu widmen, und der sie sich in stolzem und stummem Schmerze gefügt hatte trotz der Marter ihrer Liebe. Aber noch niemals vor dieser Nacht hatte sie zwischen sich ein solches Hindernis gefühlt, eine solche Kälte, als könne fortan nichts mehr sie erwärmen und einander in die Arme führen. Fast eine Viertelstunde kämpfte sie gegen den überwältigenden Schlaf. Sie[[1]] war sehr müde, eine Erstarrung nahm sie gefangen; aber sie gab nicht nach in ihrer Angst, ihn wach zu lassen. Um selbst ruhig schlafen zu können, wartete sie jeden Abend, bis er vor ihr eingeschlafen war. Allein er hatte die Kerze nicht ausgelöscht und lag mit offenen Augen da; auf die Flamme starrend, die ihn blendete. An was dachte er denn? War er dort unten geblieben in der finsteren Nacht, in dem feuchten Hauch der Ufer, angesichts von Paris, das mit seinen Gaslichtern gestirnt war wie ein Winterhimmel? Welcher innere Kampf, welche Unschlüssigkeit verzerrte sein Gesicht? Dann ward sie von großer Müdigkeit überwältigt und schlief ein. Eine Stunde später fuhr sie plötzlich erschauernd auf; das Gefühl einer Leere, die Beklemmung eines Mißbehagens hatte sie erweckt. Sogleich tastete sie mit der Hand nach dem schon kalten Platze neben ihr; er war nicht mehr da, sie hatte es im Schlafe gefühlt. Sie[[1]] erschrak halb wach mit schwerem, summendem Kopfe, als sie durch die halb offene Tür des Zimmers einen Lichtstreif sah, der aus dem Atelier kam. Sie[[1]] beruhigte sich; sie dachte, er sei ein Buch holen gegangen, weil er nicht schlafen könne. Als er nicht zurückkam, erhob sie sich leise, um zu schauen. Doch was sie sah, versetzte sie in eine solche Bestürzung, daß sie barfüßig wie festgewurzelt dastand und sich nicht zu zeigen wagte. Claude, der trotz der rauhen Kälte in bloßen Hemdärmeln war und in seiner Hast[[beeilen]] nur Hosen und Pantoffeln angezogen hatte, stand auf der großen Leiter vor seinem Bilde. Die Palette lag zu seinen Füßen; mit der einen Hand hielt er die Kerze, mit der andern Hand malte er. Er hatte die weit offenen Augen eines Mondsüchtigen, genaue, steife Bewegungen; er bückte sich jeden Augenblick, um Farbe zu nehmen, und wenn er sich wieder aufrichtete, warf er einen großen, phantastischen Schatten mit den eckigen Bewegungen eines Automaten an die Mauer. Kein Hauch war zu vernehmen; nichts weiter war in dem riesigen, finsteren, erschreckend stillen Raume. Christine begriff und schauerte zusammen. Es war der Bann, die unten auf der Brücke verbrachte Stunde, was ihn nicht schlafen ließ und vor seine Leinwand trieb, von dem Bedürfnis verzehrt, sie trotz der Nacht wiederzusehen. Ohne Zweifel war er nur auf die Leiter gestiegen, um aus größerer Nähe zu sehen. Dann hatte er – verletzt durch irgendeinen falschen Ton, unwillig über diesen Fleck, daß er den Morgen nicht erwarten konnte – einen Pinsel ergriffen, anfänglich wohl nur, um darüber hinzufahren, nachher allmählich von Verbesserung zu Verbesserung getrieben und endlich malend wie ein Nachtwandler mit der Kerze in der Faust in diesem fahlen Lichte, das seine Bewegungen hin und her schwanken ließen. Seine ohnmächtige Schaffensgier hatte ihn wieder ergriffen; er erschöpfte sich und vergaß darüber die Stunde und die ganze Welt; er wollte seinem Werke sogleich sein Leben einflößen. Welch ein Jammer! mit welch tränenschweren Augen betrachtete sie ihn! Einen Augenblick dachte sie daran, ihn bei dieser tollen Arbeit zu lassen, wie man einen wahnsinnigen Menschen der Auswirkung seiner Tollheit überläßt. Er würde dieses Bild niemals beendigen, das war jetzt sicher. Je mehr er sich ereiferte, desto mehr wuchs die Zerfahrenheit; es war ein Wirrsal von schweren Tönen, eine Schwerfälligkeit und Gezwungenheit in der Zeichnung. Selbst der Hintergrund, besonders die Gruppe der Schiffsauslader, ehemals so sicher gemalt, wurde immer schlechter; er setzte sich beharrlich fest und wollte alles fertig machen, ehe er die Hauptfigur neu malte, die nackte Frau, welche die Furcht und die Begierde seiner Arbeitsstunden blieb, der berauschende Leib, der ihn vernichten sollte an dem Tage, wo er sich abermals anstrengen würde, sie lebendig zu gestalten. Seit Monaten hatte er keinen Pinselstrich mehr an ihr gemalt, und das hatte Christine beruhigt, hatte sie in ihrem eifersüchtigen Groll duldsam und mitleidig gemacht; solange er nicht zu dieser begehrten und gefürchteten Geliebten zurückkehrte, glaubte sie sich weniger verraten. &&x Mit ihren auf den eiskalten Fliesen schier erstarrten Beinen machte sie eine Bewegung, ihr Bett wieder aufzusuchen, als eine Erschütterung sie wieder umkehren ließ. Sie[[1]] hatte nicht sogleich begriffen, aber endlich sah sie. Mit seinem farbentriefenden Pinsel malte er in großen Strichen runde, kräftige Formen. Es war gleichsam eine wahnwitzige, liebkosende Geste; ein unbewegliches Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen; er fühlte nicht das heiße Wachs der Kerze, das ihm über die Finger hinabfloß, während in der Stille das leidenschaftliche Hin und Wieder seines Armes allein sich an der Wand abzeichnete: es war ein ungeheuerliches, schwarzes Wirrsal, eine Verschlingung von Gliedern in einer ungestümen Begattung. Er arbeitete an der nackten Frauengestalt. Da öffnete Christine die Tür und trat näher. Eine unüberwindliche Empörung, der Zorn einer im eigenen Hause beschimpften, während ihres Schlafes im benachbarten Zimmer betrogenen Frau trieb sie sie vorwärts. Ja, er war mit der andern; malte den Bauch und die Schenkel als wahnwitziger Träumer, den das quälende Forschen nach dem Wahren in die Überspanntheit des Unwirklichen geschleudert hatte. Diese Schenkel vergoldeten sich wie die Säulen eines Heiligtums, dieser Bauch ward ein Gestirn, schimmernd in reinem Gelb und reinem Rot, strahlend und überirdisch. Die seltsame Nacktheit einer Monstranz, an der Edelgestein zu schimmern schien für irgendeine fromme Anbetung, brachte sie vollends außer sich. Sie[[1]] hatte zuviel gelitten und wollte diesen Verrat nicht mehr dulden. Indes bewahrte sie anfänglich nur eine verzweifelte und flehende Haltung wie eine Mutter, die ihren großen, närrischen Künstler auszankt. »Claude, was machst du da? Claude, ist es vernünftig, auf solche Einfälle zu kommen? Ich bitte dich, komm' doch schlafen, bleib' nicht auf der Leiter, wo du dich erkälten wirst.« Er antwortete nicht, bückte sich wieder, um Farbe zu nehmen und zeichnete die Achselhöhlen mit zwei hellroten Streifen. »Claude, höre, komm' mit mir, ich bitte dich ... Du weißt, daß ich dich liebe; du siehst die Unruhe, in die du mich versetzt hast ... Komm', ach komm', wenn du nicht willst, daß ich vor Kälte und Unruhe umkomme.« Seine stieren Augen hatten keinen Blick für sie; während er dem Nabel eine blühende rote Färbung gab, sagte er mit beklommener Stimme: »Laß mich in Ruhe; ich arbeite.« Christine blieb einen Augenblick stumm. Sie[[1]] richtete sich empor, ein düsteres Feuer flammte in ihren Augen auf, eine Empörung schwellte ihr sanftes und liebliches Wesen. Dann brach sie los in dem Grollen einer zum Äußersten getriebenen Sklavin. »Nein, ich lasse dich nicht in Ruhe! Es ist genug, und ich muß dir sagen, was mich erstickt, was mich tötet, seit ich dich kenne ... Diese Malerei! ja, diese Malerei ist die Mörderin, die mein Leben vergiftet hat. Ich hatte es am ersten Tage geahnt; ich fürchtete sie wie ein Ungeheuer, ich fand sie abscheulich, scheußlich; aber ich war feige; ich liebte dich zu sehr, um nicht auch sie zu lieben, ich habe mich allmählich an diese Verbrecherin gewöhnt ... Aber was habe ich später gelitten, wie sehr hat sie mich gemartert! Seit zehn Jahren hatte ich keinen tränenlosen Tag ... Nein, laß mich; mir wird leichter, wenn ich spreche; ich habe die Kraft dazu gefunden ... Zehn Jahre täglicher Verlassenheit, täglicher Kränkung; ich war dir nichts mehr, fühlte mich immer mehr beiseite geworfen, zur Rolle einer Magd erniedrigt: während die andere, die Diebin, sich zwischen dir und mir einnistete, dich in ihren Besitz nahm, triumphierte, mich beschimpfte. Wagst du zu behaupten, daß sie dich nicht vollständig in ihre Gewalt gebracht habe, Glied um Glied, das Gehirn, das Herz, das Fleisch, alles? Sie[[1]] hält dich fest wie ein Laster, sie frißt dich auf. Kurz, sie ist dein Weib, nicht wahr? Nicht ich schlafe bei dir, sondern sie ... Ha, die verdammte Dirne!« Claude hörte sie jetzt an, erstaunt über diesen lauten Schmerzensschrei, noch kaum erwacht aus seinem erbitterten Schaffenstraum, noch nicht recht begreifend, weshalb sie so zu ihm sprach. Angesichts dieser Betroffenheit, dieses Zitterns eines in seinen Ausschweifungen überraschten und gestörten Mannes ward sie noch zorniger; sie stieg die Leiter hinan, riß ihm die Kerze aus der Hand und fuhr damit vor dem Bilde hin und her. »So schau doch und sage dir selbst, wohin du damit geraten bist! Es ist abscheulich, es ist jämmerlich und plump; Du mußt es doch schließlich merken! Wie? ist das nicht häßlich, ist das nicht blöd? Du siehst doch daß du nicht kannst, warum noch länger dabei beharren? Das hat keinen Sinn; das empört mich ... Wenn du kein großer Maler sein kannst, bleibt uns noch das Leben. Ach, das Leben, das Leben! ...« Sie[[1]] hatte die Kerze auf die Plattform der Leiter gestellt. Als er wankend hinabgestiegen war, sprang auch sie hinab; nun waren beide unten, er auf die letzte Stufe hingesunken, sie vor ihm hockend und mit aller Kraft seine schlaff herabhängenden Hände pressend. »Hörst du? Es bleibt uns noch das Leben ... Verjage deinen Alpdruck und laß uns leben, zusammen leben! ... Ist es nicht zu dumm, daß wir, die wir niemanden außer uns zweien haben und schon altern, uns so quälen, unser Glück nicht finden können? Die Erde wird uns früh genug bekommen; suchen wir, uns ein wenig zu wärmen, zu leben, uns zu lieben. Erinnere dich an unser Leben in {{Benne¬court}}! ... Höre meinen[[Besitz]] Traum. Ich möchte dich morgen von hier hinwegführen. Wir wollen fort, weit fort von diesem verdammten Paris; wir werden irgendwo einen ruhigen Winkel finden, und du sollst sehen, wie ich dein Leben freundlich gestalten will, wie schön es sein wird, einander in den Armen liegen und alles zu vergessen ... Am Morgen schläft man in seinem großen Bett; dann streift man in der Sonne herum, dann kommt das duftige Frühstück, der Nachmittag mit seiner Trägheit, der Abend, den man vor der Arbeitslampe hinbringt. Keine Qualen durch Wahngebilde und nichts als Lebensfreude! ... Genügt es dir denn nicht, daß ich dich liebe, daß ich dich anbete, daß ich einwillige, deine Magd zu sein, nur für dein Vergnügen da zu sein? Hörst du, ich liebe dich, ich liebe dich; es gibt nichts anderes, das ist genug; ich liebe dich!« &&x Er hatte seine Hände frei gemacht und sagte mit dumpfer Stimme und einer Gebärde der Weigerung: »Nein, das ist nicht genug ... Ich will nicht mit dir gehen; ich will nicht glücklich sein, ich will malen.« »Ich soll den Tod davon haben, nicht wahr? Und du gleichfalls? Es soll uns all unser Blut und alle unsere Tränen kosten! ... Es gibt nichts als die Kunst; das ist der Allmächtige, der zürnende Gott, der uns zerschmettert und den du verehrst. Er kann uns vernichten, er ist der Herr, du wirst ihm Dank sagen.« »Ja, ich gehöre ihm; er soll mit mir tun, was er will ... Ich würde sterben, wenn ich nicht mehr malen könnte; ich will lieber malen und daran sterben ... Übrigens gilt da mein Wille nichts. Das ist so; außerdem gibt es nichts, mag die ganze Welt zugrunde gehen!« In einem neuen Ausbruch ihres Zornes richtete sie sich auf; ihre Stimme wurde hart und heftig. »Aber ich bin lebendig! und jene sind tot, die Weiber, die du liebst ... Sage nicht nein; ich weiß wohl, daß sie deine Geliebten sind, alle diese gemalten Weiber. Noch ehe ich dein war, merkte ich es schon; man mußte nur sehen, mit welcher Hand du ihre Nacktheit liebkostest, mit welchen Augen du sie nachher stundenlang betrachtetest. War das nicht ungesund und blöd, eine solche Begierde bei einem jungen Manne? Für Bilder zu glühen, die Leere eines Wahnes in seine Arme zu schließen! Du warst dich dessen bewußt! Du hieltst es geheim wie eine Sache, die man nicht gestehen will. Dann hat es einen Augenblick den Anschein gehabt, als liebtest du mich. Zu jener Zeit hast du mir diese Torheiten erzählt, deine Liebschaften mit deinen ›Weibchen‹, wie du sie – gleichsam über dich selbst scherzend – genannt hast. Erinnerst du dich? Wenn du mich in deinen Armen hieltst, hattest du nur Mitleid für die Schatten ... Aber das hat nicht lange gedauert, du bist schnell zu ihnen zurückgekehrt wie ein Narr zu seiner Tollheit. Ich, die ich lebte, war nicht mehr; sie, die Wahngesichte, wurden die einzigen Wirklichkeiten deines Lebens ... Was ich damals litt, hast du nie erfahren, denn du kennst uns alle nicht; ich habe an deiner Seite gelebt, ohne daß du mich begreifen konntest. Ja, ich war eifersüchtig auf jene. Wenn ich dir nackt Modell stand, hat ein einziger Gedanke mir den Mut dazu gegeben: ich wollte kämpfen, ich hoffte dich wiederzuerlangen; aber nichts, nicht einmal ein Kuß auf die Schulter, ehe ich mich wieder ankleidete. Mein Gott! wie sehr schämte ich mich oft; welchen Kummer mußte ich hinunterschlucken, wenn ich mich so mißachtet und verraten fühlte ... Seit jener Zeit ist deine Mißachtung stetig gewachsen, und du siehst, wohin es mit uns gekommen ist: wir liegen Seite an Seite, ohne uns mit dem Finger zu berühren. Es sind acht Monate und sieben Tage – ja, ich habe sie gezählt – seit wir nichts miteinander gemein hatten.« Sie[[1]] fuhr in kühner Offenheit fort, sie, die keusche Sinnliche, so glühend in der Liebe, die Lippen vom Schreien geschwellt, und so feinfühlig nachher, so stumm über diese Dinge, daß sie davon nicht sprechen wollte und verwirrt lächelnd den Kopf abwandte. Allein das Verlangen regte sie auf; diese Enthaltsamkeit war ein Schimpf. Ihre Eifersucht irrte sich nicht, beschuldigte noch immer die Malerei, denn diese Männlichkeit, die er ihr verweigerte, gab er der bevorzugten Nebenbuhlerin. Sie[[1]] wußte wohl, weshalb er sie so vernachlässigte. Anfänglich geschah es oft, daß, wenn er für den nächsten Tag viele Arbeit vorhatte und sie beim Schlafengehen sich an ihn schmiegte, er sich weigerte und vorgab, es ermüde ihn zu sehr und er könne, aus ihren Armen kommend, drei Tage lang nichts Rechtes schaffen. So war nach und nach der Bruch entstanden; zuerst verging eine Woche, während der ein Bild beendet werden mußte; dann verging ein Monat mit der Vorbereitung eines neuen Gemäldes; dann kamen ein neuer Aufschub, Gelegenheiten wurden versäumt, man entwöhnte sich der Sache und vergaß sie schließlich ganz. Auf dem Grunde dieses seines Benehmens fand sie den in ihrer Gegenwart hundertmal wiederholten Gedanken: das Genie muß keusch sein und darf nur mit seinem Werke schlafen. »Du stößt mich zurück,« schloß sie heftig, »du ziehst dich nachts von mir zurück, als ob ich dich anwiderte, du gehst anderswohin, um was zu lieben? ein Nichts, einen Schein, ein wenig Staub, Farbe auf Leinwand! ... Aber schau sie doch noch einmal an, dein Weib da oben! schau, welches Ungeheuer du in deiner Narrheit aus ihr gemacht hast! Ist man so geschaffen? hat man goldene Schenkel und Blumen unter dem Bauche? Erwache doch, öffne die Augen, kehre ins Leben zurück!« &&x Der gebieterischen Bewegung gehorchend, mit der sie nach dem Gemälde zeigte, hatte Claude sich erhoben und schaute. Die oben auf der Plattform gebliebene Kerze beleuchtete wie ein Wachslicht die weibliche Hauptfigur, während der ungeheure Raum in Finsternis getaucht blieb. Er erwachte endlich aus seinem Traum, und wie er die Frauengestalt von unten, einige Schritte zurückweichend, betrachtete, erfüllte sie ihn mit Bestürzung. Wer hatte dieses Götzenbild einer unbekannten Religion gemalt? wer hatte sie gemacht aus Erz, Marmor und Edelstein, mit der voll erblühten mystischen Rose ihres Geschlechtes zwischen den kostbaren Säulen der Schenkel, unter der heiligen Wölbung des Bauches? War er selbst – ohne es zu wissen – der Urheber dieses Sinnbildes des unersättlichen Verlangens, dieses übermenschlichen Bildes des Fleisches, das in seiner vergeblichen Anstrengung, es lebensvoll zu gestalten, unter seinen Fingern wie aus Gold und Diamanten gebildet? Betroffen, erschreckt stand er vor seinem Werke, zitternd vor diesem Sprung ins Jenseits, sehr wohl begreifend, daß die Wirklichkeit selbst für ihn jetzt nicht mehr möglich sei am Ende seines langen Kampfes, um sie zu überwinden, mit seinen Manneshänden wahrer zu gestalten. »Du siehst! Du siehst!« rief Christine sieghaft aus. Er stammelte sehr leise: »Was habe ich gemacht? Ist es denn unmöglich zu schaffen? Haben unsere Hände nicht die Macht, Wesen hervorzubringen?« Sie[[1]] sah ihn schwach werden und nahm ihn in ihre Arme. »Wozu diese Torheiten? Wozu etwas anderes als mich, die ich dich liebe? ... Du hast mich zum Modell genommen, du wolltest Kopien von meinem Körper. Wozu? Sprich? Sind die Kopien soviel wert als ich selbst? Sie[[1]] sind abscheulich; sie sind steif und kalt wie Leichen ... Ich liebe dich und will dich haben. Ich muß dir alles sagen. Du begreifst nicht, was es bedeutet, wenn ich dich umschleiche, wenn ich mich anbiete, dir Modell zu stehen, wenn ich dicht an deiner Seite bin, daß dein Hauch mich trifft. Es bedeutet, daß ich dich liebe, hörst du? Es bedeutet, daß ich lebe und dich will ...« Stürmisch umschlang sie ihn mit ihren Gliedern, mit ihren nackten Armen, mit ihren nackten Beinen. Ihr halb herabgerissenes Hemd ließ ihre Brust frei, die sie an ihn preßte, die sie in diesem letzten Kampfe ihrer Leidenschaft gleichsam in seinen Leib eindringen lassen wollte. Sie[[1]] war die Leidenschaft selbst, flammend und zügellos, ohne die keusche Zurückhaltung von ehemals, bereit, alles zu sagen und alles zu tun, nur um zu siegen. Ihr Gesicht glühte; die sanften Augen und die klare Stirn verschwanden unter den wirren Haarbüscheln; es war nichts zu sehen als die vorspringenden Kinnladen, das ungestüme Kinn, die roten Lippen. »Nein, laß mich!« murmelte Claude. »Ich bin zu unglücklich!« Sie[[1]] fuhr mit ihrer erregten Stimme fort: »Du hältst mich vielleicht für alt. Ja, du sagtest, daß ich häßlich werde, und ich selbst glaubte es, ich betrachtete mich während des Modellstehens, um Runzeln zu suchen ... Aber es ist nicht wahr! Ich fühle, daß ich nicht gealtert bin, daß ich noch immer jung, noch immer kräftig bin ...« Als er sich noch immer wehrte, rief sie: »So schau doch!« Sie[[1]] war drei Schritte zurückgewichen und zog mit einer einzigen Handbewegung ihr Hemd aus. Sie[[1]] stand jetzt nackt und unbeweglich da in der Stellung, die sie so oft in langen Sitzungen eingenommen hatte. Mit einer bloßen Bewegung des Kinns zeigte sie die weibliche Hauptfigur des Gemäldes. »Du magst vergleichen, ich bin jünger als sie ... Vergebens malst du ihr Edelsteine an die Haut, sie ist welk wie ein trockenes Blatt. Ich aber bin noch immer achtzehn Jahre alt, weil ich dich liebe.« Sie[[1]] strahlte in der Tat von Jugend in dem fahlen Lichte. In dieser heißen Aufwallung der Liebe streckten die Beine sich reizend und fein, die Hüften breiteten ihre seidenweichen Rundungen aus, die feste Brust hob sich, geschwellt vom Blute ihres Verlangens. Schon hatte sie ihn wieder ergriffen und sich fest an ihn gepreßt ohne das hinderliche Hemd; ihre Hände verirrten sich, hasteten an seinen Seiten, an seinen Schultern herum, als suche sie sein Herz in dieser tastenden Liebkosung, in dieser Besitzergreifung, in der sie ihn zu dem Ihren machen zu wollen schien; dabei küßte sie ihn wild mit nimmersatten Lippen auf die Haut, auf den Bart, auf die Ärmel, ins Leere. Ihre Stimme erlosch; sie sprach nur mehr mit einem keuchenden, von Seufzern unterbrochenen Atem. »Komm, laß uns lieben! ... Hast[[Besitz]] du denn kein Blut daß Schatten dir genügen? Komm, du sollst sehen, wie schön das Leben ist ... Hörst du: leben, einander am Halse hängen, ganze Nächte so verbringen, aneinander gepreßt, ineinander verschlungen, und am Morgen wieder anzufangen und abermals und abermals ...« &&x Er zitterte; er erwiderte allmählich ihre Umschlingung in der Furcht, welche die andere, das Götzenbild, ihm eingeflößt hatte; sie verdoppelte ihre verführerischen Anstrengungen, sie erweichte ihn endlich und überwand ihn. »Ich weiß, daß du einen fürchterlichen Gedanken hegst; ja, ich habe niemals gewagt, dir davon zu sprechen, weil man das Unglück nicht herbeiziehen soll; aber ich kann bei Nacht nicht schlafen, du flößest mir Entsetzen ein ... Heute abend bin ich dir gefolgt bis zu jener Brücke, die ich hasse, und habe gezittert; ich glaubte, es sei aus und ich hätte dich nicht mehr ... Mein Gott, was sollte aus mir werden? Ich bedarf deiner; du wirst mich doch nicht töten? ... Laß uns lieben, laß uns lieben! ...« Da überließ er sich ihr in der Rührung dieser unendlichen Leidenschaft; es war eine unermeßliche Trauer, ein Versinken der ganzen Welt, in das sein Wesen sich auflöste. Er schloß sie gleichfalls heiß an seine Brust und schluchzte und stammelte: »Es ist wahr, ich hatte den fürchterlichen Gedanken ... Ich würde ihn auch ausgeführt haben, hätte ich nicht an dieses unvollendete Bild gedacht ... Aber kann ich noch leben, wenn die Arbeit mich nicht mehr will? Wie kann ich noch leben nach dem, was da ist, was ich soeben zerstört habe?« »Ich werde dich lieben, und du wirst leben.« »Ach, du kannst mich nie genug lieben ... Ich kenne mich wohl. Es wäre eine Freude nötig, die nicht existiert, eine Sache, die mich alles vergessen ließe ... Schon warst du ohne Kraft; du vermagst nichts.« »Doch, doch, sollst du sehen ... Ich werde dich so nehmen; ich werde dich auf die Augen küssen, auf den Mund, auf jede Stelle deines Körpers. Ich werde dich an meiner Brust erwärmen, meine[[Besitz]] Beine um die deinen schlingen, meine[[Besitz]] Arme um deine Lenden legen, dein Hauch, dein Blut, dein Fleisch sein ...« Endlich war er besiegt; er glühte wie sie, suchte Zuflucht in ihr, begrub sein Haupt zwischen ihren Brüsten, bedeckte sie mit seinen Küssen. »Nun denn, rette mich; ja, nimm mich, wenn du nicht willst, daß ich mich töte ... Und erfinde ein Glück; laß mich ein Glück kennen, das mich zurückhält ... Schläfere mich ein, versenke mich in das Nichts, auf daß ich dein eigen werde, Sklave genug, klein genug, um unter deinen Füßen, in deinen Pantoffeln zu hausen ... Da hinabsteigen, nur von deinem Geruche leben, dir gehorchen wie ein Hund, essen, dich besitzen und schlafen: wenn ich das könnte, wenn ich das könnte! ...« Sie[[1]] stieß einen Jubelschrei aus. »Endlich bist du mein; es gibt nichts mehr außer mir; die andere ist tot!« Sie[[1]] riß ihn hinweg von dem verabscheuten Werke und trug ihn grollend, triumphierend in ihr Zimmer, in ihr Bett. Die Kerze auf der Leiter war ausgebrannt, sie zuckte hinter ihnen einen Augenblick und erlosch dann. Es schlug die fünfte Morgenstunde auf der Kuckucksuhr; noch nicht der geringste Lichtschein erhellte den nebeligen Novembermorgen. Alles versank wieder in tiefe Finsternis. Christine und Claude waren tastend quer auf das Bett hingefallen. Eine Raserei hatte sie ergriffen; niemals – selbst in den ersten Tagen ihres Verhältnisses nicht – hatten sie eine solche hinreißende Leidenschaft gekannt. Die ganze Vergangenheit stieg in ihrem Herzen wieder empor, aber in einer starken Verjüngung, die sie in einen betäubenden Rausch versetzte. Die Finsternis um sie her schien zu lodern; sie erhoben sich auf Feuerflügeln hoch hinauf, außerhalb der Welt, in regelmäßigen, fortgesetzten, kräftigen Schwingungen immer höher und höher. Er selbst stieß Rufe aus, war weit von seinem Jammer, vergaß alles, ward zu einem Leben der Glückseligkeit geboren. Herausfordernd, gebieterisch, mit dem Lachen eines sinnlichen Stolzes drängte sie ihn nachher zu Lästerungen. »Sage, daß die Malerei albern ist.« – »Die Malerei ist albern.« – »Sage, daß du nicht mehr arbeiten, daß du dich nicht darum kümmern, daß du mir zuliebe deine Bilder verbrennen wirst.« – »Ich werde meine[[Besitz]] Bilder verbrennen, ich werde nicht mehr arbeiten.« – »Und sage, daß es außer mir nichts gibt, daß es das einzige Glück ist, mich so zu halten, wie du mich jetzt hältst; daß du die andere anspeiest, die Dirne, die du gemalt hast. So speie doch, damit ich es höre.« – »Sieh! ich speie; es gibt nichts außer dir.« Sie[[1]] drückte ihn zum Ersticken; sie besaß ihn. Von neuem entflogen sie nach den Sternenhöhen; von neuem begann ihr Entzücken; dreimal schien es ihnen, als flögen sie von der Erde bis zum Ende des Himmels. Welche Seligkeit! wie war es möglich, daß er nicht in diesem sicheren Glücke seine Heilung suchte? Sie[[1]] gab sich ihm von neuem hin; er durfte glücklich leben, sich als gerettet ansehen, nunmehr, da er diesen Taumel hatte. &&x Der Tag dämmerte, als Christine selig, vom Schlaf erdrückt, in den Armen Claudes einschlief. Sie[[1]] umschlang ihn mit einem Schenkel, das Bein quer über die seinen geworfen, wie um sich zu versichern, daß er ihr nicht mehr entkommen werde; den Kopf an dieser Mannesbrust gelagert, die ihr als warmes Kissen diente, atmete sie sanft, ein Lächeln auf den Lippen. Er hatte die Augen geschlossen; aber trotz der niederdrückenden Ermattung öffnete er sie wieder und schaute in das Dunkel. Der Schlaf floh ihn; in seiner Stumpfheit drängte sich eine Menge verworrener Gedanken hervor, je kühler er wurde und sich von der wollüstigen Betäubung freimachte, die noch alle seine Muskel erschütterte. Als der Morgen anbrach, ein schmutzig gelbes Licht, ein flüssiger Schmutzfleck vor dem Fenster, erbebte er; er glaubte eine laute Stimme gehört zu haben, die ihn aus der Tiefe des Ateliers rief. Seine Gedanken kehrten sämtlich wieder, überströmend, quälend, seine Wangen aushöhlend, seine Kinnbacken in einem menschlichen Ekel zusammenziehend, in zwei Falten, die aus seinem Antlitz das wüste Gesicht eines Greises machten. Dieser quer auf ihm liegende Frauenschenkel nahm jetzt eine bleierne Schwere an; er litt dadurch wie durch eine Marter, wie durch einen Mühlstein, mit dem man ihm die Knie zermalmte zur Strafe für noch ungesühnten Frevel. Auch der Kopf, der auf seiner Brust ruhte, drohte ihn zu ersticken, hemmte mit einer ungeheuren Wucht die Schläge seines Herzens. Doch lange zögerte er, sie zu stören, trotz der allmählichen Erbitterung seines ganzen Körpers, trotz eines gewissen Widerwillens, eines unwiderstehlichen Hasses, der ihn mit Empörung erfüllte. Besonders der Geruch des gelösten Haarknotens, dieser starke Haargeruch, reizte ihn. Plötzlich rief ihn die laute Stimme im Atelier ein zweitesmal gebieterisch. Da entschloß er sich; es war aus, er litt zuviel; er konnte nicht länger leben, da alles log und es nichts Gutes gab. Zuerst ließ er den Kopf Christinens hinabgleiten, die ihr unbestimmtes Lächeln bewahrte; dann mußte er mit unendlicher Behutsamkeit sich bewegen, um seine Beine aus der Umschlingung des Schenkels zu befreien, den er allmählich zurückschob in einer natürlichen Bewegung, als ob er von selbst einknicke. Endlich hatte er die Kette gelöst; er war frei. Ein dritter Ruf trieb ihn zur Eile an; er begab sich in das Atelier, indem er murmelte: »Ja, ja, ich komme schon!« Es wollte nicht recht hell werden; es war ein schmutziger, trüber, trauriger Wintermorgen. Nach Verlauf einer Stunde erwachte Christine in einem eisigen Schauer. Sie[[1]] begriff nicht. Warum war sie allein? Dann erinnerte sie sich: sie war eingeschlafen, die Wange an sein Herz gelehnt, die Glieder um die seinen geschlungen. Wie hatte er fortgehen können? Wo konnte er sein? Mit einem Ruck fuhr sie aus ihrer Betäubung auf, sprang ungestüm vom Bette und lief in das Atelier. Mein Gott! sollte er zur andern zurückgekehrt sein? Sollte die andere ihn wieder genommen haben, nachdem sie ihn für immer zurückgenommen geglaubt? Auf den ersten Blick sah sie nichts, das Atelier schien ihr leer in dem trüben, kahlen Lichte des Morgens. Doch als sie niemanden bemerkend sich zu beruhigen begann und die Augen zu dem Gemälde emporhob, brach ein furchtbarer Schrei aus ihrem weit offenen Munde hervor. »Claude! ach, Claude! ...« Claude hatte sich auf der großen Leiter erhenkt seinem verfehlten Werke gegenüber. Er hatte ganz einfach eine der Leinen genommen, die den Rahmen an der Mauer festhielten, und hatte die Plattform der Leiter erstiegen, wo er das Ende der Leine an dem eichenen Querbalken befestigte, den er eines Tages oben angenagelt hatte, um die Seitenpfosten fester zu machen. Dann war er von oben ganz einfach ins Leere gesprungen. Im Hemde mit nackten Füßen, furchtbar anzuschauen mit der heraushängenden schwarzen Zunge und den aus den Höhlen getretenen, blutunterlaufenen Augen, hing er da, ungeheuerlich größer scheinend in seiner starren Unbeweglichkeit, das Gesicht dem Gemälde zugekehrt, ganz nahe bei dem Weibe mit der blühenden mystischen Rose, als habe er mit seinem letzten Röcheln ihr seine Seele einhauchen und sie noch mit seinen starren Augen betrachten wollen. Christine stand noch immer da, aufrecht erhalten durch den Schmerz, das Entsetzen und die Wut. Ihr Körper war davon aufgedunsen, und aus ihrem Munde brach nur ein fortgesetztes Geheul hervor. Sie[[1]] öffnete die Arme, streckte sie nach dem Gemälde aus und schloß die Fäuste. »Ach, Claude, ach, Claude! ... Sie[[1]] hat dich wiedergenommen; sie hat dich getötet, getötet, getötet, die Dirne!« Die Beine knickten ihr ein, sie drehte sich um sich selbst und stürzte auf die Fliesen nieder. Das Übermaß ihres Leides hatte alles Blut aus ihrem Herzen gedrängt; sie blieb ohnmächtig wie tot auf der Erde liegen, einem weißen Lappen gleich, bejammernswert, vernichtet, erdrückt von der grausamen Macht der Kunst. Das Weib über ihr strahlte im Glanze eines sinnbildlichen Götzenbildes; die Malerei triumphierte, allein unsterblich und aufrecht bis zum Wahnsinn. &&x Infolge der durch den Selbstmord verursachten Vorschriften und Verzögerungen konnte das Leichenbegängnis erst am Montag stattfinden. Als Sandoz um neun Uhr kam, fand er kaum zwanzig Personen auf dem Fußsteige vor dem Hause in der {{Tour¬laque}}-Straße. In seinem schweren Kummer lief er seit drei Tagen umher, genötigt sich mit allem zu beschäftigen: zuerst hatte er Christine, die man in sterbendem Zustande gefunden, nach dem {{Lariboisière}}-Krankenhause schaffen müssen; dann war er vom Standesamt zur Leichenbestattungs-Anstalt und zum Pfarramt gelaufen und hatte überall die geforderten Gebühren gezahlt; er entsprach den Gebräuchen, die ihm völlig gleichgültig waren, nachdem die Priester diesem Selbstmörder ein christliches Begräbnis bewilligt hatten. Unter den Leuten, die da harrten, sah er nur Nachbarn und wenige Neugierige; an den Fenstern erschienen einige Köpfe, wispernd und durch das Geschehene erregt. Die Freunde werden gewiß noch kommen, sagte er sich. Er hatte der Familie nicht schreiben können, weil ihm die Adressen unbekannt waren; er trat beiseite, als er zwei Anverwandte erscheinen sah, die ohne Zweifel durch die trockene Zeitungsnachricht über den Selbstmord veranlaßt wurden, aus jenem Dunkel hervorzutreten, in dem Claude selbst sie gelassen hatte. Es war eine Base in vorgerücktem Alter mit dem verdächtigen Aussehen einer Trödlerin und ein kleiner Vetter, sehr reich, mit einem Orden ausgezeichnet, Inhaber eines der großen Modemagazine von Paris, sehr gemütlich in seiner Eleganz, bestrebt, seinen aufgeklärten Kunstsinn zu zeigen. Die Base ging sogleich hinauf, machte die Runde in dem Atelier, witterte das nackte Elend und kam wieder herunter mit gespitzten Lippen, geärgert durch diese nutzlose Bemühung. Der kleine Vetter hingegen richtete sich empor, schritt als erster hinter dem Leichenwagen und führte den Trauerzug mit einer liebenswürdigen und stolzen Vornehmheit an. Eben als der Zug sich in Bewegung setzte, kam {{Bongrand}} eilend an und blieb an der Seite Sandoz', nachdem er diesem die Hand gedrückt. Er war in trüber Stimmung und murmelte mit einem Blick auf die fünfzehn, zwanzig Menschen, die der Leiche folgten: »Der arme Junge! ... Wir sind nur unser zwei?« Dubuche war mit seinen Kindern in Cannes. Jory und {{Fage¬rolles}} hielten sich fern; der eine haßte den Tod, der andere hatte zuviel zu tun. {{Mahou¬deau}} allein holte den Zug ein, als er die {{Lepic}}-Straße erklomm, und erklärte, {{Gagnière}} müsse den Zug versäumt haben. Langsam fuhr der Leichenwagen den steilen Abhang hinan, dessen schmaler Weg sich an der Seite der Montmartrehöhe emporwindet. Zuweilen kam man an abfallenden Quergassen vorüber, von wo man die Unermeßlichkeit von Paris überblickte, das tief und breit da lag wie ein Meer. Als man vor der Peterskirche angelangt war und den Sarg hinauftrug, beherrschte dieser einen Augenblick die große Stadt. Unter dem grauen Winterhimmel wallten dichte Nebeldünste, von einem eisigen Winde gejagt. Die Stadt schien noch größer, schier unendlich in diesen Dünsten und mit ihrer drohenden Rundung den Horizont auszufüllen. Der arme Tote, der sie hatte erobern wollen und sich dabei den Hals gebrochen, zog jetzt in ihrem Angesichte vorüber, zwischen vier Brettern vernagelt, zur Erde zurückkehrend wie eine der schmutzigen Wellen, die sie dahinwälzte. Als man die Kirche verließ, verschwand die Base; {{Mahou¬deau}} tat ein gleiches. Der kleine Vetter hatte seinen Platz hinter dem Leichenwagen wieder eingenommen. Sieben andere unbekannte Personen entschlossen sich mitzugehen, und man brach auf, nach dem neuen Kirchhofe von {{Saint-Quen}}, dem das Volk den traurigen Namen Cayenne {{[Cayenne]}} beigelegt hatte. Die Leichengefolgschaft zählte zehn Personen. »Nicht mehr als unser zwei sind da, um ihm das Geleit zu geben«, wiederholte {{Bongrand}}, indem er neben Sandoz weiterschritt. Der Leichenzug, voran der Trauerwagen mit dem Priester und dem Chorknaben, stieg jetzt den jenseitigen Abhang hinab, durch krumme, gewundene Gäßchen, die durch Brustwehren geschützt waren wie Gebirgswege. Die Pferde des Leichenwagens glitten auf dem schmutzigen Pflaster aus, man hörte das dumpfe Rütteln der Räder. Die zehn Personen stampften hinterdrein, zwischen den Schmutzlachen sich mühsam aufrecht haltend, durch diesen schwierigen Abstieg so sehr in Anspruch genommen, daß sie kein Gespräch führen konnten. Als man jedoch unten am Fuße der Bachgasse vor dem {{Clignan¬cour}}-Tore angekommen war inmitten der weiten Flächen, wo sich die Ringpromenaden, die Gürtelbahn, die Befestigungsgräben und Wälle hinziehen, atmeten alle erleichtert auf, man wechselte einige Worte, und der Zug begann sich aufzulösen. Allmählich gelangten Sandoz und {{Bongrand}} an das Ziel; sie wollten sich von diesen Leuten trennen, die sie niemals gesehen hatten. In dem Augenblick, als der Leichenwagen den Mautschranken passierte, neigte sich der Maler zu dem Schriftsteller mit einer Frage. »Was wird aus der kleinen Frau?« »Ein Jammer!« antwortete Sandoz. »Ich habe sie gestern im Krankenhause besucht. Sie[[1]] hat ein Kopffieber; der Arzt behauptet, man werde sie retten, aber sie werde um zehn Jahre gealtert und völlig entkräftet aus der Krankheit hervorgehen. Sie[[1]] wissen, sie hat im Laufe der Zeit alles vergessen, selbst die Orthographie. In ihrem Verfall, in ihrem Elend ist aus diesem wohlerzogenen Wesen eine niedrige Magd geworden. Wenn wir uns nicht ihrer annehmen wie einer Kranken, wird sie irgendwo als Geschirrwäscherin enden.« »Natürlich ist nicht ein {{Sou}} da?« »Nicht ein {{Sou}}. Ich glaubte, ich würde einige Studien vorfinden, die er zu seinem großen Gemälde nach der Natur gemacht hat, jene prächtigen Studien, von denen er später einen so schlechten Gebrauch gemacht hat. Aber ich habe vergebens gesucht; er hat alles verschenkt, Leute haben ihn bestohlen. Nein, es ist nichts da zu verkaufen, nicht ein einziges brauchbares Bild, nichts als die riesige Leinwand, die ich selbst zerrissen und verbrannt habe. Ich tat es gern, versichere ich Ihnen, es war wie eine Tat der Rache!« &&x Sie[[1]] schwiegen einen Augenblick. Die breite Straße von {{Saint-Quen}} zog sich geradeaus, schier unendlich dahin; der armselige, kleine Leichenzug verlor sich fast in dieser flachen Landschaft auf dieser Heerstraße, die in einen Schmutzbach verwandelt war. Ein Zaun hegte sie zu beiden Seiten ein, rechts und links lagen wüste Flächen, in der Ferne sah man nur Fabrikschlote und einige hohe, weiße, vereinzelte, quer gestellte Häuser. Jetzt kam man durch den Jahrmarkt von {{Clignan¬cour}}; zu beiden Seiten standen Gauklerbuden, Zirkusse, Ringelspiele, trübselig in ihrer winterlichen Verlassenheit, leere Schenken, grün angestrichene Schaukeln, eine »pikardische Farm«, jämmerlich hinter ihrem zerrissenen Drahtgitter, einem Bühnenversetzstück gleichend. »Ach, seine alten Bilder,« hub {{Bongrand}} wieder an, »die Sachen, die er in seinem Atelier am Bourbon-Ufer gemalt hat, Sie[[1]] erinnern sich ja! Ganz außerordentliche Stücke. Die aus dem Süden mitgebrachten Landschaften und die im Atelier {{Boutin}} gemalten Studien, Mädchenbeine, ein weiblicher Bauch; oh, dieser Bauch ... Der Vater {{Mal¬gras}} muß ihn erworben haben, ein prächtiges Stück, wie es keiner unserer jungen Meister malen kann. Ja, ja, der Junge war nicht dumm. Ganz einfach ein großer Maler!« »Wenn ich bedenke,« sagte Sandoz, »daß diese kleinen Zierbengel aus der Schule ihn der Trägheit und Unwissenheit ziehen, indem sie einander erzählten, daß er sich stets geweigert habe, seine Kunst zu lernen! ... Träge, mein Gott! er, den ich vor Ermüdung umsinken sah, nachdem er zehn Stunden in einem Zuge gemalt; er, der sein ganzes Leben hingegeben, der sich in einer Arbeitswut umgebracht hat! ... Und unwissend: ist das nicht blöd? Diese Leute werden nie begreifen, daß das, was man mitbringt, wenn man etwas mitzubringen hat, das umgestaltet, was man lernt. Auch {{Dela¬croix}} hat seine Kunst nicht gekannt, weil er sich nicht in die exakte Linie einschließen konnte. Die Einfältigen, die blutleeren, dummen Schüler, die einer Abweichung unfähig sind!« Er machte still einige Schritte, dann setzte er hinzu: »Ein heldenmütiger Arbeiter, ein leidenschaftlicher Beobachter, dessen Schädel mit Wissen vollgestopft war, das Temperament eines wunderbar begabten, großen Malers ... Und er läßt nichts zurück.« »Nichts, nicht eine einzige Leinwand«, erklärte {{Bongrand}}. »Ich kenne von ihm nur Skizzen, hingeworfene Notizen, das ganze Gepäck des Künstlers, der nicht vor dem Publikum erscheinen kann. Ja, es ist ein Toter, ein ganzer Toter, den man in die Erde versenken wird!« Doch sie mußten ihre Schritte beschleunigen, denn sie waren während ihres Gespräches zurückgeblieben. Der Leichenwagen, der sich zwischen Weinhandlungen und Grabkreuzniederlagen fortbewegt hatte, bog jetzt rechts ein in die Straße, die zum Kirchhofe führte. Sie[[1]] holten ihn ein und betraten den Kirchhof zugleich mit dem kleinen Gefolge. Der Priester im Chorhemd und der Chorknabe mit dem Weihwedel hatten den Trauerwagen verlassen und gingen voraus. Es war ein großer, flacher, noch junger Kirchhof, auf der leeren Fläche der Bannmeile mit der Schnur ausgemessen und durch breite gleichmäßige Alleen gleichsam in Schachfelder geteilt. Es standen nur wenige Grabmale am Saume der Hauptwege; alle Gräber – und es waren ihrer schon sehr viele – lagen dem Boden gleich in dem vorläufig flüchtig hergestellten Raume, wo die Grabstellen nur für fünf Jahre überlassen wurden; die Scheu der Familien vor größeren Ausgaben, die mangels eines festen Untergrundes versinkenden Steine, die grünen Bäume, die nicht Zeit hatten zu wachsen, diese ganze vorübergehende und wohlfeile Trauer verlieh dem weiten Leichenacker ein armseliges, kahles, säuberlich kaltes Aussehen, die Traurigkeit einer Kaserne und eines Krankenhauses. Kein romantischer Liederwinkel, kein geheimnis-schattiges Dickicht, nicht ein einziges größeres Grabmal, das von Stolz und Ewigkeit sprach. Man befand sich in einem neuen, nach Gassen und Nummern eingeteilten Kirchhofe, in dem Kirchhofe der demokratischen Hauptstädte, wo die Toten in Amtsschachteln zu schlafen scheinen, wo jeden Tag die neu ankommende Flut von Toten die vom vorhergegangenen Tage verdrängt, wo alle in langer Reihe vorüberziehen wie bei einem Feste, unter den Augen der Polizei, damit ein Gedränge vermieden wird. »Alle Wetter!« murmelte {{Bongrand}}, »hier ist's nicht angenehm.« »Warum?« sagte Sandoz. »Es ist bequem, und man hat Luft. Obgleich die Sonne nicht scheint, sehen sie nur die schönen Farben.« In der Tat: unter dem grauen Himmel dieses Novembermorgens nahmen in der eisigen Kälte des Windes die niedrigen, mit Blumengewinden und Perlenkränzen bedeckten Gräber sehr feine Töne von reizender Zartheit an. Es gab darunter ganz weiße und ganz schwarze, je nach den Perlen, und dieser Farbengegensatz verbreitete einen sanften Schimmer inmitten des matten Grüns der zwerghaften Bäume. Auf diesen für fünf Jahre gemieteten Begräbnisstätten genügten die Familien ihrem Gedenken der Abgeschiedenen: es war eine Anhäufung, ein Reichtum von Zeichen liebevoller Erinnerung, die nach dem kurz vorher gewesenen Allerseelentage noch gut erhalten waren. Nur die natürlichen Blumen in ihren papiernen Hüllen waren schon verwelkt. Einige gelbe Immortellenkränze {{[Immor¬tel¬len¬kränze]}} schimmerten wie frisch bearbeitetes Gold. Die Perlen aber waren vorherrschend; es war eine Flut von Perlen, welche die Inschriften verbargen, die Steine und Einfriedigungen bedeckten, Perlen in Herzform, Perlengewinde, Perlenmedaillons, Perlen, die unter Glas geborgene Gegenstände einrahmten, wie Sinnsprüche, verschlungene Hände, Photographien von Frauen, gelbe Vorstadtphotographien, häßliche und mit ihrem linkischen Lächeln rührende Gesichter. &&x Während der Leichenwagen den zum Rundplatze führenden Weg einschlug, kam Sandoz im Zusammenhang mit seiner malerischen Bemerkung wieder auf Claude zu sprechen. »Das ist ein Kirchhof, den er in seiner Leidenschaft für das Moderne sehr wohl begriffen hätte. Ohne Zweifel war er leiblich krank, zerrüttet durch den allzu starken Bruch des Genies; drei Gramm zu wenig oder drei Gramm zu viel, wie er zu sagen pflegte, wenn er seine Eltern beschuldigte, ihn so sonderbar gezeugt zu haben. Allein das Übel steckte nicht in ihm allein; er war das Opfer einer Zeit ... Ja, unser Geschlecht hat bis zum Leib im Romantismus gewatet; wir sind davon durchdrungen und haben uns vergebens bemüht, uns davon zu befreien, kräftige Wahrheitsbäder zu nehmen; der Fleck haftet uns an, alle Waschungen der Welt werden den Geruch nicht zu bannen vermögen.« {{Bongrand}} lächelte. »Ich steckte darin bis über den Kopf,« sagte er. » Meine[[Besitz]] Kunst ist davon genährt worden und ich bin sogar ein unbußfertiger Romantiker. Wenn es wahr ist, daß mein letztes Unvermögen daher stammt: was liegt daran? Ich kann die Religion meines ganzen Künstlerlebens nicht verleugnen ... Aber ihre Bemerkung ist sehr richtig: ihr seid die aufrührerischen Söhne jener Schule. So auch er mit seinem großen, nackten Weibe inmitten der Ufer; dieses maßlose Sinnbild ...« »Jenes Weib!« unterbrach ihn Sandoz. »Sie[[1]] hat ihn erwürgt. Wenn Sie[[1]] wüßten, wie er an ihr hing! Es war mir nicht möglich, sie von ihm zu verjagen ... Wie soll man hell sehen und das Denken fest und im Gleichgewichte behalten, wenn ähnliche dumme Gedanken im Kopfe immer wiederkehren? ... Nicht bloß ihr Geschlecht, auch das unsere ist zu sehr mit dem Gedanklichen behaftet, um gesunde Werke zu hinterlassen. Es wird noch eines Geschlechtes, vielleicht zweier bedürfen, bis man logisch malen und logisch schreiben wird in der hohen und reinen Einfachheit des Wahren ... Die Wahrheit, die Natur allein ist die mögliche Grundlage, die notwendige Ordnung, außerhalb der die Narrheit beginnt. Man fürchte nicht, daß dadurch das Werk verflacht; das Temperament ist da, das den Schöpfer stets emportragen wird. Leugnet denn jemand die Persönlichkeit, den unwillkürlichen Druck mit dem Daumen, der da umgestaltet und unsere armselige Schöpfung kennzeichnet?« Doch er wandte den Kopf und setzte plötzlich hinzu: »Schau, was brennt da? ... Zünden sie hier Freudenfeuer an?« Der Leichenzug war auf dem Rundplatze angekommen, wo das Beinhaus stand, die gemeinsame Gruft, allmählich gefüllt mit den aus den Gräbern hier zusammengetragenen menschlichen Überresten; der in der Mitte eines runden Rasenplatzes gelegene Gruftstein verschwand völlig unter einem Haufen von Kränzen, die hier das liebevolle Gedenken der Verwandten niederlegte, deren Tote nicht mehr in eigenen Gräbern ruhten. Als der Leichenwagen nach links einbog in den Querweg Nr. 2, vernahm man ein Knistern und sah einen dichten Rauch über die kleinen Platanen aufsteigen, welche den Fußweg einsäumten. Man näherte sich langsam und sah von der Ferne einen großen Haufen erdiger Sachen, die da brannten. Endlich begriff man. Es war am Rande eines großen Vierecks, das man durch breite Parallelfurchen tief aufgewühlt hatte, um die Särge auszuheben und die Erde anderen Leichen zu überlassen, wie der Bauer ein Stoppelfeld umackert, ehe er es von neuem besäet. Die langen, leeren Gräben klafften, die aufgeworfenen Hügel fetter Erde trockneten unter dem freien Himmel. In diesem Winkel verbrannte man die verfaulten Bretter der Särge, die – feucht vom menschlichen Moder – nicht brennen wollten, mit dumpfen Krachen barsten und nur einen dichten Rauch entsandten. Der Qualm stieg zum grauen Himmel empor, der Novemberwind jagte ihn wieder abwärts, zerriß ihn in rötliche Streifen, die zwischen den niedrigen Grabhügeln hintrieben und eine Hälfte des Kirchhofes fast ganz erfüllten. Sandoz und {{Bongrand}} hatten wortlos zugeschaut, als sie am Feuer vorüber waren, begann der erstere wieder: »Nein, er war nicht der Mann der Formel, die er in die Kunst mitbrachte. Ich will sagen, er dachte nicht klar genug, um die Formel auf die Beine zu stellen und in einem endgültigen Werke den Zweiflern und Widersachern aufzunötigen. Sehen Sie[[1]], wie um ihn her und hinter ihm her die Arbeiten sich zersplittern! Alle bleiben bei den Skizzen, bei flüchtigen Eindrücken; kein einziger scheint die Kraft zu haben, der erwartete Meister zu werden. Diese neue Bezeichnung des Lichts, diese bis zur wissenschaftlichen Zergliederung getriebene Leidenschaft für die Wahrheit, diese so eigenartig begonnene Schwenkung: ist es nicht ärgerlich zu sehen, wie sie sich verzögert, geschickten Leuten in die Hände fällt, die sie ausnützen, und nicht ans Ziel gelangt, weil der notwendige Mann noch nicht geboren ist? ... der Mann wird kommen; nichts geht verloren, es muß Licht werden!« »Wer weiß? nicht immer!« sagte {{Bongrand}}. »Auch das Leben macht Fehlgeburten ... Ich höre Ihnen zu, aber ich bin ein Verzweifelter. Ich vergehe schier vor Traurigkeit und fühle alles, was vergeht ... Ach ja, die Luft der Zeit ist schlecht, diese Jahrhundertneige voll Niederreißens, in Trümmer gelegter Bauten, hundertmal umgegrabener Erdflächen, die einen Leichengestank ausströmen lassen! Kann man gesund sein inmitten von alldem? Die Nerven verderben, das gewaltige Leiden wirkt sich aus, die Kunst gerät in Verwirrung: es ist das Gedränge, die Anarchie, die Verrücktheit der im Todeskampfe liegenden Persönlichkeit ... Man hat niemals soviel gezankt und niemals weniger klar gesehen, als seitdem man alles zu wissen behauptet.« &&x Sandoz war bleich geworden und blickte in die Ferne nach den großen, roten Rauchwolken, die der Wind vor sich hertrieb. »Es war verhängnisvoll,« sagte er halblaut; »dieses Übermaß von Tätigkeit und von Stolz im Wissen mußte uns in den Zweifel zurückschleudern; dieses Jahrhundert, das schon so viel Licht geschaffen, mußte unter einer drohenden neuen Flut von Finsternis zu Ende gehen ... Ja, daher kommt unser Mißbehagen. Man hat zuviel verheißen, man hat zuviel gehofft, man hat die Eroberung und Ausbeutung von allem erwartet, und nun grollt die Ungeduld. Wie? man kommt nicht rascher vorwärts? die Wissenschaft hat uns in hundert Jahren noch nicht die volle Gewißheit, das vollkommene Glück gebracht? Wozu fortsetzen, da man niemals alles wissen kann und unser Brot immer so bitter bleiben wird? Das ist ein Bankrott des Jahrhunderts, der Pessimismus tötet das Herz, der Mystizismus hüllt die Gehirne in Nebeldünste. Vergebens haben wir durch die Lichtstrahlen der Zergliederung Gespenster verscheucht, das Übernatürliche hat den Kampf wieder aufgenommen, der Geist der Legende empört sich und will uns wiedererobern, während wir angstvoll und ermüdet haltmachen. Nein, ich behaupte auch nichts mehr, ich selbst fühle mich zerrissen. Aber es scheint mir, daß dieses letzte Zucken der alten religiösen Scheu vorauszusehen war. Wir sind kein Ende, sondern Übergang, der Beginn von etwas anderem ... Das beruhigt mich; es tut mir wohl zu glauben, daß wir der Vernunft und der Festigkeit der Wissenschaft entgegengehen ...« Seine Stimme verriet seine tiefe Bewegung, und er setzte hinzu: »Es wäre denn, daß die Narrheit uns in die Finsternis stößt und wir alle vom Ideal erwürgt von hinnen gehen, wie der alte Kamerad, der da zwischen seinen vier Brettern schläft.« Der Leichenwagen bog jetzt in den Seitenweg Nr. 3 ein; hier zeigte der Maler dem Schriftsteller mit dem Blick ein Gräberviereck, an dem jetzt das Leichengefolge entlang zog. Es war ein Kinderkirchhof, nichts als Kindergräber, in unendlichen Reihen, schön geordnet, durch schmale Pfade voneinander getrennt, einer Kinderstadt des Todes gleichend. Es waren ganz kleine, weiße Kreuze, ganz kleine, weiße Gitter, die fast verschwanden unter einer Fülle von weißen und blauen Kränzen; und der friedliche Leichenacker mit dem milden Ton schien durch diese in die Erde gebettete Kindheit zu blühen. Die Kreuze kündeten das Alter der Toten: zwei Jahre, sechzehn Monate, fünf Monate. Ein armes Kreuzlein, das herausgefallen war und quer auf dem Wege lag, trug die Inschrift: Eugen, drei Tage alt. Kaum noch sein und schon da schlafen, abseits wie die Kinder, welche die Familien an Festabenden am kleinen Tische speisen lassen! Endlich hielt der Leichenwagen in der Mitte des Weges. Als Sandoz das offene Grab bemerkte in einem Winkel des benachbarten Vierecks dem Kinderfriedhofe gegenüber, murmelte er in zärtlichem Tone: »Ach, mein lieber Claude, großes Kinderherz, du wirst dich an ihrer Seite wohl befinden!« Die Leichenbestattungsdiener hoben den Sarg vom Wagen. Der Priester wartete in übler Laune, vom Winde gepeitscht; die Totengräber standen mit ihren Schaufeln bereit. Drei Nachbarn waren unterwegs weggeblieben, das Leichengefolge von zehn Personen war auf sieben zusammengeschmolzen. Der kleine Vetter, der trotz des abscheulichen Wetters schon seit der Kirche den Hut in der Hand hielt, näherte sich jetzt. Alle andern entblößten die Häupter, und die Gebete sollten eben beginnen, als ein schriller Pfiff alle emporzuschauen nötigte. An diesem noch leeren Winkel vorüber fuhr am Ende des Querweges Nr. 3 ein Zug auf dem hohen Damm der Gürtelbahn, die den Kirchhof beherrschte. Die grasbewachsene Böschung stieg hoch empor, die durch dünne Drähte verbundenen Telegraphenstangen hoben sich als geometrische, schwarze Linien vom grauen Himmel ab; man sah außerdem das Häuschen eines Bahnwärters und eine Signaltafel, den einzigen roten Fleck, der einen lebendigen Ton in die trübe Landschaft brachte. Als der Zug mit donnerähnlichem Getöse vorüberrollte, unterschied man deutlich – wie durch das Transparent eines chinesischen Schattenspiels – die Abschnitte der Wagen, selbst die Leute, die hinter den hellen Fensteröffnungen saßen. Dann tauchte die Eisenbahnlinie wieder rein auf: ein einfacher, tintenschwarzer Strich, der den Horizont durchschnitt; während in der Ferne unaufhörlich Signalpfiffe ihre schrillen, klagenden Töne vernehmen ließen. Schließlich erscholl gar ein Nebelhorn mit seinem Jammergeheul. »{{Revertitur in terram suam unde erat ...}}« wiederholte der Priester, der ein Buch geöffnet hatte und seine Gebete schleunig hersagte. Aber man hörte ihn nicht; eine große Lokomotive hatte pustend Halt gemacht und rangierte gerade oberhalb der Zeremonie. Die Maschine hatte eine Riesenstimme, einen Gutturalpfiff von ungeheuerlicher Traurigkeit. Rauchend rollte sie hin und her mit dem Aussehen eines schwerfälligen Ungeheuers. Plötzlich ließ sie mit einem wütenden Sturmgeheul ihren Dampf fahren. »{{Requiescat in pace,}}« sagte der Priester. »Amen,« antwortete der Chorknabe. Alles andere verschlang das zischende, betäubende Getöse, das mit ungeschwächter Heftigkeit fortdauerte wie Flintengeknatter. {{Bongrand}} wandte sich erbittert zur Lokomotive hin. Sie[[1]] schwieg endlich, und man atmete auf. Sandoz waren Tränen in die Augen getreten; er war schon bewegt durch die Dinge, die sich ihm unwillkürlich auf die Lippen gedrängt hatten, wie sie so hinter der Leiche seines alten Kameraden einhergeschritten waren, als hätten sie wieder eine ihrer ehemaligen anregenden Unterhaltungen. Ihm war jetzt, als wolle man seine Jugend zu Grabe tragen; es war ein Teil von ihm, der bessere Teil, der Teil der Träume und Begeisterungen, den die Totengräber aufhoben, um ihn in die Grube gleiten zu lassen. Ein Zwischenfall erhöhte in diesem furchtbaren Augenblicke noch seinen Kummer. Es hatte die vorangegangenen Tage soviel geregnet, und die Erde war dermaßen durchweicht, daß plötzlich eine Seitenwand des Grabes einstürzte. Einer der Totengräber mußte in die Grube springen, um die Erde mit der Schaufel wieder hinaufzuwerfen, was er mit langsamen gleichmäßigen Bewegungen tat. Es wollte kein Ende nehmen und steigerte noch die Ungeduld des Priesters und der vier Nachbarn, die bis zum offenen Grabe mitgekommen waren, man wußte nicht weshalb. Die Lokomotive auf dem Bahndamm oben hatte ihre Tätigkeit wieder aufgenommen, fuhr heulend hin und wieder mit offenem Rachen, einen Funkenregen in den düstern Tag hinausspeiend. &&x Endlich war die Grube leer, der Sarg wurde hinabgelassen, der Weihwedel wanderte von Hand zu Hand. Es war zu Ende. Der kleine Vetter mit seiner vornehmen, liebenswürdigen Haltung dankte im Namen der leidtragenden Familie dem Leichengefolge und drückte allen diesen Leuten die Hand, die er niemals gesehen hatte, – zur Erinnerung an diesen Verwandten, dessen Name ihm gestern noch unbekannt gewesen. »Der Ladenschwengel benimmt sich sehr artig,« sagte {{Bongrand}}, seine Tränen verschluckend. »Ja, sehr artig,« erwiderte Sandoz schluchzend. Alle entfernten sich; die Chorhemden des Priesters und des Knaben verschwanden zwischen den grünen Bäumen; die Nachbarn zerstreuten sich zwischen den Gräberreihen und lasen die Aufschriften. Sandoz entschloß sich, das schon halbgefüllte Grab zu verlassen. »Wir allein haben ihn gekannt,« sagte er ... »Nichts ist von ihm übrig geblieben, nicht einmal ein Name!« »Er ist glücklich,« sagte {{Bongrand}}; »in der Erde, wo er schläft, quält ihn kein unfertiges Gemälde ... Besser von hinnen gehen, als sich – wie wir es tun – damit abmühen, ungesunde Kinder zu zeugen, denen immer einzelne Teile fehlen, bald der Kopf und bald die Beine, und die niemals lebensfähig sind.« »Ja, wahrhaftig, man muß nicht stolz sein, sich mit dem Ungefähr begnügen und mit dem Leben ein wenig falsch spielen ... Ich, der ich meine[[Besitz]] Bücher bis ans Ende fertig bringen will, verachte mich selbst, weil ich fühle, daß sie trotz aller Anstrengungen unvollständig und lügenhaft sind.« Mit bleichen Gesichtern gingen sie langsam Seite an Seite neben den Kindergräbern dahin, der Romanschriftsteller zu jener Zeit auf der Höhe seines Schaffens und seiner Berühmtheit, der Maler ruhmbedeckt, aber im Rückgang begriffen. »Das war wenigstens einer, der Logik und Mut hatte,« fuhr Sandoz fort. »Er hat sein Unvermögen eingestanden und sich getötet.« »Das ist wahr,« sagte {{Bongrand}}. »Wäre uns unsere Haut nicht gar so teuer, wir alle würden ein Gleiches tun ... Nicht wahr?« »Gewiß. Da wir nichts schaffen können, nur schwächliche Nachahmer sind, wäre es geradeso gut, wir rennten uns sogleich die Köpfe ein.« Jetzt waren sie wieder vor dem brennenden Haufen alter, verfaulter Särge; diese hatten endlich Feuer gefangen und brannten schwitzend und krachend; aber man sah noch immer keine Flammen; der Rauch allein hatte zugenommen, ein dichter, scharfer Rauch, den der Wind in dichten Ballen emporjagte und der jetzt wie eine Trauerwolke den ganzen Leichenacker bedeckte. »Alle Wetter, schon elf Uhr!« sagte {{Bongrand}} die Uhr ziehend. »Ich muß nach Hause.« »Wie, schon elf Uhr!« rief Sandoz überrascht. Er warf einen langen, verzweifelten, von Tränen umflorten Blick auf die niedrigen Gräber, auf das weite, perlenblühende, so regelmäßige, kalte Feld. Dann fügte er hinzu: »Gehen wir an die Arbeit!«